Nach den Wahlen steigen die Chancen des Elternurlaubs Ein Sieg der Mitte-Partei in den Wahlen könnte im neuen Parlament zu einem Ausbau der Elternzeit führen. Das zeigt eine Auswertung der Wahlhilfe Smartvote.
Ein Sieg der Mitte-Partei in den Wahlen könnte im neuen Parlament zu einem Ausbau der Elternzeit führen. Das zeigt eine Auswertung der Wahlhilfe Smartvote.
Glaubt man den Umfragen, dann steht die Mitte-Partei vor einem historischen Ergebnis: Sie könnte bei den Wahlen am 22. Oktober nicht nur ihren jahrelangen Niedergang stoppen, sondern dabei auch zum ersten Mal in der Geschichte des Bundesstaats die FDP überholen. Das hätte Folgen für die Dynamik im bürgerlichen Lager, aber auch für die Chancen vieler politischer Anliegen, bei denen es auf die Mitte-Stimmen ankommt.
Eines dieser Anliegen ist die Frage nach einem Ausbau des Elternurlaubs. Dieser beträgt heute 14 Wochen für Mütter und 2 Wochen für Väter. Eine Auswertung der Online-Wahlhilfe Smartvote für die «NZZ am Sonntag» zeigt nun: Eine Mehrheit von 64 Prozent der Mitte-Kandidierenden befürwortet die Ausweitung der bezahlten Elternzeit (27 Prozent sind klar, 37 Prozent eher dafür).
Am grössten ist die Unterstützung bei den Mitte-Politikern unter 34 Jahren: 84 Prozent sprechen sich insgesamt für einen Ausbau aus. Aber selbst bei den Kandidierenden über 65 Jahren geben 58 Prozent an, dass sie klar oder eher für eine Ausweitung seien.
Die Zustimmung in den Reihen der Mitte ist damit so hoch wie in keiner anderen bürgerlichen Partei. Bei der SP und den Grünen stimmen 98 Prozent der Kandidierenden einer Ausweitung zu, bei den Grünliberalen sind es 88 Prozent. Rechts der Mitte wird ein Ausbau dagegen klar abgelehnt. Nur 21 Prozent der FDP-Kandidierenden sprechen sich eher oder klar dafür aus, bei der SVP sind es nur 6 Prozent.
Die Positionierung der Mitte-Kandidierenden zeigt: Es kommt Bewegung in die Debatte um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Die damalige CVP lehnte im Parlament noch 2019 die Forderung nach einem vierwöchigen Vaterschaftsurlaub ab (und machte dafür den Zwei-Wochen-Kompromiss möglich, der in der Volksabstimmung vom September 2020 angenommen wurde). Noch am Abstimmungssonntag sagte die damalige Fraktionschefin Andrea Gmür auf die Frage nach weiteren Ausbauschritten: «Im Moment ganz sicher nicht.»
Die Junge Mitte macht Druck
Seither hat sich in der Partei einiges getan. Die Junge Mitte legte vor einigen Monaten ein eigenes Elternzeitmodell «für eine moderne Familienpolitik» vor. Es sieht insgesamt 20 Wochen bezahlten Urlaub vor, wovon für den Anteil des Vaters mindestens 20 Prozent reserviert sein sollen, also vier Wochen.
Inzwischen haben Vertreterinnen und Vertreter der Mitte in neun Kantonsparlamenten Vorstösse für Standesinitiativen eingereicht. «Wir wollen bis Ende Jahr so viele Standesinitiativen wie möglich nach Bern schicken», sagt Marc Rüdisüli, Präsident der Jungen Mitte. «Die Kantone könnten damit dem nationalen Parlament den Auftrag geben, eine gesamtschweizerische Lösung zu erarbeiten.»
Philipp Matthias Bregy, Fraktionschef der Mitte im Bundeshaus, hat die grossen Sympathien für den Elternurlaub in seiner Partei ebenfalls registriert. Er erklärt sie mit zwei Dingen: Zum einen umtreibe das Thema viele junge Kandidierende. Zum anderen sei die Vereinbarkeit von Familie und Beruf in der Gesellschaft in den letzten Jahren generell wichtiger geworden. «Die Politik versucht, darauf zu reagieren – wir auch einmal mit moderat sozialen Elementen.»
«Das wäre ein wichtiger Schritt hin zu politischen Mehrheiten, die es bisher nicht gegeben hat.»
