Die Inflation macht aus Schweizern Rappenspalter Auf den Bio- folgt der Billig-Boom. Preiserhöhungen beschäftigen die Konsumenten stark. Sie greifen zum Günstig-Sortiment und probieren, mit Apps Geld zu sparen.
Auf den Bio- folgt der Billig-Boom. Preiserhöhungen beschäftigen die Konsumenten stark. Sie greifen zum Günstig-Sortiment und probieren, mit Apps Geld zu sparen.
Politiker, Ökonominnen und Detailhandelsmanager werden nicht müde zu betonen, dass die Schweiz punkto Inflation eine Insel sei. Das stimmt zwar. Im Vergleich zu anderen Ländern steigen hier die Preise weniger stark. Und doch ist es nur die halbe Wahrheit. Denn die Konsumentinnen und Konsumenten spüren die Teuerung sehr wohl.
Die ohnehin schon hohen Preise in der Schweiz schlugen auf breiter Front auf. Das hat einen grossen Effekt darauf, wie eingekauft wird. Offiziell betrug die Inflation 2022 in der Schweiz 2,8 Prozent. Bei Alltagsgütern liegt sie teilweise jedoch deutlich darüber. So schlugen zum Beispiel Eier um 14 Prozent auf, Käse um 6 Prozent und Brot um 4 Prozent.
Kunden, welche zuvor eher weniger preissensibel gewesen seien, würden sich jetzt tendenziell öfter an günstigen Segmenten orientieren, teilt die Migros mit. Dies würden die Absatzzahlen der Günstigmarke Migros Budget zeigen. Einen regelrechten Boom erfährt derweil Prix Garantie, das Pendant von Coop. Die Marke ist 2022 umsatzmässig zweistellig gewachsen, wobei Coop keine genaueren Zahlen mitteilt.
Der Discounter Aldi bemerkt «ein Umdenken hin zu preiswerten Produkten». Dies zeige sich daran, dass das Eigenmarkensortiment besonders gefragt sei. Zahlen nennt der Detailhändler zwar nicht, aber man habe in den letzten Monaten sehr viele Neukunden gewinnen können. Ähnliches berichtet Konkurrent Lidl. Man spüre seit einem Jahr einen «beschleunigten Kundenzuwachs», vor allem die Eigenmarken seien sehr beliebt.
Dass die Inflation für die Verbraucher zur Zeit das mit Abstand wichtigste Thema ist, zeigt eine bisher unveröffentlichte Befragung der Schweizer Einkaufslisten-App Bring. Das von der Post aufgekaufte Startup hat über 1500 Schweizer Nutzerinnen und Nutzer zu ihrem Shoppingverhalten befragt. Das Resultat ist mehr als deutlich: Über 70 Prozent gaben an, dass die steigenden Preise sie beschäftigen würden. Die Nachhaltigkeit ist hingegen nur für rund ein Drittel relevant (siehe Grafik).
In derselben Umfrage wurde auch ermittelt, bei welchen Lebensmitteln die Konsumenten denn am ehesten sparen. Fast die Hälfte (48 Prozent) gab als Antwort «Snacks und Süsswaren» und nur knapp weniger (46 Prozent) kreuzten «Fleisch und Fisch» an. Auch das deutet darauf hin, dass sich der Fokus beim Einkaufen vermehrt aufs Wesentliche richtet und zum Budgetschonen auch mal aufs Dessert oder Filet verzichtet wird.
Es zählt wieder der Preis
«Das Interesse an Aktionen ist mit der Inflation messbar gestiegen», sagt Raphael Thommen, Gründer der App Profital, welche Schweizer Sonderangebots-Prospekte bündelt und zur Einkaufslisten-App Bring gehört. Zwar sähe man sich hierzulande nicht als Rappenspalter, doch die Einkaufsvorbereitung mit Fokus auf Aktionen sei weit verbreitet. Der Detailhandel habe darauf reagiert, sagt Thommen. Statt höherpreisige Produkte zu bewerben, liege der Fokus seit vergangenem Jahr bei den Preiseinstiegssortimenten.
Der Billigboom ist ein starker Kontrast zur Entwicklung der letzten Jahre. Der Detailhandel versuchte zuletzt vor allem mit dem Ausbau des Bio- und Schnellverpflegungsanbots im Premiumbereich zu punkten. Während der Corona-Zeit gingen die Umsätze mit biologisch angebauten Lebensmitteln durch die Decke. Nun scheint der Absatz zu stagnieren oder sogar zu schrumpfen. Der Verband Bio Suisse gibt seine Zahlen erst im April bekannt, doch die Daten aus dem Ausland sind eindeutig: Nachhaltigkeit ist in der Priorität der Verbraucher deutlich nach unten gerutscht. Was zählt, ist der beste Preis.
«Beim Konsum kann man kurzfristig am meisten sparen», sagt Philipp Frei, Geschäftsführer beim Dachverband Budgetberatung Schweiz. Andere Anpassungen, wie etwa das Umziehen in eine kleinere Wohnung, dauere deutlich länger, bis sie einen Effekt erzielten. Die höheren Preise spürt auch er in seiner täglichen Arbeit: «Wir stellen sowohl fest, dass mehr Beratungen nachgefragt werden. Ebenso werden die Beratungen emotionaler. Das deutet darauf hin, dass der finanzielle Druck auf die Bevölkerung gestiegen ist.»
Mitunter werden die Menschen auch kreativ. Davon profitiert Too Good to Go, eine App zur Vermeidung von Food Waste. Sie listet Restaurants und Geschäfte auf und bietet deren Menus sowie Lebensmittel, die kurz vor dem Verfall stehen, zu reduzierten Preisen an. Benutzer können diese reservieren und zu einem definierten Zeitpunkt abholen. Die international tätige Firma kooperiert in der Schweiz mit über 6000 Betrieben, darunter auch der Migros, Globus oder Valora.
Der Vergleich lohnt sich
Früher hätten die User lange gebraucht, bis sie sich entschieden hätten. «Neue Kunden reservieren viel schneller etwas. Das zeigt uns, dass für sie der Preis im Vordergrund steht», sagt Yann Gurtner, Marketingchef von Too Good to Go in der Schweiz. Eigentlich wolle man vor allem dazu beitragen, dass weniger Lebensmittel verschwendet werden, sagt er. Doch: «Es stört uns überhaupt nicht, wenn die User dank uns Geld sparen. Im Gegenteil.» Bei Too Good to Go kostet alles höchstens ein Drittel vom Originalpreis, dies werde man in Zukunft klarer kommunizieren, sagt Gurtner.
Auch der Handel hat die Zeichen der Zeit erkannt. In den Verkaufsregalen dürften die Budgetsortimente ausgebaut werden. Coop kündet an, zusätzlich zu den 1500 Prix-Garantie-Produkten 60 neue lancieren zu wollen. Ausserdem soll die Linie optimiert werden, etwa mit praktischeren Packungsgrössen oder dem Verzicht auf Palmöl in der Rezeptur.
Trotzdem sollte man beim Einkaufen nicht nur auf das Label schauen. Meist kann man zwar mit dem Günstigsortiment sparen. Aber eine Stichprobe des Schweizerischen Konsumentenschutzes ergab, dass es immer wieder Prix-Garantie- beziehungsweise Migros-Budget-Artikel gibt, die teurer sind als die konventionelle Variante. «Hinschauen und vergleichen lohnt sich auch bei den Billiglinien», sagt Konsumentenschützerin Sara Stalder.