An diesen sechs Problemen scheitern viele Startups auf ihrem Weg zur Weltfirma Es ist ein Dilemma: In grossen Firmen wird der Erfindergeist unter unzähligen Führungsebenen und sperrigen Strukturen begraben. Startups haben Erfindergeist, aber keine Strukturen, um erfolgreich zu wachsen. Der Versicherer Wefox und das Reiseportal Get Your Guide haben das Dilemma gemeistert; ihre Gründer erklären, wie.

Es ist ein Dilemma: In grossen Firmen wird der Erfindergeist unter unzähligen Führungsebenen und sperrigen Strukturen begraben. Startups haben Erfindergeist, aber keine Strukturen, um erfolgreich zu wachsen. Der Versicherer Wefox und das Reiseportal Get Your Guide haben das Dilemma gemeistert; ihre Gründer erklären, wie.

 

Get Your Guide bietet ein Reiseportal, auf dem Feriengäste ihre Aktivitäten, Touren und Sehenswürdigkeiten im Vorfeld evaluieren und buchen können. (Bild: PD)

Ein Startup zu gründen, ist nicht schwer. Ein Startup zum Weltmarktführer zu entwickeln, schon. Zahlreichen Jungunternehmen misslingt der Durchbruch, obwohl sie gute Geschäftsideen mitbringen. Grosse Firmen lassen sich nicht gleich führen wie kleine.

«Das grösste Hindernis im Wachstumsprozess bin ich selbst», sagt Julian Teicke. Dabei hat der Mitgründer und Chef des Berlin-Zürcher Digitalversicherers und Brokers Wefox diesen Prozess eigentlich ganz gut hinbekommen. Wefox legte seit der Gründung 2014 einen Blitzstart hin: Es beschäftigt bereits 1200 Angestellte und setzte 2021 immerhin 310 Millionen Euro um. 2022 sollen es 700 Millionen werden.

Geglückt ist die Transformation auch dem Gründer und CEO von Get Your Guide, Johannes Reck. Das in Berlin beheimatete Spin-off der ETH Zürich bietet ein Reiseportal, auf dem Feriengäste ihre Aktivitäten, Touren und Sehenswürdigkeiten im Vorfeld evaluieren und buchen können. Get Your Guide, 2008 gegründet, hat selbst die Pandemie überstanden und beschäftigt über 700 Mitarbeiter an 16 Standorten, von Tokio bis New York. «Eine Konstante hat unser Wachstum stets beschränkt», sagt Reck: «die Fähigkeit, die richtigen Mitarbeiter zu finden».

Damit aus einer vielversprechenden Idee ein erfolgreiches Unternehmen wird, müssen Gründerinnen und Gründer zahlreiche Probleme umschiffen. Die Beispiele von Wefox und Get Your Guide zeigen, wie das gehen kann.

1. Auf die richtigen Mitarbeiter setzen

Reck beschreibt ein Problem, das fast alle Gründer kennen: Fähige Mitarbeiter sind das knappste Gut von Wachstumsfirmen. Lange Zeit herrschte in der Schweiz die Klage vor, dass gute Startups kaum Kapital beschaffen könnten. Heute lassen sich zumindest die ersten Millionen meist auftreiben, wenn die Idee und das Gründerteam überzeugen.

Anschliessend die erstbesten Bewerber anzustellen, kann die Kultur von jungen Unternehmen aber rasch ruinieren. Dabei sollte diese Kultur ein wichtiger Trumpf im Kampf mit den etablierten Konkurrenten sein. Stefan Steiner, der Co-Leiter des Startup-Förderers Venturelab, verweist auf ein beliebtes Bonmot in der Gründerszene: «Erstklassige Leute stellen erstklassige Leute ein. Zweitklassige Leute stellen drittklassige Leute ein.» Gute Gründerinnen und Gründer gäben sich daher enorme Mühe bei der Auswahl des Schlüsselpersonals – jener Leute in Leitungsfunktion, die später selbst weitere Bewerber prüfen, anstellen und die Firmenkultur weiter prägen und vermitteln.

