Die AHV schröpft Erwerbstätige über 65 Der Mangel an Fachkräften spitzt sich zu. Ein Grund ist die AHV: Sie vertreibt Ältere aus dem Arbeitsmarkt.
Der Mangel an Fachkräften spitzt sich zu. Ein Grund ist die AHV: Sie vertreibt Ältere aus dem Arbeitsmarkt.
Die gefürchtete Altersguillotine ist am Verschwinden. Arbeitskräfte über 55 zählten bis vor kurzem zum alten Eisen. Jetzt sind sie plötzlich begehrt. Die Arbeitslosigkeit in dieser Altersgruppe ist auf unter 2 Prozent gesunken.
Der Grund ist der Fachkräftemangel, der sich laut dem Personalvermittler Adecco «drastisch zugespitzt» hat. Zum Beispiel haben die Spitäler Hunderte Betten geschlossen, weil das nötige Personal fehlt. Landesweit sind 120 000 Stellen vakant – 50 Prozent mehr als vor der Pandemie.
Die Knappheit wird sich weiter verschärfen: In den nächsten zehn Jahren gehen eine halbe Million mehr Menschen in Pension, als junge nachrücken. Die Firmen versuchen daher, ihre älteren Arbeitskräfte besser an sich zu binden – über das Pensionsalter hinaus.
Viele Beschäftigte zeigen sich in Umfragen bereit, auch nach 65 zu arbeiten, womöglich in einem reduzierten Pensum. Die Versicherung Swiss Life beziffert den Anteil der Interessierten auf 50 Prozent, die Beratungsfirma Deloitte kommt auf 40 Prozent. Tatsächlich aber geht nur eine kleine Minderheit der Rentner weiterhin einer Beschäftigung nach.
Denn für viele ist es schlicht zu wenig attraktiv. Hier kommt eine zweite Altersguillotine ins Spiel, und zwar vonseiten der AHV: Wer nach 65 arbeitet, zahlt trotzdem Beiträge für die Sozialversicherungen von AHV, IV und EO. Derzeit sind es 10,6 Prozent für Angestellte und 10,0 Prozent für Selbständige. Folglich bleiben Erwerbstätige auch im Rentenalter beitragspflichtig, jedoch profitieren sie bis heute von keiner Gegenleistung. Ihre Pension können sie nicht aufbessern.
Es geht um viel Geld
«De facto handelt es sich um eine Steuer – was das Prinzip einer Sozialversicherung verletzt», kritisiert der Luzerner FDP-Ständerat Damian Müller. «Das ist etwa so, als würde man eine Person ohne Auto zwingen, eine Autoversicherung abzuschliessen.» Müller sagt, er höre aus der Praxis regelmässig, dass sich Beschäftigte gegen eine Weiterarbeit nach 65 entschieden, weil es sich finanziell zu wenig lohne.
Früher existierte keine AHV-Beitragspflicht für Erwerbstätige im Rentenalter, sie wurde erst im Jahr 1979 eingeführt. Warum also schafft der Bund sie nicht wieder ab? So könnte er den Fachkräftemangel entschärfen – zumal die Förderung des inländischen Pools an Arbeitskräften zu den wichtigsten Legislaturzielen zählt.
Was dem im Wege steht: Die AHV verdient mit den «Ü 65» viel Geld. Wobei die Höhe dieser Einnahmen bisher im Dunkeln blieb. Doch nun hat der St. Galler Alt-Nationalrat und Vorsorgeexperte Andreas Zeller die lückenhaften Daten des Bundesamts für Sozialversicherungen (BSV) neu ausgewertet: Demnach finanzieren die über 65-Jährigen AHV, IV und EO mit 600 Mio. Fr. im Jahr.
Die hohe Summe zeige das Dilemma des Bundes, sagt Zeller. «Zwar ist die AHV dringend auf Einkünfte angewiesen, um die steigenden Ausgaben zu decken. Der Preis dafür ist aber, dass viele Rentner die Lust am Weiterarbeiten verlieren und aus dem Erwerbsleben vertrieben werden.»
Wenn ältere Arbeitskräfte länger produktiv blieben, profitiere letztlich die gesamte Wirtschaft, betont auch Mathias Binswanger, Ökonomieprofessor an der Fachhochschule Nordwestschweiz. «Anreize für eine freiwillige Weiterarbeit lohnen sich in zweierlei Hinsicht: Erstens unterstützen sie das Wachstum. Denn die Lücke auf dem Arbeitsmarkt können wir nicht allein durch Zuwanderung schliessen. Und zweitens tragen sie der demografischen Alterung Rechnung, weil der Anteil der erwerbstätigen Bevölkerung in Zukunft immer mehr sinkt.»
