Junge Führungskräfte wollen nicht mehr alles für die Firma geben – «ich habe auch eine Familie!» Ein Topmanager stehe für sein Unternehmen jederzeit zur Verfügung, hiess es lange. Doch heutige Nachwuchskräfte haben keine Lust mehr, sich wie in einem Hamsterrad zu bewegen.
Ein Topmanager stehe für sein Unternehmen jederzeit zur Verfügung, hiess es lange. Doch heutige Nachwuchskräfte haben keine Lust mehr, sich wie in einem Hamsterrad zu bewegen.
Er sei oft unterwegs gewesen und habe seine Familie vernachlässigt, sagte Klaus Endress, der Verwaltungsratspräsident und langjährige Konzernchef der Industriegruppe Endress + Hauser, diesen Frühling im Interview mit der NZZ. Und fügte hinzu: «Darauf bin ich nicht stolz.»
Manager als «Leibeigene»
So wie dem 74-jährigen Patron, der Ende dieses Jahres altershalber aus dem Verwaltungsrat der global aufgestellten Baselbieter Messtechnikfirma ausscheiden wird, erging es vielen Managern seiner Generation. «Wer es als Babyboomer bis an die Spitze eines Konzerns schaffte, gehörte seinem Arbeitgeber förmlich», sagt der Zürcher Headhunter Guido Schilling.
Als Personalvermittler ist Schilling auf die Vermittlung von Managern und Verwaltungsräten für Grossunternehmen spezialisiert. Er hat im Verlauf seiner über 30-jährigen Tätigkeit als Headhunter schon viele Konzernchefs kommen und gehen sehen. Wenn er über ältere Spitzenkräfte spricht, benutzt er gerne den Begriff der «Leibeigenschaft».
Noch vor 10, 20 Jahren, so beobachtete Schilling, hielten es Verwaltungsräte und Aktionäre für selbstverständlich, dass ein Firmenchef 365 Tage im Jahr und praktisch rund um die Uhr seinem Arbeitgeber zur Verfügung stand. Für die Familien solcher Manager bedeutete dies, dass sie ihn, wenn überhaupt, oft nur am Wochenende zu Gesicht bekamen.
Entweder sei der Ehemann und Papa – Frauen aus der Generation der Babyboomer schafften es nur in Einzelfällen in Toppositionen der Wirtschaft – fix und fertig am Freitagabend aus dem Ausland zurückgekehrt. Oder die Familie habe ihn sogar erst am Samstag am Flughafen abholen können, um ihn am Sonntagabend gleich wieder dorthin zu begleiten, sagt Schilling.
Absagen aus familiären Gründen häufen sich
Seit einigen Jahren stellt der Personalvermittler indes einen Wandel fest. Selbst Spitzenkräfte seien immer seltener bereit, alles der Firma unterzuordnen, konstatiert Schilling. Fragen rund um die Vereinbarkeit von Berufs- und Familienleben beschäftigten auch Mitglieder von Geschäftsleitungen sowie jene, welche die Ambition verfolgten, in eine solche Position zu gelangen. «Ich habe auch eine Familie!», sagten sich die meisten.
Schilling macht denn auch verstärkt die Erfahrung, dass er und seine Kunden Absagen erhalten, welche die Kandidatinnen und Kandidaten ungeschminkt «mit familiären Überlegungen» begründen. So kann es passieren, dass der Headhunter an einem Freitag in Zürich mit einem eigens aus Schweden eingeflogenen Kandidaten ein ausführliches Interview für einen hochdotierten CEO-Posten in der Schweiz führt. Und ihm der Kandidat dann am Montag berichtet, er sei, nachdem er das Angebot ausführlich mit seiner Frau besprochen habe, zum Schluss gekommen, lieber in seiner schwedischen Heimat zu bleiben. Man habe sich in Sachen Haus, Berufstätigkeit und Kinderbetreuung perfekt organisiert, und daran wolle man nicht rütteln.
Hannes Stettler, der als Headhunter für die Personalvermittlungsfirma Boyden arbeitet, stellt ähnliche Veränderungen fest. Das «Heimchen am Herd», das Männern sämtliche Verpflichtungen zu Hause abnehme, sei ein Auslaufmodell. Eine solche traditionelle Rollenverteilung wirke auf jüngere Personen, vor allem auf jene, die Mitte 40 und jünger seien, geradezu antiquiert, sagt Stettler.
