Auch im Büro lauern Gefahren: Psychische Erkrankungen am Arbeitsplatz nehmen dramatisch zu Der Kanton Zürich startet ein Pilotprojekt und kritisiert den Bund.
Der Kanton Zürich startet ein Pilotprojekt und kritisiert den Bund.
Das Büro ist ein ziemlich sicherer Arbeitsort. Meint man jedenfalls.
Auf dem Bau oder in der Industrie sieht es anders aus, dort lauern tödliche Gefahren. Doch je mehr die Schweiz zu einer Dienstleistungsgesellschaft mutiert, desto weniger Menschen arbeiten in diesen Risikobereichen. Und damit haben in den letzten Jahrzehnten auch die Arbeitsunfälle deutlich abgenommen. Laut Zahlen der Unfallversicherung UVG ist das Berufsunfallrisiko seit 1985 um über 45 Prozent gesunken. Das Risiko eines tödlichen Arbeitsunfalls ging gar um 60 Prozent zurück.
Sicheres Büro, gefährliche Industrie: So einfach ist die Sache allerdings nicht. Denn im Büro lauern andere Gefahren. In Mitleidenschaft gezogen wird meist nicht der Körper, sondern die Psyche. Und die Zahlen sind beunruhigend: Jede zweite IV-Anmeldung erfolgt heute aufgrund eines psychischen Leidens. Besonders stark betroffen davon sind junge Menschen. In der Corona-Pandemie hat sich die Situation weiter verschärft.
Wie die «NZZ am Sonntag» kürzlich berichtete, ist die Zahl der Arbeitsausfälle wegen psychischer Erkrankungen im Vergleich mit 2012 um 20 Prozent gestiegen. Dies geht aus Daten der PK Rück hervor, die jeweils eine Meldung erhält, wenn jemand in einem Schweizer Betrieb arbeitsunfähig wird. Häufig handelt es sich dabei um schwerwiegende Erkrankungen. Die Dauer der Absenz beträgt im Schnitt elf Monate.
Es komme eine neue Welle auf die Invalidenversicherung zu, wird Andreas Heimer von der PK Rück zitiert. «Viele der Betroffenen werden für längere Zeit nicht ins Arbeitsleben zurückkehren können oder gar für immer ausscheiden», sagt Heimer.
Die Folgen sind gravierend. Einerseits für die Betroffenen und deren Angehörige. Andererseits aber auch für die Wirtschaft und die öffentliche Hand. Das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) beziffert die Kosten durch Absenzen, Produktionseinbussen, entrichtete Invalidenrenten, medizinische Versorgung und Selbstmedikation auf zehn Milliarden Franken pro Jahr.
Es wäre also dringend, dieses Thema hoch oben auf die Prioritätenliste zu setzen. Doch die kantonalen Arbeitsinspektorate fokussieren heute immer noch fast ausschliesslich auf die klassischen Arbeitsunfälle. Die psychische Gesundheit ist kaum ein Thema.
Kanton Zürich fordert Massnahmen vom Bund
Die Zürcher Volkswirtschaftsdirektorin Carmen Walker Späh findet, dass sich das dringend ändern müsse. Es handelt sich allerdings nicht um ein Problem, das die Kantone im Alleingang lösen können. Denn die Vorgaben, was die Arbeitsinspektorinnen und -inspektoren zu kontrollieren haben, kommen vom Bund. Er vergibt Leistungsaufträge an die Arbeitsinspektorate und finanziert diese auch.
Walker Späh fordert vom Bund deshalb, das heutige Finanzierungssystem anzupassen. «Die Leistungsaufträge widerspiegeln nicht mehr die heutige Arbeitswelt.» Die Mittel sollten dort eingesetzt werden, wo sie am meisten brächten. «Es braucht künftig einen stärkeren Fokus auf psychische Erkrankungen», sagt Walker Späh.
Der Kanton Zürich will aber nicht einfach auf den Bund warten, sondern hat nun ein Pilotprojekt gestartet. In der Volkswirtschaftsdirektion soll eine Fachstelle für Gesundheitsschutz eingerichtet werden, welche die psychosozialen Risiken am Arbeitsplatz in den Fokus nimmt. Der Regierungsrat hat für das Projekt 1,8 Millionen Franken gesprochen. «Wir wollen als Kanton vorangehen», sagt Walker Späh. Sie sei aber mit dem Bund im Gespräch über eine allfällige Unterstützung.