Der Freibetrag ist zu tief
Doch wie viele Personen arbeiten heute überhaupt nach der Pensionierung? Die Daten dazu sind verwirrlich. Gemäss der schweizerischen Arbeitskräfteerhebung sind es 180 000 Personen. Auf eine nur halb so grosse Zahl kommt hingegen das BSV, nämlich auf 90 000 AHV-pflichtige Rentner.
Die Diskrepanz lässt sich teilweise durch den AHV-Freibetrag erklären: Erwerbstätige Rentner müssen erst dann in die AHV einzahlen, wenn ihr Lohn 16 800 Fr. im Jahr übersteigt. Diese Freigrenze wurde übrigens 1996 letztmals an die Teuerung angepasst. Die Daten des BSV deuteten darauf hin, dass viele Erwerbstätige im Pensionsalter ihr Einkommen bewusst unter 16 800 Fr. hielten, erklärt Andreas Zeller: «Das zeigt, dass nur schon eine Erhöhung des Freibetrags mehr Rentner motivieren würde, das Arbeitspensum aufzustocken.»
Kommt hinzu: Nicht nur bei der AHV werden Arbeitstätige über 65 benachteiligt, sondern oft auch bei den Steuern. Der Vorsorgespezialist Daniel Jud von der Firma Pensexpert illustriert dies am Beispiel einer ledigen Person, wohnhaft in Bern, mit einem Jahreslohn von 90 000 Fr. Bis 65 zahlt diese knapp 13 000 Fr. an Steuern. Arbeitet sie nach der Pensionierung weiter, so steigt die Steuerrechnung aber auf 33 000 Fr. Denn nebst dem Lohn muss sie zusätzlich ein Renteneinkommen von 60 000 Fr. versteuern, was die Steuerprogression stark nach oben treibt.
Zwar könne man die Rente aus AHV und Pensionskasse aufschieben, erklärt Jud. «Viele Pensionierte entscheiden sich jedoch dagegen, weil ihnen die Rente eine finanzielle Sicherheit gibt. Zudem kommt ein Job-Angebot oft kurzfristig. Dann wäre es sinnvoll, man könnte die Rentenzahlung vorübergehend sistieren – was heute nicht möglich ist.»
Immerhin, eine minimale Verbesserung bietet die AHV nun mit der Reform, die das Volk im Herbst knapp angenommen hat. Diese erhöht nicht nur das Rentenalter der Frauen. In manchen Fällen führt die Arbeit nach 65 neu zu einer Verbesserung der Rente. «Allerdings sind die Kriterien so streng, dass nur sehr wenige profitieren», sagt Jud. «Primär sind es Personen, die Lücken bei den Beitragszahlungen aufweisen.»
Frührentner profitieren
Zwar sei das ein kleiner Schritt gegen den Fachkräftemangel, erklärt Ständerat Müller. Viel stärker ins Gewicht falle aber, dass der Bund gleichzeitig die Frühpensionierung attraktiver mache. Wer mit 63 statt 65 die Rente bezieht, muss heute eine Kürzung von 13,6 Prozent hinnehmen. Ab 2027 wird diese Senkung praktisch halbiert: «Damit nimmt der Anreiz, vorzeitig in den Ruhestand zu gehen, sogar noch zu. Vor allem Hochqualifizierte lassen sich noch schwieriger im Arbeitsmarkt halten.» Zudem entstünden für die AHV zusätzliche Kosten von 300 bis 400 Mio. Fr.
Auch ein Aufschub der AHV ist heute möglich, um maximal fünf Jahre. Wer die Rente erst mit 70 bezieht, erhält einen Zuschlag von 31,5 Prozent. Dieser Satz wird ab 2027 auf rund 25 Prozent gesenkt. Ein späterer AHV-Beginn lohnt sich dann noch weniger – dabei wählen derzeit nur gerade 2 Prozent der Rentner einen Aufschub.
«Das Parlament hat es sträflich verpasst, bessere Anreize für die freiwillige Weiterarbeit nach 65 zu setzen – zu meinem Bedauern geht diese Kritik auch an manche bürgerlichen Kollegen», erklärt FDP-Ständerat Müller. «Im Hinblick auf die demografische Alterung und die Knappheit bei den Arbeitskräften sollten wir jetzt zumindest die Freigrenze bei der AHV zügig erhöhen.» Immerhin, ein positives Beispiel gebe es, so Müller. Denn wenigstens bei der Arbeitslosenversicherung müssen die arbeitstätigen Rentner keine Beiträge einzahlen.