Millennials rücken nach
Noch dominieren in Geschäftsleitungen von Schweizer Grossfirmen die über 50-Jährigen, die zur sogenannten Generation X gehören. Das Durchschnittsalter erhöhte sich laut der jüngsten Ausgabe des «Schilling-Reports», den die Personalvermittlungsfirma jedes Jahr zur Zusammensetzung des Topmanagements und des Verwaltungsrats der 100 grössten Schweizer Arbeitgeber veröffentlicht, im Zeitraum von 2006 bis 2022 sogar von 50 auf 56 Jahre. Das Durchschnittsalter neu ernannter Geschäftsleitungsmitglieder betrug jüngst 51 Jahre.
Absehbar ist indes, dass in den kommenden Jahren sukzessiv jüngere Kräfte den Sprung ins Topmanagement schaffen werden. Diese sogenannten Millennials, die auch der Generation Y zugerechnet werden und zwischen 1980 und 1999 geboren wurden, sind bekannt dafür, in Sachen Work-Life-Balance anders als Angehörige früherer Generationen zu denken.
Unter ihnen, sagt Schilling, befänden sich viele topqualifizierte Frauen, welche die klare Erwartung hätten, trotz Familiengründung eine Führungskarriere zu durchlaufen. Auch wenn sie das Arbeitspensum vorübergehend reduzierten, seien sie nicht bereit, Abstriche bei ihrer Karriere in Kauf zu nehmen, sagt Schilling.
Zugleich sei es für die meisten dieser Frauen klar, dass ihr Partner Verpflichtungen im Haushalt und in der Familie mittrage. Viele jüngere Männer, ergänzt der Headhunter, hätten damit auch keine Probleme. Er erlebe, wie 40-jährige und jüngere Kandidaten heute offen anmerkten, dass beispielsweise Donnerstag für sie «Papi-Tag» sei. Wer trotzdem versuche, an einem solchen Tag mit ihnen ein Meeting zu vereinbaren, erhalte dezidiert eine Absage.
Topmanagerinnen gesucht
Noch liegt der Anteil der Frauen in den Geschäftsleitungen der 100 grössten Schweizer Arbeitgeber bei knapp unter 20 Prozent. Allerdings dürfte es nur eine Frage der Zeit sein, bis er ein deutlich höheres Niveau erreichen wird. Unternehmen stehen unter grossem Druck, auch im Topmanagement für eine ausgeglichenere Verteilung der Geschlechter zu sorgen.
Schilling und Stettler machen bei ihrer Arbeit als Headhunter die Erfahrung, dass besonders jüngere Kandidatinnen sich genau überlegt haben, wie sie sich mit ihrem Partner und den Kindern am besten organisieren. Sie wollen sichergehen, dass es mit der Bewältigung der Arbeitslast klappt und trotz allen beruflichen Anforderungen Zeit für das Familienleben bleibt. In diesem Zusammenhang würden auch Teilzeitpensen eingefordert.
Stettler empfiehlt auch Männern, frühzeitig eine Auslegeordnung zu machen: Wie wichtig ist mir die Familie und die Karriere? Was kann ich dazu beitragen, dass sich auch die Partnerin beruflich verwirklichen kann? Solche und ähnliche Fragen gelte es sorgfältig zu beantworten.
Wer zu Hause Energie tanken kann, ist leistungsfähiger
Laurenz Meier ist Professor für Arbeits- und Organisationspsychologie an der Universität Neuenburg. Zu seinen Spezialgebieten zählen Fragen rund um die Vereinbarkeit von Berufs- und Familienleben. Laut seinen Angaben zeigen Studien seit Jahren, dass Personen, die im Privaten Ressourcen tanken können, bei der Arbeit leistungsfähiger sind.
Zugleich gilt: Wer beruflich ein erfülltes Leben führt, kommt in besserer Stimmung nach Hause und ist für die Familie eher ein Gewinn.
Roche-Chef begleitet Sohn an Fussballspiele
Die Basler Pharmaunternehmen Roche und Novartis werden beide von vergleichsweise jungen Konzernchefs geführt, deren Kinder im schulpflichtigen Alter sind. Als Vas Narasimhan vor sechs Jahren zum neuen CEO von Novartis ernannt wurde, sorgte der damals 41-Jährige mit folgender Aussage für Aufmerksamkeit: Er begleite seine beiden Kinder regelmässig mit dem Tram zur Schule.