Wefox etwa hat 2021 in einer grossen Finanzierungsrunde weitere 650 Millionen Dollar eingespielt. Das verändert die Position des jungen Anbieters auf dem Personalmarkt: «Wir können für Weltklasse-Leute aus der Versicherungsbranche nun höhere Löhne zahlen», sagt Teicke. In der Tat hat Wefox vermehrt begonnen, bei den weltweit führenden Versicherern wie Zurich oder Generali Spitzenpersonal abzuwerben.

Man benötige das Fachwissen von erfahrenen Industrievertretern, doch hätten sie in einer ganz anderen Firmenkultur Karriere gemacht. «Viele haben sich eine professionelle Maske zugelegt», sagt Teicke. «Sie sind bei der Arbeit jemand anderes als zu Hause, um sich vor Firmenpolitik und Angriffen zu schützen.» Das passe eigentlich nicht zu Wefox. Nur wenige dieser Personen sind daher in der Lage, in der ganz anderen Firmen- und Führungskultur des Neulings aufzugehen. Entsprechend sorgfältig muss die Auswahl erfolgen.

2. Strukturen aufbauen

Ein Startup funktioniert ohne Organigramm, weil die Gründerinnen und ersten Mitarbeiter so eng verdrahtet sind, dass sie alle Probleme vorzu besprechen und abarbeiten können. Irgendwann wird die Firma aber zu gross dafür. «Die erste Schwelle ist erreicht, wenn die Mitarbeiter nicht mehr zusammen zu Mittag essen können», so drückt es Reck aus.

Der Startup-Berater Steiner legt die Schwelle bei 20 bis 30 Mitarbeitern fest: Es müssen Teams gebildet werden, deren Mitglieder sich über die Bereichsgrenzen hinweg nicht mehr täglich austauschen. Ab etwa 100 Mitarbeitern braucht es meist eine mittlere Managementebene. Zudem erfolgt die Steuerung des Unternehmens zusehends über Daten. Diese müssen erhoben und interpretiert werden, damit die Führungsspitze die Leistung richtig messen kann.

Ein nächster Schritt erfolgt beim Wandel vom Mittelstandsbetrieb zum Grossunternehmen mit 500 und mehr Mitarbeitern. Die formelle Jahresplanung wird deutlich ausgefeilter, die Strategie muss für die einzelnen Bereiche detailliert heruntergebrochen werden. Und die Daten gewinnen als Steuerinstrument weiter an Gewicht.

3. Innovationsgeist erhalten

Aus dem zweiten erwächst dann oft das dritte Problem: Ersticken die neuen Abläufe nicht den Unternehmergeist? Die erwachsen gewordenen Startups versuchen, die Hierarchien flach zu halten und sich an Regeln zu orientieren, die sie seit ihrer Gründungszeit entwickelt haben. Bei Wefox ist es beispielsweise das «10×-Mindset», wie Julian Teicke ausführt: «Wir zwingen uns immer wieder dazu, in die Rolle eines Anfängers zu schlüpfen und uns zu fragen: ‹Wie können wir diesen Prozess neu aufbauen, damit er zehnmal besser, effizienter oder schneller wird?›»

Get Your Guide stellt fünf kulturelle Prinzipien in den Mittelpunkt: Freude am Job, «Leidenschaft für den Kunden», gegenseitiges Vertrauen, «radikale Transparenz» sowie die Bereitschaft des Mitarbeiters, sich konstant zu hinterfragen und zu verbessern. Reck hebt dabei die Kombination aus Eigenverantwortung und datengetriebener Transparenz hervor: Die Führungskräfte und Teams bei Get Your Guide haben zwar grosse Freiheiten, wie sie Probleme anpacken. Doch beim digitalen Reiseportal wird auch alles vermessen und ausgewertet. Wenn es irgendwo harzt, wird es rasch sichtbar; man kann sich nicht verstecken.