Was die künftige Mitte-Fraktion mit diesen Sympathien macht, ist allerdings offen. Bregy selbst sagt: «Ich fände es gut, wenn Väter und Mütter die Wochen flexibel aufteilen könnten.» Ein Ausbau der Elternzeit könne geprüft werden, wenn auch nur ein sehr moderater. «30 oder 40 Wochen Elternzeit, wie es die linken Parteien möchten, lehnen wir klar ab.»
Dass Teile der Mitte-Partei zu einem Ausbau des Elternurlaubs tendierten, überrasche ihn nicht, sagt der FDP-Vizepräsident Andrea Caroni: «Das passt ins Bild, das die Mitte zumindest im Nationalrat schon heute abgibt. Sie fällt dort sozialpolitisch mit linken Positionen auf.» Caronis FDP geht einen anderen Weg: Sie will beim Elternurlaub keinen Ausbau, sondern mehr Flexibilität. Von den heutigen 16 Wochen sollen 8 für die Mutter reserviert sein, weitere 8 Wochen sollen unter den Eltern flexibel aufgeteilt werden können.
Die Promotoren eines neuen Elternzeitmodells schöpfen aus der Befragung Hoffnung. Das heutige System genüge nicht, damit beide Elternteile nach der Geburt wieder in höheren Pensen zurückkehren und sich die Kinderbetreuung egalitärer aufteilen könnten, sagt die GLP-Nationalrätin Kathrin Bertschy, Co-Präsidentin des Frauendachverbands Alliance F.
Um Müttern die Rückkehr in den Arbeitsmarkt zu ermöglichen, brauche es ein Umdenken. «Es ist erfreulich, dass dieses Bewusstsein nun auch in der Mitte ankommt», sagt Bertschy. «Das wäre ein wichtiger Schritt hin zu politischen Mehrheiten, die es bisher nicht gegeben hat.»
Die Bundesverwaltung arbeitet derzeit an einer «volkswirtschaftlichen Gesamtkostenanalyse» von Elternzeitmodellen, mit der sie vom Parlament beauftragt worden ist. Erfahrungen aus dem Ausland zeigten, dass ein paritätisches Modell den grössten volkswirtschaftlichen Nutzen bringe, sagt Bertschy – ein Modell also, in dem beide Elternteile ungefähr gleich viel Elternzeit nacheinander beziehen. Die Grünliberalen und ihre Verbündeten wollen das Anliegen in der neuen Legislatur wieder auf den Tisch bringen – in welcher Form, ist noch offen.
Das dritte Geschlecht ist chancenlos
Das künftige Parlament wird indes nicht in allen Belangen progressiver ticken. Das zeigt sich etwa bei der Frage nach der Einführung eines dritten amtlichen Geschlechts. Diese wird von Kreisen gefordert, die eine bessere rechtliche Stellung für nonbinäre Personen möchten. Das Anliegen findet allerdings nur bei den Kandidierenden von Grünen, SP und Grünliberalen eine Mehrheit, wie die Smartvote-Daten zeigen – dafür recht deutlich.
Sowohl bei der Mitte als auch bei den Freisinnigen kann jedoch nur eine Minderheit der Kandidierenden mit der Forderung etwas anfangen. 23 Prozent der Mitte sind eher oder klar dafür, bei den Freisinnigen sind es 19 Prozent. Bei der SVP findet sich sogar überhaupt niemand, der ein drittes Geschlecht will. Man kann das als Bestätigung für das Argument des Bundesrats lesen, der im Dezember die Einführung eines dritten amtlichen Geschlechts auch mit der Begründung ablehnte, dass die Gesellschaft dafür «nicht bereit» sei.
Recht klar ist das Bild auch bei einer weiteren Smartvote-Frage, die sich – je nach Standpunkt – ebenfalls um Gleichstellung dreht: jene nach der getrennten Besteuerung von Ehepaaren. Sowohl bei den linken Parteien als auch in der FDP sprechen sich über 90 Prozent der Kandidierenden für die Individualbesteuerung aus. Beim Freisinn ist das nicht überraschend: Die FDP-Frauen reichten vor einem Jahr eine Volksinitiative ein, die einen Systemwechsel verlangt, und Finanzministerin Karin Keller-Sutter (FDP) hat das Anliegen aufgenommen.
Die Kandidierenden der Mitte lehnen die Individualbesteuerung dagegen mehrheitlich ab. Die Partei will die Benachteiligung von Ehepaaren schon länger mit einer eigenen Steuerinitiative angehen.