Zuständig für das Pilotprojekt ist Beat Werder. Er ist seit zwei Jahren Leiter des Geschäftsbereichs Arbeitsbedingungen. Ihm sei rasch aufgefallen, dass im heutigen System etwas aus dem Lot geraten sei, sagt er. Natürlich brauche es die üblichen Kontrollen nach wie vor. «Sie haben auch massgeblich dazu beigetragen, dass sich die Arbeitssicherheit in den letzten Jahrzehnten verbessert hat.» Es brauche sie künftig aber wohl nicht mehr in der gleichen Intensität, weil es weniger Unfälle gebe und zunehmend mehr Leute im Dienstleistungssektor arbeiteten.
Mit dem Pilotprojekt soll getestet werden, wie die Rolle der Arbeitsinspektoren in Zukunft aussehen könnte. Starten soll das auf fünf Jahre ausgelegte Projekt am 1. April. Dafür sollen zwei neue Stellen geschaffen und innerhalb der Volkswirtschaftsdirektion kompensiert werden.
Risikofaktoren: Druck und Konflikte
Aber braucht es ein solches Angebot überhaupt? Schon heute gibt es verschiedene Beratungsangebote für Firmen, um psychosoziale Risiken am Arbeitsplatz zu mindern. Und diverse Firmen haben das Problem von sich aus schon erkannt, sich Hilfe geholt und Massnahmen ergriffen. Doch das ist laut Werder immer noch der kleinere Teil. Das Problem sei, dass die Beratungsstellen keinen direkten Zugang zu den Firmen hätten, wenn diese nicht von sich aus aktiv würden. Bei den Arbeitsinspektoraten ist das anders, sie können jederzeit Betriebsbesuche machen.
Die Sensibilisierung der Unternehmen für die neuen Risiken am Arbeitsplatz soll denn auch im Rahmen der üblichen Betriebskontrollen stattfinden. Die Inspektorinnen und Inspektoren haben Einblicke in die Dokumente der Firmen und können dabei Auffälligkeiten wie längere Absenzen erkennen. Auch durch Gespräche soll abgeklärt werden, ob es einen Bedarf gibt. «Wir können auch aufzeigen, was die häufigsten Risiken für psychische Probleme am Arbeitsplatz sind, zum Beispiel Konflikte mit anderen Mitarbeitenden oder dem Chef sowie hoher Leistungsdruck», sagt Werder.
Auffällig viele psychische Erkrankungen am Arbeitsplatz werden im Dienstleistungssektor verzeichnet, sowohl in kleinen als auch in grossen Firmen. Insbesondere im Finanzbereich herrscht laut Werder oft grosser Stress. Auf Wunsch der Betriebsverantwortlichen biete man auch konkrete Beratungen an oder vermittle die Firmen an Partnerorganisationen, die Schulungen zum Thema Gesundheitsschutz anböten.
Die neue Fachstelle soll denn auch keine bestehenden Angebote konkurrenzieren. Das Ziel sei eine enge Zusammenarbeit mit der SVA Zürich, der Stiftung Gesundheitsförderung Schweiz, der Suva oder dem Kaufmännischen Verband. «Wir fungieren sozusagen als Türöffner zu den Firmen», sagt Werder.
Den Firmen wolle man keinesfalls dreinreden, sondern sie auf die Probleme aufmerksam machen. Die Sensibilisierung sei wichtig und nicht zuletzt auch im Sinne der Betriebe: «Nur schon wegen des Fachkräftemangels können sich die Firmen Personalausfälle und den damit verbundenen Know-how-Verlust nicht leisten.»
Das Projekt wird von der Universität Zürich begleitet und evaluiert. Es sei wichtig, auch einen wissenschaftlichen Beleg für den Nutzen des Projekts zu liefern, sagt die Volkswirtschaftsdirektorin Carmen Walker Späh. «Wenn wir aufzeigen können, dass es sich lohnt, den Fokus der Arbeitsinspektorate stärker auf die psychische Gesundheit auszurichten, können wir mit diesem Projekt vielleicht auch beim Bund eine Transformation anstossen.»
Ob der Bund dazu bereit ist, ist unklar. Auf eine Anfrage der NZZ hält das Staatssekretariat für Wirtschaft lediglich etwas trocken fest: «Das Seco begrüsst grundsätzlich alle Bemühungen der Kantone zur Stärkung des Gesundheitsschutzes am Arbeitsplatz.»