Solche Prinzipien kennt man mittlerweile auch von etablierten Firmen. Aus der Entfernung wirken sie oft wie papierene Sonntagspredigten; wenn die Führungskräfte die eigenen Werte aber tatsächlich vorleben und einfordern, können sie eine wichtige Leitlinie für die Mitarbeiter bilden.

Schwierig wird es mit dem Vorleben der Firmenkultur, wenn die Unternehmen auch geografisch zu expandieren beginnen. Sie eröffnen Entwicklerzentren in Krakau oder Belgrad und Verkaufsniederlassungen in Tokio und New York. Get Your Guide setzt daher seit Beginn einerseits auf digitale Zusammenarbeit über Slack, Zoom und Google Docs.

Andererseits reisen die Führungskräfte noch immer regelmässig an alle Standorte des Unternehmens, um die Kultur zu vermitteln. Get Your Guide veranstaltet auch weiterhin in Berlin ein Sommer- und ein Weihnachtsfest für die ganze Belegschaft. Das kostet inzwischen zwar einiges, Reck will aber auf keinen Fall darauf verzichten. Rund um das Fest fänden auch zahlreiche Treffen von Arbeitsgruppen statt.

4. Passende Lohnanreize setzen

Die Identifikation mit dem Arbeitgeber führt auch übers Portemonnaie; jedes Entlöhnungssystem schafft Anreize, sinnvolle oder schlechtere. Die Gefahr für Wachstumsfirmen besteht insbesondere darin, dass ein Graben entsteht: hier die Gründerinnen, denen das Unternehmen gehört und die rasches Wachstum priorisieren, dort die später dazustossenden Mitarbeiter, die ihren fixen Monatslohn erhalten und vom Erfolg des Unternehmens wenig profitieren.

Um einen solchen Graben zu verhindern, sind gemäss Stefan Steiner Aktienbeteiligungsprogramme inzwischen Standard bei rasch wachsenden Unternehmen. Sowohl Wefox wie Get Your Guide setzen darauf: Beim Reiseportal gehört den Mitarbeitern rund ein Sechstel des Unternehmens, ohne die Anteile des Gründerteams dazuzurechnen. Wefox kommuniziert diesen Anteil nicht öffentlich; doch erhalten die Mitarbeiter nach zwei Jahren standardmässig Aktien des Unternehmens – und sie können auf einem Dashboard verfolgen, welchen Wert ihre Beteiligung inzwischen hat.

5. Die passenden Geldgeber finden

Ein junges Unternehmen braucht nach einer Startphase, die sich noch mit eigenem Geld bestreiten lässt, meist viel frisches Kapital, um zügig zu wachsen und allfälligen Nachahmern zuvorzukommen.

Unter professionellen Wagniskapitalgebern hat sich zwar die Maxime durchgesetzt, dass man auf das Gründerteam vertraut und diesem nicht ins Tagesgeschäft hineinredet. Dennoch, sagt Steiner, müssten die Firmengründer ihre Investoren genau prüfen – wie es im umgekehrten Fall geschehe. Man müsse sich eben auch auf menschlicher Ebene verstehen und zusammen ein Bier trinken können.

Dieses Vertrauen ist dann entscheidend, wenn es nicht rund läuft. Get Your Guide etwa durchlebte zwei schwierige Pandemiejahre: Viele Touristenattraktionen blieben geschlossen, kaum jemand konnte oder wollte um die Welt reisen; Get Your Guide machte daher viel weniger Umsatz als im Wachstumsplan vorgesehen.

