Wenn Eltern bei der Arbeit fehlen, weil sie sich um ihr krankes Kind kümmern müssen, geraten sie manchmal in die Fänge der Bürokratie Seit 2021 gibt es in der Schweiz einen Betreuungsurlaub für Väter und Mütter von schwer kranken Kindern. Seither gibt es aber immer wieder Entscheide der Behörden, die für die Betroffenen herzlos wirken. Das soll sich nun ändern.
Seit 2021 gibt es in der Schweiz einen Betreuungsurlaub für Väter und Mütter von schwer kranken Kindern. Seither gibt es aber immer wieder Entscheide der Behörden, die für die Betroffenen herzlos wirken. Das soll sich nun ändern.
Was tun, wenn das Kind Fieber hat? Diese Frage beschäftigt vor allem Doppelverdiener-Eltern. Kranke Kinder dürfen nicht in die Kita gebracht werden. Jemand muss sich also beim Chef abmelden und zu Hause bleiben. Die Verhandlungen darüber, wer «jemand» ist, münden bei manchen Paaren schnell in einer Grundsatzdebatte über die Gleichstellung der Geschlechter.
Immerhin ist die arbeitsrechtliche Situation relativ klar: Ist ein Kind krank, darf die Mutter oder der Vater im Prinzip bis zu drei Tage zu Hause bleiben. Weder ein Teil des Lohns noch Ferientage dürfen dafür gestrichen werden.
Wenn ein Kind schwer erkrankt, dürften die wenigsten Paare darüber streiten, wer es ins Spital begleitet. Ausgerechnet in dieser emotional belastenden Situation ist hingegen die rechtliche Lage unübersichtlich. Wer wann wie lange dafür entschädigt wird, wenn er oder sie bei einem kranken Kind sein will, hängt vom Einzelfall ab.
Gesetz weckte falsche Hoffnungen
Dabei hat das Parlament mit einer Gesetzesänderung vermeintlich für Klarheit gesorgt. Seit Juli 2021 können erwerbstätige Eltern, die sich um ein schwer krankes Kind kümmern, eine bezahlte Auszeit von bis zu 14 Wochen nehmen. Der Urlaub kann innerhalb von 18 Monaten am Stück, aber auch tageweise bezogen werden. Die Eltern dürfen die Tage untereinander aufteilen.
Finanziert wird der Urlaub über die Erwerbsersatzordnung (EO). Die Entschädigung deckt grundsätzlich 80 Prozent des Einkommens ab, ist aber bei 220 Franken pro Tag oder 6600 Franken pro Monat gedeckelt. In der Regel überweist die Ausgleichskasse das Geld an den Arbeitgeber. Vor der Einführung des Betreuungsurlaubs wurden die Eltern kranker Kinder meist krankgeschrieben. Die Kosten übernahmen die Arbeitgeber und die Krankentaggeldversicherung.
Das Gesetz weckte allerdings falsche Hoffnungen. Damit Eltern den Betreuungsurlaub beziehen können, muss beim Kind eine «einschneidende Veränderung seines körperlichen oder psychischen Zustandes eingetreten» sein. Weiter gilt, dass der Verlauf der Krankheit «schwer vorhersehbar» ist oder mit einer «bleibenden oder zunehmenden Beeinträchtigung oder dem Tod zu rechnen ist».
Das führte dazu, dass die Ausgleichskassen – basierend auf ärztlichen Attesten – teilweise Entscheide treffen (müssen), die für Betroffene herzlos erscheinen. Der FDP-Ständerat Damian Müller reichte weniger als ein Jahr nach Inkrafttreten des Gesetzes eine Motion ein, die das ändern soll.
Seine Beweggründe illustrierte er im Ständerat mit einem Beispiel: «Sie freuen sich auf die Geburt Ihres Kindes, aber kaum ist es auf der Welt, wird festgestellt, dass es an Krebs leidet und im Spital bleiben muss.» Nach dem ersten Schock stelle sich irgendwann die Frage: «Wie vereinbare ich jetzt diese familiäre Herausforderung mit meiner Arbeit?»
Womöglich freue man sich, dass die Schweiz seit 2021 eine Betreuungsentschädigung kenne. «Sie kämpfen sich durch das komplexe Formular, holen alle Unterschriften und Atteste ein – und dann ein weiterer Schock: Ihr Gesuch wird nach mehrmonatiger Behandlungszeit abgelehnt. Der Grund: Das Kind wurde ja schon mit Krebs geboren, also liegt keine Verschlechterung des Zustandes vor.»
Anspruch ab viertägigem Spitalaufenthalt
Solche Fälle will Müller mit einer Gesetzesänderung verhindern. Wenn ein Kind vier Tage oder länger im Spital behandelt werden muss, sollen Doppelverdiener-Eltern automatisch Anspruch auf den Betreuungsurlaub haben. Die EO würde einspringen, sobald die drei Tage, die der Arbeitgeber bezahlen muss, ausgeschöpft sind.
Der Nationalrat hat den Vorstoss am Mittwoch mit 131 zu 32 Stimmen angenommen. Die Nein-Stimmen stammten allesamt aus den Reihen der SVP. Dabei offenbarte sich ein Geschlechtergraben in der Fraktion: Während die Männer den Vorstoss deutlich ablehnten, drückte die Hälfte der SVP-Nationalrätinnen auf den Ja-Knopf. Da der Ständerat die Motion bereits im Herbst angenommen hatte, muss der Bundesrat nun eine Gesetzesvorlage ausarbeiten. Sozialminister Alain Berset hatte sich im Parlament – nicht besonders energisch – dagegen gewehrt.
Die Gegner der Motion führten folgende Argumente ins Feld: Erstens sei es noch zu früh, um eine Bilanz zu ziehen. Das Gesetz sei erst vor wenigen Monaten in Kraft getreten. Zweitens führe der Vorschlag zu neuen Ungerechtigkeiten. Wenn ein viertägiger Spitalaufenthalt eines Kindes einen Anspruch auf den Betreuungsurlaub begründe, führe dies zu einer Benachteiligung jener Eltern, deren Kinder ambulant betreut würden. Drittens erweitere das Kriterium den Kreis der theoretisch anspruchsberechtigten Familien von heute rund 4500 auf 20 000 Familien pro Jahr. Folglich könnten die Kosten in der EO erheblich steigen.
Ein Run ist bisher ausgeblieben
Das Kostenargument verfing offensichtlich nicht einmal im bürgerlichen Lager. Das lag wohl daran, dass ein Run auf den Betreuungsurlaub bisher ausgeblieben ist. Wie das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) auf Anfrage mitteilte, wurden bis Ende 2022 1120 bewilligte Gesuche gemeldet. Die Kosten in der EO belaufen sich auf total knapp 7 Millionen Franken.
Weil die Eltern anderthalb Jahre Zeit haben, um die bis zu 98 Urlaubstage zu beziehen, wird dieser Wert sehr wahrscheinlich noch steigen. Auch wurden dem Bund noch nicht alle Fälle gemeldet, die sich auf das Jahr 2022 beziehen. Laut dem BSV ist es bei der Einführung einer neuen Leistung zudem häufig so, dass es eine gewisse Zeit braucht, bis die Leistungsbezüge den «Normalstand» erreichen.
Die «wahren» Kosten des Betreuungsurlaubs in der bisherigen Form lassen sich also noch nicht definitiv beziffern. Klar ist hingegen, dass sie deutlich unter den 74 Millionen Franken pro Jahr liegen, die der Bund vor der Einführung des Betreuungsurlaubs als Höchstwert angegeben hatte.