So viele Covid-Betrüger prellten den Bund In zehn Minuten zu fetter Beute: Die unbürokratische Vergabe von Covid-Krediten lockte Tausende Profiteure auf den Plan, wie exklusive Zahlen zeigen. Die Delikte belasten das Justizsystem auf Jahre hinaus.
In zehn Minuten zu fetter Beute: Die unbürokratische Vergabe von Covid-Krediten lockte Tausende Profiteure auf den Plan, wie exklusive Zahlen zeigen. Die Delikte belasten das Justizsystem auf Jahre hinaus.
«Ich bin lediglich ein Kleinkrimineller.» So versucht sich ein Basler Unternehmer den Gerichten zu verkaufen. Dabei ist sein mutmassliches Vergehen das Gegenteil von klein. Es handelt sich vielmehr um einen der grössten bisher bekannten Fälle von Covid-Kredit-Betrug. Fast zwei Millionen Franken hat der Unternehmer vor drei Jahren vom Staat erhalten, um seinen Betrieb durch den Corona-Lockdown retten zu können. Doch das Geld zweigte er für andere Zwecke ab.
Der Mann aus dem kurdischen Milieu von Basel wurde deshalb wegen Verdacht auf Betrug verhaftet und wartet in Sicherheitshaft auf seinen Prozess. Gegen die vorzeitige Inhaftierung wehrte er sich. Doch aufgrund der Höhe der Deliktsumme und wegen der Fluchtgefahr ins französische Ausland wiesen das Basler Appellationsgericht und das Bundesgericht kürzlich eine Beschwerde des Unternehmers ab.
Der Mann profitierte von der extremsten Form der Wirtschaftshilfe, die es in der Geschichte des Landes je gegeben hat: den Covid-19-Überbrückungskrediten. Das milliardenteure Programm wurde vom Bundesrat per Notverordnung in die Wege geleitet und rettete viele KMU vor dem unternehmerischen Tod. Und es lockte Tausende Betrüger an.
Neueste Zahlen des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) zeigen: Die Gesamtsumme an potenziell missbräuchlich verwendeten Covid-19-Krediten beträgt Stand heute rund 290 Millionen Franken. Diese Summe umfasst über 2000 Fälle, bei denen die Ermittlungen noch laufen, sowie mehrere hundert Fälle, die mit einem Schuldspruch oder einer Wiedergutmachungszahlung juristisch abgeschlossen wurden. Die Betrüger kommen am häufigsten aus dem Baugewerbe, der Gastronomie und dem Handel.
Schulden bezahlt, Bitcoins gekauft
Rückblende in den März 2020. Es war eine Zeit, in der alles stillstand und gerade deshalb manches ganz schnell gehen musste. Geschäfte und Schulen waren geschlossen, die Menschen sollten zu Hause bleiben. «Wenn wir nicht rasch Geld in die Wirtschaft pumpen, haben wir innert Wochen Zehntausende Arbeitslose», warnte der damalige Finanzminister Ueli Maurer in einem «Blick»-Interview. Zusammen mit den Banken schusterte der Bund zur Überbrückung finanzieller Engpässe eiligst ein Kreditprogramm. Auf einem Faktenblatt des Bundes sollte später stehen: «10 Minuten dauerte das Ausfüllen eines Gesuchs für Covid-19-Kredite bis zu 500 000 Franken und war in 7 Schritten erledigt.»
«Ein Unternehmer erschlich sich einen Covid-19-Kredit von einer Viertelmillion Franken und nutzte diesen für seine private Übersiedlung nach Namibia.»
Die Kredite wurden zwischen März und Ende Juli 2020 gewährt. Das System basierte auf Selbstdeklaration. Die Banken vergaben die Kredite, der Bund sicherte sie mittels zwischengeschalteten Bürgschaftsorganisationen ab. Geprüft wurde praktisch nichts. So entstanden Betrügereien, die nicht wirklich kriminelles Können benötigten.
Die meisten Gesuche hatten auf einem A4-Blatt Platz und enthielten nicht viel mehr als ein paar Firmenangaben und den letztjährigen Umsatz. Laut Insidern aus der Strafverfolgung glichen sich die Maschen der Betrüger. Manche gaben schlicht falsche Umsatzzahlen an, um einen höheren Kredit zu ergattern, stellten parallele Anträge bei mehreren Banken oder schrieben Firmen auf, die längst inaktiv waren. Einige haben mit dem Geld private Schulden bezahlt oder in Bitcoins investiert.
Die Insider sagen auch: Oft waren die Täter zusätzlich deliktisch unterwegs, und nicht selten als Kleinkriminelle den Behörden bereits bekannt. Exemplarisch dafür steht ein Fall aus Bülach. 2022 wurde dort ein Abschleppdienst-Unternehmer wegen Erpressung und Nötigung verurteilt, weil er von Autofahrern überrissene Preise verlangte und sie zu sofortiger Zahlung drängte. Laut einem Bundesgerichtsurteil erschlich er sich daneben auch einen Covid-19-Kredit von einer Viertelmillion Franken und nutzte diesen für seine private Übersiedlung nach Namibia. Er meldete sich bei seiner Gemeinde ab und brauchte das Corona-Geld unter anderem dafür, ein Leasingfahrzeug nach Afrika zu verschiffen.
Musste man beim Massengeschäft der Covid-Kredite einfach mit hohen Zahlen von Betrug rechnen? Oder machte die Gelegenheit mehr Diebe als nötig gewesen wären?