Wie reagieren? Anstatt die halbe Belegschaft auf die Strasse zu stellen, wie es sich manche Investoren wünschten, setzte Reck von Beginn an darauf, dass die Reiselust irgendwann zurückkehren werde – und dass die Kunden, durchs Home-Office gestählt, auch bei Ferienbuchungen viel stärker auf digitale Kanäle setzen würden. Es galt also «nur» eine Durststrecke zu überwinden und am Tag X wieder bereit zu sein. Viele Mitarbeiter von Get Your Guide liessen sich dafür einen Teil des Lohns in Aktien auszahlen, was kostbare Liquidität bewahrte.

Die Rechnung scheint derzeit aufzugehen. Reck sagt, dass die Kunden von Jahresbeginn bis Ostern 2022 über 80 Prozent mehr Buchungen gemacht hätten als im Vergleichsjahr 2019 vor der Pandemie. Entscheidend war aber, dass sich die Investoren ins Boot holen liessen.

6. Sich als Gründer zurücknehmen

Wächst ein Unternehmen, braucht es oft andere Charaktere an der Spitze: Anstelle des kreativen Tausendsassas und Genies ist eine Organisatorin gefragt, die das Beste aus ihren Mitarbeitern herausholt. Anders gesagt: mehr Tim Cook, weniger Steve Jobs.

Für die Gründer kann das hart sein. Sie haben in der Startphase schliesslich alles im Betrieb gemacht: Sie rekrutieren die Mitarbeiter, werben Geld ein, bauen Geschäftspartnerschaften auf und beantragen die Mehrwertsteuernummer für Deutschland. Genau weil so viel Herzblut in der Firma steckt, erliegen sie oft dem Trugschluss, dass diese auch in Zukunft nicht ohne sie funktionieren kann.

Das Problem trieb auch Reck und Teicke um. «Natürlich ist es zu Beginn angenehm, wenn alles über deinen Schreibtisch läuft», sagt Johannes Reck, doch scheiterten zahlreiche Startups an Gründern, die zu zentralistisch vorgingen.

Get Your Guide habe zum Glück drei bis fünf Jahre Zeit gehabt, um sich auf den grossen Wachstumssprung vorzubereiten. Genug Zeit, damit er seine eigene Rolle überdenken konnte: «Ich habe schnell gemerkt, dass ich nicht qualifiziert bin, in allen Bereichen Entscheidungen zu treffen», so der ETH-Biologe. Er konzentriere sich daher auf Strategie und Vision von Get Your Guide sowie, über die Auswahl von Schlüsselpersonal, auf den Erhalt der Firmenkultur.

Dabei schliesst sich der Kreis, denn die Gründerinnen und Gründer landen wieder beim ersten Problem: die richtigen Mitstreiter zu finden. «Ich will vor allem Mitarbeiter, die das Feuer in den Augen haben. Dann gebe ich ihnen noch so gern mehr Kompetenzen ab», sagt Johannes Reck, «auch wenn das einmal dazu führt, dass man Geld verbrennt und Rückschläge erleidet.»

Doch motivierte Mitarbeiter nutzten die Spielräume meist zum Guten aus, sagt Reck und bringt ein Beispiel aus der Pandemiezeit. Ein Entwicklerteam aus Berlinern und Zürchern schuf in Eigenregie ein Tool für Museen und andere Touristenziele, um Eintrittstickets nach spezifischen Zeitslots zu vergeben. Es soll den Museen helfen, die Besucherströme besser über den Tag zu verteilen. Get Your Guide könne damit seinen Status als Technologiepartner für die Kunden stärken.

Als Gründer müsse man akzeptieren, sagt auch Teicke, dass sich mit der Abgabe von Verantwortung eine Eigendynamik einstelle. Von anderen entworfene Produkte unterschieden sich von den eigenen Vorstellungen.

Der Gedanke ist wohl zentral: Als Kontrollfreak ein Startup zu führen, ist problemlos möglich. Doch je grösser die Firma wird, desto eher muss eine Chefin oder ein Chef zulassen, dass auch andere deren Zukunft mitgestalten.

André Müller, «Neue Zürcher Zeitung»

Das könnte Sie auch interessieren: