Die Schattenseite des Home-Office: In den USA überwachen immer mehr Firmen ihre Mitarbeiter per Software Viele Angestellte wollen auch nach dem Ende der Pandemie von Zuhause aus arbeiten. Was sie oft nicht wissen: In den USA überwachen viele Firmen ihre Mitarbeiter mit Screenshots und Webcams.
Viele Angestellte wollen auch nach dem Ende der Pandemie von Zuhause aus arbeiten. Was sie oft nicht wissen: In den USA überwachen viele Firmen ihre Mitarbeiter mit Screenshots und Webcams.
Als Kerrie Krutchik vergangenes Jahr eine neue Stelle als Juristin antrat, willigte ihre neue Firma ein, dass Krutchik die Arbeit von ihrem Zuhause in Ohio ausüben dürfte. Doch als der neue Firmenlaptop per Post kam, war Krutchiks Überraschung gross, erzählte sie der «Washington Post»: In der beigelegten Anleitung hiess es, dass sie nun ständig von einer Gesichtserkennungssoftware überwacht würde. Auch wenn sie im Home-Office war, würde der Chef ihr jede Sekunde bei der Arbeit zuschauen.
Die soziale Kontrolle des Büros fällt weg
Heimarbeit war lange eine Nebenerscheinung der Corona-Pandemie, doch inzwischen ist sie ein fester Bestandteil des neuen Arbeitslebens. Arbeitnehmer in den USA nennen die Möglichkeit, von zu Hause aus arbeiten zu können, als ein Hauptkriterium bei ihrer Stellensuche, wie Studien zeigen. Doch für Unternehmen bedeutet das, die soziale Kontrolle im Büro aufzugeben: Der Vorgesetzte kann nicht mehr mit einem beiläufigen Blick auf den Bildschirm seiner Mitarbeiter sehen, woran diese gerade arbeiten.
Immer mehr Firmen gehen deswegen dazu über, ihre Angestellten wie Kerrie Krutchik in der Heimarbeit zu überwachen. Drei von fünf mittleren bis grossen Arbeitgebern in den USA nutzen inzwischen Überwachungssoftware, hat die Marktforschungsfirma Gartner jüngst erhoben – doppelt so viele wie vor Beginn der Pandemie. Nicht einmal Smartphones haben sich derart rasant verbreitet. Experten gehen davon aus, dass in den nächsten drei Jahren 70 Prozent aller mittleren bis grossen Arbeitgeber in den USA Überwachungssoftware gegenüber ihren Mitarbeitern einsetzen werden.
«Manager wollen sicherstellen, dass ihre Angestellten produktiv sind, ganz egal, von wo aus sie arbeiten», sagt Helen Poitevin, Analystin bei Gartner, gegenüber der NZZ. Jüngst sagten 85 Prozent der Manager in einer Umfrage von Microsoft, dass sie Probleme hätten, darauf zu vertrauen, dass ihre Angestellten in der Heimarbeit wirklich produktiv seien.
Alle paar Minuten ein Screenshot und ein Blick ins E-Mail-Fach
Überwachungsprogramme versprechen nun, das Problem für Manager zu lösen und die Produktivität der Mitarbeiter zu erfassen. Die Auswahl an derartiger Software ist inzwischen so reichhaltig wie das Snackangebot in einer Kantine.
Die Firma Hubstaff etwa bietet ein Programm an, das alle paar Minuten ein Foto des Bildschirms des Mitarbeiters macht und misst, wie häufig dieser die Tastatur bedient und die Maus bewegt. Basierend auf diesen Daten erstellt Hubstaff einen Produktivitätsscore pro Mitarbeiter. «Wir sind keine Überwachungs-, sondern eine Produktivitätsfirma», heisst es auf der Website. Laut Hubstaff nutzen zurzeit mehrere zehntausend Firmen weltweit die Software; der verkaufsstärkste Monat sei März 2020 gewesen, also der Beginn der Corona-Pandemie.