Bei der Pressekonferenz zur Einführung der Kredite Ende März 2020 hatte Ex-Finanzminister Ueli Maurer eine sehr dezidierte Meinung dazu. «Missbrauch ist praktisch ausgeschlossen, davon bin ich grundsätzlich überzeugt», sagte Maurer. «Ich gehe davon aus, dass Leute, die eine Firma haben und die ihr ganzes Vermögen in diese Firma gesteckt haben, auch so ehrlich sind, dass sie den Staat nicht über den Tisch ziehen wollen.»
Doch nur wenige Tage später, am 1. April 2020, twitterte der FDP-Nationalrat und Unternehmer Matthias Jauslin eine Warnung: «Der Covid-19-Kredit ist eine Fehlkonstruktion. Weder Banken noch Bund prüfen die Anträge. Kredite gehen an marode Firmen, die auch ohne Covid in Notlage wären.» Er habe recht behalten, ist Jauslin heute überzeugt: «Das Missbrauchsrisiko war von Anfang an enorm, man hätte bei der Kreditvergabe eine Sicherheitsprüfung zwischenschalten müssen.» Der SVP-Fraktionschef Thomas Aeschi erinnert daran, dass seine Partei eine Risikobeteiligung der Banken gefordert hatte: «So wäre bei den Kreditprüfungen automatisch genauer hingeschaut worden», sagt Aeschi.
Eine genauere Prüfung wäre «wünschenswert» gewesen, heisst es nun auch beim Wirtschaftsprüfungsunternehmen KPMG. «Die Erfahrung zeigt, dass Wirtschaftskriminelle Gelegenheiten, die sich aufgrund von neuen rechtlichen Rahmenbedingungen oder Lücken im System ergeben, unmittelbar zu ihren Zwecken ausnutzen», sagt Cristina Ferraris Gloor, Forensik-Expertin bei KPMG. «Dies war entsprechend auch bei den Covid-19-Krediten der Fall.»
Generell gelte: Je genauer die Prüfung vor der Kreditvergabe, desto kleiner das Risiko von Betrugsfällen. «Der Gesetzgeber hat zur Stützung des Wirtschaftsstandorts Schweiz die Geschwindigkeit der Kreditauszahlung höher gewichtet als die Betrugsprävention.»
Ermittler unter Druck
Der Ökonom Samuel Turcati hält gegen die kritischen Stimmen. Er leitet beim Seco eine eigens für die Covid-19-Überbrückungskredite eingerichtete sechsköpfige Gruppe. Turcati weist auf die Dimensionen der Staatshilfe hin: «Rund 23 Prozent der Schweizer Firmen haben Covid-19-Kredite mit einem Gesamtbetrag von 16,9 Milliarden Franken erhalten», sagt Turcati. «Das Instrument war zur damaligen Zeit also absolut nötig.» Aufgrund der besonderen Umstände sei es aber auch essenziell, dass alle schwarzen Schafe gefunden würden. Es würden «keine Stichproben durchgeführt», sagt Turcati, sondern systematisch jeder einzelne vergebene Covid-19-Kredit überprüft.
Schon jetzt belasten die Delikte das Justizsystem erheblich, wie eine Umfrage bei mehreren Staatsanwaltschaften zeigt. Die Staatsanwaltschaft Basel-Stadt führt neben dem Fall des Grossbetrügers über 150 weitere Covid-Betrugsverfahren mit einer möglichen Deliktsumme von 16,5 Millionen Franken. Eigens für die Covid-Kredit-Betrüger musste sie Anfang Jahr eineinhalb Stellen aufstocken und zusätzliche Staatsanwälte einstellen. Die Basler rechnen noch mit jahrelangen Ermittlungen: Weitere eineinhalb Stellen werden mit dem Budget 2024 beantragt.
Im Aargau ermittelt seit einigen Monaten eine neu geschaffene Task-Force von Polizei und Staatsanwaltschaft. Für die rund 400 Verdachtsfälle von Betrug hat der Regierungsrat eine Frist von drei Jahren gesetzt, dafür wurden sechs zusätzliche Stellen geschaffen. Auch in Zürich und anderen Kantonen dasselbe Bild: Die Strafverfolger müssen viel Energie und Ressourcen in die Aufarbeitung investieren. Wie viel der Deliktsumme beschlagnahmt werden konnte, weist der Bund nicht aus.
Dass der Bundesrat ein Kreditsystem per Notverordnung durchdrückte, für dessen Folgen nun die Kantone aufkommen müssen, führt zu Missmut bei den Ermittlern. Die Kantone und auch die Schweizerische Staatsanwälte-Konferenz halten sich zwar zurück, doch hinter vorgehaltener Hand ist Kritik zu hören. Vor allem da allmählich klar wird, wie viele Jahre die Covid-Kredite die Justiz noch beschäftigen werden.
Denn der momentane Deliktsbetrag von 290 Millionen Franken ist bei weitem nicht der Endstand. Das bestätigt auch das Seco. Vor einem Jahr betrug die Missbrauchssumme noch 200 Millionen Franken, vor zwei Jahren waren es erst 120 Millionen Franken. Und erst in ungefähr zwei Jahren wird man wissen, wie hoch der totale Betrag tatsächlich ist. Dann rechnet Samuel Turcati mit einer Stabilisierung der Zahlen: «Viele Fälle sind noch in Abklärung, und deshalb ist bis 2025 mit einer weiteren Zunahme der Missbrauchssumme zu rechnen.» 4600 Fälle von mutmasslichen Covid-Betrügern konnten von den Ermittlern bis heute noch nicht einmal in die Hand genommen werden.