Neue Lohnstatistik führt zu Verwirrung – nimmt der Lohnrückstand der Frauen plötzlich wieder zu? Die Mitteilung der Bundesstatistiker vom Dienstag zur Lohngleichheit hat völlig unterschiedliche Interpretationen von Gewerkschaften und Arbeitgebern ausgelöst. Alle sehen, was sie sehen wollen – und man ignoriert den Rest. Eine Spurensuche.
Die Mitteilung der Bundesstatistiker vom Dienstag zur Lohngleichheit hat völlig unterschiedliche Interpretationen von Gewerkschaften und Arbeitgebern ausgelöst. Alle sehen, was sie sehen wollen – und man ignoriert den Rest. Eine Spurensuche.
Schlechte Nachricht: Die Gewerkschaft Travail Suisse zeigt sich «konsterniert über weitere Zunahme der Lohndiskriminierung» bei Frauen. Doch hier ist die gute Nachricht: «Lohngefälle zwischen Geschlechtern verringert sich», betont der Arbeitgeberverband. Beide Stellungnahmen beziehen sich auf dieselbe Neuigkeit: die Mitteilung des Bundesamts für Statistik vom Dienstag zu den Lohndifferenzen 2020 im Vergleich zu 2018.
Was stimmt nun? Die Lage ist verworren. Zunächst ist zu klären, welcher Massstab die nationalen Lohndifferenzen zwischen Frauen und Männern am besten abbildet. Ein gängiger statistischer Lohnmassstab ist der Medianlohn; das ist jener Lohn, der von je der Hälfte überschritten beziehungsweise unterschritten wird. Dieser Wert gibt einen besseren Eindruck von «typischen» Löhnen als der Durchschnitt, da Durchschnittswerte wegen weniger sehr hoher Löhne das Bild verzerren können; wenn zum Beispiel neun Arbeitnehmer je 50 000 Franken verdienen, und einer verdient 10 Millionen, beträgt der Medianlohn 50 000 Franken, der Durchschnitt aber über eine Million.
752 Franken Differenz
2020 belief sich der Medianlohn bei den Männern in der Schweiz auf 6963 Franken pro Monat. Bei den Frauen waren es 6211 Franken – also 10,8 Prozent weniger. Das hatte das Bundesamt für Statistik schon dieses Frühjahr mitgeteilt. Die massgebenden Lohnstatistiken werden alle zwei Jahre aufdatiert. Die festgestellte Geschlechterdifferenz 2020 war leicht geringer als 2018 und deutlich geringer als 2008.
Wollen die Statistiker wissen, welcher Teil der Lohndifferenz auf «legitime» Erklärungen wie etwa Unterschiede in Dienstalter, Bildungsstand, Branche und Kompetenzniveau zurückzuführen ist, stellen sie aus methodischen Gründen auf die Durchschnittslöhne ab. Gemessen an den Durchschnittslöhnen verdienten die Frauen 2020 laut der neusten Mitteilung der Bundesstatistiker 18 Prozent weniger als die Männer; diese Differenz war einen Prozentpunkt tiefer als zwei Jahre zuvor. «Die Richtung stimmt», so könnte man also sagen.
Doch gleichzeitig ist der «unerklärte» Teil der Lohndifferenz gewachsen – von 45,4 Prozent 2018 auf 47,8 Prozent 2020. «Falsche Richtung», so könnte man also urteilen. Doch insgesamt lag die unerklärte Lohndifferenz 2020 praktisch gleich hoch wie zwei Jahre zuvor – bei 8,6 Prozent. So können sich alle aussuchen, was ihnen genehm ist.
Aber die Geschichte ist hier noch nicht zu Ende. Im öffentlichen Sektor (Bund, Kantone, Gemeinden) ist die festgestellte Lohndifferenz von 2018 bis 2020 um 3 Prozentpunkte auf 15,1 Prozent gesunken. Das hat der Schweizerische Gewerkschaftsbund am Dienstag lobend festgehalten. Was die Gewerkschafter nicht erwähnten, war den Arbeitgebern eine Betonung wert: Der unerklärte Teil der Lohndifferenz ist im öffentlichen Sektor stark gestiegen – von gut 37 Prozent 2018 auf fast 47 Prozent 2020. Insgesamt ist die unerklärte Differenz im öffentlichen Sektor allerdings nur leicht gewachsen – auf 7,1 Prozent. Im privaten Sektor betrug sie 8,8 Prozent.
Mögliche Diskriminierung
Im «unerklärten» Teil der Lohndifferenz können legitime Faktoren stecken, die im statistischen Modell nicht erfasst sind. Und er kann auch direkte oder indirekte Geschlechterdiskriminierung spiegeln. Solche nationalen Auswertungen sind generell mit Vorsicht zu geniessen. Feinere Analysen auf betrieblicher Ebene weisen oft deutlich geringere «unerklärte» Lohnunterschiede aus. Eine betriebliche Analyse hatte das Parlament vor zwei Jahren für Arbeitgeber ab 100 Angestellten befohlen. Betroffen sind rund 5000 Firmen, die zusammen etwa 45 Prozent aller Arbeitnehmer in der Schweiz beschäftigen.
Die erste Analyse war bis Mitte 2021 durchzuführen, die verlangte externe Überprüfung musste bis Mitte des laufenden Jahres vollzogen sein. Die Firmen müssen ihre Mitarbeiter bis Mitte 2023 über die Resultate informieren. Laut einer am Montag publizierten Umfrage der Gewerkschaft Travail Suisse und der Berner Fachhochschule hatte bis im Juni dieses Jahres nur etwa ein Viertel der Mitarbeiter in betroffenen Betrieben Kenntnis von Resultaten zur Lohnanalyse. Auf Arbeitgeberseite hiess es, dass viele Firmen die Ergebnisse im kommenden Frühjahr mit dem Geschäftsbericht publizieren dürften.
Wenige sind durchgefallen
Die Zuger Beratungsfirma Landolt & Mächler hat laut Angaben des Geschäftsführers Thomas Landolt bisher in über 300 Betrieben Lohnanalysen auf Basis eines eigenen Analysemodells durchgeführt. Im Durchschnitt habe die unerklärte Lohndifferenz 3,2 Prozent zuungunsten der Frauen betragen. Gemäss Landolt sind nur wenige Firmen durchgefallen – mit einer Differenz jenseits der Toleranzschwelle von 5 Prozent. Eine Durchschnittsdifferenz von 3,7 Prozent stellte die Aarauer Beratungsfirma Comp-on auf Basis des vom Bund zur Verfügung gestellten Standardmodells Logib fest. Comp-on hat laut Angaben vom Dienstag rund 220 Lohnanalysen durchgeführt. 4 Prozent der untersuchten Betriebe fielen durch, und gut ein Fünftel der Betriebe lag im Grenzbereich.
Eine Gesamtübersicht liegt bis jetzt nicht vor. Die Betriebe können die verlangte Analyse auch ohne Beizug von Beratern mit Logib oder einem eigenen Modell machen. Das Bund-Standardmodell wird oft kritisiert, weil es nur fünf «legitime» Erklärungsfaktoren berücksichtigt: Ausbildung, Dienstalter, potenzielle Erwerbserfahrung (aktuelles Alter minus Alter beim Ausbildungsabschluss), Anforderungsniveau und berufliche Stellung. Kein Kriterium ist zum Beispiel die effektive Erwerbserfahrung unter Berücksichtigung von Erwerbsunterbrüchen – die vor allem bei Frauen oft vorkommen. Ein gängiges Gegenargument ist der Hinweis, dass dieses Kriterium Frauen diskriminieren könne.