Thomas Schinecker steht seit März 2023 an der Spitze von Roche. Vom dreifachen Familienvater ist überliefert, dass er – wenn immer möglich – eines seiner Kinder samstags zum Fussballspiel kreuz und quer durch die Schweiz chauffiert.
Bei Roche werden «Führungskräfte dazu angehalten, auf ihre eigene sowie die Gesundheit ihrer Mitarbeitenden zu achten», wie das Unternehmen auf Anfrage mitteilt. Zugleich werde erwartet, dass Ferienzeit bzw. Freizeit eingehalten und zur Regeneration genutzt werde.
«Sitzungsfreie Zeit» bei Novartis
Auch bei Novartis scheint man Wert darauf zu legen, dass auch Manager ihre Work-Life-Balance nicht vernachlässigen. Im Sommer ruft der Konzern jeweils eine zweiwöchige «sitzungsfreie Zeit» aus. Sie soll, wie die Medienstelle zur Auskunft gibt, Mitarbeitern ermöglichen, «mehr Zeit mit ihren Familien zu verbringen und sich auf ihr Wohlbefinden zu konzentrieren». Auch weist man bei Novartis darauf hin, dass es keine Verpflichtung für obere Führungskräfte gebe, während der Ferienzeit in Verbindung mit dem Unternehmen zu bleiben.
Wieweit sich Kaderangehörige getrauen, während der Ferien keine E-Mails zu lesen oder das – geschäftlich genutzte – Handy gar nicht erst in die Ferien mitzunehmen, ist eine andere Frage. Besonders Mitglieder der Geschäftsleitung haben eine besondere Verantwortung. Sie können es sich schlecht leisten, für die Firma tagelang nicht erreichbar zu sein, zumal sie für ihre Tätigkeit in aller Regel ja auch einen hohen bis sehr hohen Lohn beziehen.
Tipps für vielbeschäftigte Spitzenkräfte
Dennoch gibt es Tipps, die auch vielbeschäftigte Spitzenmanager leicht beherzigen können, um das Berufliche besser mit dem Familienleben in Einklang zu bringen. Professor Meier rät dazu, sich gewisse Zeiten fix frei zu halten. Solche «zeitliche Inseln» könnten beispielsweise der Donnerstagabend oder die Zeit täglich ab 21 Uhr sein. Wichtig sei zugleich, dies bei der Arbeit und zu Hause klar zu kommunizieren, damit alle Bescheid wüssten. Und man sollte nicht zu viele Ausnahmen zulassen. «Wer den fest eingeplanten Netflix-Abend mit der Familie regelmässig verpasst, muss sich nicht wundern, wenn alle verärgert sind.»
Meier hält es für keine gute Idee, das Ferienhaus auch als Arbeitsplatz zu benutzen, wenn die Familie dabei sei. Wer unbedingt in den Ferien an Videokonferenzen teilnehmen müsse, quartiere sich für diese Zeit lieber in einem benachbarten Hotel ein. Auch rät Meier Managern, sich zu fragen, welche geschäftlichen Kommunikationskanäle für sie auch auf privat genutzten Geräten abrufbar sein müssten. «Ist es beispielsweise nötig, Slack-Nachrichten auf dem Handy einsehen zu können?»
Verwaltungsräte ticken oft noch anders
Manager, die selbstbewusst eine bessere Work-Life-Balance einfordern, müssen sich trotz allen Veränderungen bei Rollenbildern und gesellschaftlichen Wertvorstellungen aber noch immer auf gewisse Widerstände gefasst machen. Je höher eine Führungskraft in der Hierarchie steht, desto stärker nehmen beispielsweise die Hürden punkto Teilzeitarbeit zu. Meier geht mit Schilling einig, dass Mitglieder von Geschäftsleitungen im Minimum ein 70-Prozent-Pensum benötigen. Weniger gehe nicht.
Wer eine Spitzenposition anstrebt, darf zudem auch heute die Rechnung nicht ohne den Verwaltungsrat und die Aktionäre einer Firma machen. In diesen Kreisen gibt es noch immer viele Vertreter der Babyboomer-Generation. Und manche, erzählen Personalvermittler freimütig, reagierten weiterhin mit Unverständnis, wenn eine Führungskraft allzu offensiv verlange, auch Zeit für Privates und die Familie zu haben. «So etwas hätten wir uns auch nicht getraut zu fordern», bekämen die Managerinnen und Manager dann oft zu hören.