Ähnlich funktioniert auch Teramind. Die Software zeigt in Echtzeit, auf welcher Website ein Mitarbeiter gerade surft, welche Programme er nutzt, und wie viele Minuten er bereits mit dieser Tätigkeit verbringt. Auch die eingehenden und ausgehenden E-Mails kann der Manager einsehen, ebenso wie das, was der Angestellte auf der Tastatur eingibt und welche Dokumente er ausdruckt. Teramind bietet seine Software in zwei Varianten an – in einem Fall wissen die Angestellten, dass sie überwacht werden, im anderen nicht. Laut dem Manager Eli Sutton seien die Mitarbeiter im Schnitt 30 Prozent produktiver, wenn sie wüssten, dass sie überwacht würden, wie er in einem Interview sagte. Auch bei Teramind haben die Verkaufszahlen seit Beginn der Pandemie massiv zugelegt.
Wenn ein Angestellter isst oder trinkt, kann der Arbeitgeber alarmiert werden
Die Software Remote Desk brüstete sich vergangenes Jahr damit, das beste Programm für «Gehorsam während der Heimarbeit» zu liefern. Die Firma nutzt die Webcam am Computer des Mitarbeiters, um sicherzustellen, dass niemand Externes einen Blick auf interne Daten wirft. Remote Desk kann auch den Arbeitgeber alarmieren, wenn die Webcam feststellt, dass ein Angestellter vor dem Computer isst oder trinkt, falls dies intern verboten sein sollte.
Manche Programme lassen den Vorgesetzten sogar die eingebauten Mikrofone und Kameras aus der Ferne einschalten, um zu erfassen, was um den Angestellten herum passiert. Es ist so, als schaue der Chef einem den ganzen Tag über die Schulter – deswegen tragen derartige Software-Programme auch den Spitznamen «Bossware».
Einige der Programme erheben nicht nur die Daten über die Mitarbeiter, sondern geben den Managern mit künstlicher Intelligenz ermittelte Handlungsempfehlungen. Die Software Veriato etwa schätzt mittels Algorithmen eine Wahrscheinlichkeit dafür, dass ein Mitarbeiter Firmendaten stiehlt oder -geheimnisse weitergibt.
Auch Microsoft als eine der weltweit führenden Firmen für Unternehmenssoftware lancierte Ende 2020 ein vergleichbares Produkt namens Productivity Score. Dieses informierte Vorgesetzte darüber, wie viele Stunden ein Mitarbeiter in den letzten vier Wochen mit der Software Teams verbracht hatte, an wie vielen Tagen man Programme wie Word, Excel oder Power Point geöffnet und wie häufig man E-Mails verschickt hatte. Auf Grundlage dessen wurde dann eine Rangliste der Mitarbeiter erstellt. Nach einem öffentlichen Aufschrei entschuldigte sich Microsoft später und programmierte die Software so um, dass keine einzelnen Mitarbeiter mehr identifiziert werden konnten.
«Die Produktivität ist schwierig zu messen»
Tatsächlich finden Unternehmen mit der Überwachungssoftware auch immer wieder schwarze Schafe in der Belegschaft. Wie die «New York Times» berichtet, haben Firmen etwa aufgedeckt, dass Mitarbeiter zwei Jobs gleichzeitig hatten, Videospiele spielten oder während der Arbeitszeit Websites mit pornografischen Inhalten anschauten.
Auch finden es nicht alle Angestellten schlecht, dass der Chef ihre Produktivität erfasst. Eine Büroangestellte sagte gegenüber der «New York Times», dass ihr die Überwachung sogar gefalle, weil sie vermute, dass ein Kollege in ihrem Team deutlich weniger arbeite als sie selbst. «Es gibt einfach keine Rechenschaftspflicht, wenn wir alle zu Hause sind.» Verfechter solcher Überwachungssoftware weisen auch darauf hin, dass die Programme – anders als vielleicht mancher Manager – niemanden wegen der Hautfarbe oder des Geschlechts unbewusst diskriminierten. Es gehe nur um die reine Produktivität.
Doch genau diese sei schwer zu messen, sagt Poitevin von Gartner, denn das Konzept der Produktivität sei je nach Beruf sehr individuell. «Meistens messen diese Programme lediglich bestimmte Aktivitäten und wann diese stattgefunden haben.» Das sei aber unter Umständen kein guter Indikator für die Leistung eines Mitarbeiters.
Liest ein Angestellter etwa ausgedruckte Dokumente oder telefoniert er mit Kollegen, um ihnen zu helfen, ist er aus Sicht der Programme nicht produktiv. Nachträglich das Gegenteil zu beweisen, ist schwierig.
Auch weltweit steigt die Nachfrage nach Überwachungssoftware für Mitarbeiter
Überwachung am Arbeitsplatz ist in manchen Branchen eine jahrzehntealte Praxis. Fabrikangestellte müssen sich seit dem Zeitalter der Industrialisierung ein- und ausstempeln. Insbesondere Amazon ist legendär dafür, in seinen Logistikzentren jede Handbewegung der Mitarbeiter zu erfassen. Auch Finanzinstitute nutzen Software wie Hubstaff seit Jahren, um sicherzustellen, dass Mitarbeiter beispielsweise kein Insider-Trading begehen. Wall-Street-Firmen sind bekannt dafür, dass sie die Anruflisten, E-Mails und Chatprotokolle ihrer Mitarbeiter durchsehen.
Neu ist, dass die permanente Überwachung und Erfassung der Leistung von Büroarbeitern nun drastisch zunimmt. Der Trend beschränkt sich nicht nur auf die USA: Gemäss einer Studie der Europäischen Kommission hat sich die weltweite Nachfrage nach Software für die Mitarbeiterüberwachung zwischen April 2019 und April 2020 mehr als verdoppelt.
Anders als in Europa gibt es in den USA jedoch kein Gesetz, das Firmen zwingt, ihre Mitarbeiter darüber aufzuklären, ob und in welchem Ausmass sie bei der Arbeit kontrolliert werden. 40 Prozent der Befragten hätten keine Ahnung, welche Produktivitätsdaten ihre Firma erhebe und wie diese verwendet würden, ermittelte Gartner vergangenes Jahr in einer Umfrage unter 3500 Angestellten.
«Wenn Ihr Computer der Firma gehört, können Sie null Privatsphäre erwarten», sagte Marta Manus, eine Anwältin der Rechtsanwaltskanzlei Manus aus San Diego, gegenüber der «Washington Post». Wenn man seinen privaten Laptop für die Arbeit nutze, sei eine Überwachung ebenfalls erlaubt, solange der Arbeitgeber sich dies in den Einstellungsbedingungen vorbehalte. Das Unternehmen sitze üblicherweise am längeren Hebel.
Zumindest auf Ebene einiger Gliedstaaten findet in den USA zurzeit ein Umdenken statt: Anfang Mai führte der Gliedstaat New York ein Gesetz ein, gemäss dem Firmen ihre Angestellten darüber aufklären müssen, wenn sie ihre E-Mails, das Smartphone oder die Internetaktivitäten überwachen. Connecticut und Delaware haben solche Gesetze bereits.
Die Risiken für die Moral unter den Mitarbeitern sind hoch
«Obwohl die Programme immer beliebter werden, versäumen es viele Unternehmen, ihre Mitarbeiter über diese Praxis aufzuklären», sagt Poitevin von Gartner. Sie empfehle, den Angestellten auch zu erklären, welche Daten erhoben würden und was die Absicht dahinter sei. Geschehe dies nicht, könnte die Moral unter den Mitarbeitern sinken und die eigene Reputation Schaden nehmen. Ausserdem könnte man gute Arbeitskräfte verlieren.
Auch eine in der «Harvard Business Review» vorgestellte Studie zeigte jüngst, dass das Überwachen von Mitarbeitern einer Firma durchaus schaden kann. Betroffene Angestellte fühlten sich deutlich weniger für ihr eigenes Handeln verantwortlich, schrieben die Autoren: Sie begännen, absichtlich langsam zu arbeiten oder die Firma auf andere Art und Weise übers Ohr zu hauen, weil sie das Gefühl hätten, unfair behandelt zu werden.
Offenbar regt die digitale Überwachung manchen Angestellten auch dazu an, die Programme austricksen zu wollen. Im Internet finden sich haufenweise Videos und Artikel dazu, wie man vortäuschen kann, dass man eifrig am Arbeiten sei – etwa mit einem «Mouse Jiggler», der die Computermaus bewegt –, während man tatsächlich auf der Couch faulenzt. Ein gutes Verhältnis mit dem Arbeitgeber sieht wohl anders aus.