Die EU-Kommission kritisiert die Schweiz wegen ihrer Lohnschutzregeln – doch auch die Mehrheit der EU-Länder steht unter Beschuss Die Schweiz kann sich trösten: Auch viele EU-Länder sind wegen Lohnschutzregeln im Visier der EU-Kommission. Zurzeit laufen Verfahren der Kommission gegen 17 Mitgliedländer wegen Verletzung der EU-Vorgaben.
Die Schweiz kann sich trösten: Auch viele EU-Länder sind wegen Lohnschutzregeln im Visier der EU-Kommission. Zurzeit laufen Verfahren der Kommission gegen 17 Mitgliedländer wegen Verletzung der EU-Vorgaben.
Die Schweiz verstösst mit ihren übertriebenen Lohnschutzmassnahmen gegen das Abkommen mit der EU zur Personenfreizügigkeit: Das sagt die EU-Kommission. Der für das Schweiz-Dossier zuständige EU-Kommissar Maros Sefcovic hat diese Sichtweise diesen Monat im EU-Parlament erneut bekräftigt.
Der Anlass der Diskussionen im EU-Parlament zur Schweiz war ein Bericht des aussenpolitischen Parlamentsausschusses. Der Bericht kritisierte unter anderem die «bürokratischen Hürden» der Schweiz mit ihren Lohnschutzmassnahmen. Dabei geht es besonders um die von Firmen aus der EU vorübergehend in die Schweiz entsandten Arbeitnehmer. Die Lohnschutzmassnahmen für solche Dienstleister sind ein zentraler Streitpunkt in den laufenden Sondierungsgesprächen Schweiz-EU.
Die Schweiz will durch ein ausgedehntes Kontrollregime möglichst Lohndruck im Inland durch entsandte Arbeitnehmer aus Ländern mit weit tieferem Lohnniveau vermeiden, während aus EU-Sicht das Schweizer Regime unzulässige Schikanen enthält.
Erste Eskalationsstufe
Die EU-interne Rechtsbasis für den Umgang mit grenzüberschreitend entsandten Arbeitnehmern liefern die Richtlinie zur Entsendung von Arbeitnehmern sowie eine Durchsetzungsrichtlinie dazu. Die Schweiz kann sich in gewisser Hinsicht trösten: Die EU-Kommission hat auch die Mehrheit der EU-Mitgliedländer ins Visier genommen, weil diese Länder laut Kommission die Vorgaben der Durchsetzungsrichtlinie nicht erfüllen. 2021 hatte die EU deswegen ein Vertragsverletzungsverfahren gegen 24 der 37 Mitgliedländer lanciert. Solche Verfahren enthalten verschiedene Eskalationsstufen, bis zum Gang vor den Europäischen Gerichtshof.
Bis im Januar 2023 hatte aus Sicht der EU-Kommission immer noch die Mehrheit der Mitgliedländer bedeutende Defizite bei der Umsetzung. Deshalb zündete die Kommission bei 17 Ländern die erste Eskalationsstufe: eine Art Mahnung mit genaueren Erläuterungen («begründete Stellungnahme»). Laut der damaligen Mitteilung der Kommission hatten die betroffenen Staaten zwei Monate Zeit, die nötigen Massnahmen zu treffen. Betroffen sind unter anderem Belgien, Deutschland, Finnland, Frankreich, Irland, Italien, die Niederlande, Polen und Ungarn.
Alle betroffenen Länder haben mittlerweile laut EU-Kommission Stellungnahmen geschickt. Man sei noch am Analysieren der Antworten. Die EU-Kommission gibt auf Anfrage Hinweise zu den Gründen der Verfahren. So hätten zwei Drittel der betroffenen Länder administrative Vorgaben und Kontrollmassnahmen in Kraft gesetzt, die nicht durch die massgebende EU-Richtlinie gedeckt seien. Diese zusätzlichen Massnahmen seien weder gerechtfertigt noch verhältnismässig; sie schafften zusätzliche administrative Hürden für Dienstleister oder behinderten gar die Dienstleistungsfreiheit.
Bei einem Viertel der betroffenen Länder geht die Kritik der Kommission in die Gegenrichtung: Diese Länder hätten gar keine spezifischen Regeln für den Schutz von entsandten Mitarbeitern beschlossen. In dieser Gruppe dürften vor allem Tieflohnländer sein, während wohl vor allem Hochlohnländer aus Sicht der EU-Kommission zu weit gehen. Zusätzliche Kritikpunkte der Kommission bei diversen Staaten betreffen Mängel bei den Regeln zur Haftung von Dienstleistern für Unterlieferanten (zwei Drittel der Verfahren) sowie unverhältnismässige Sanktionen (drei Fälle).
Wie es mit diesen Fällen weitergeht, ist laut der EU-Kommission noch offen: Nach Abschluss der Analysen werde man entscheiden. Bei unbefriedigenden Antworten der betroffenen Länder könne man den Europäischen Gerichtshof einschalten.
Fast 2000 hängige Fälle
Die EU-Kommission wacht generell darüber, dass alle Mitgliedstaaten EU-Recht korrekt und rechtzeitig umsetzen. Vertragsverletzungsverfahren gegen Mitgliedländer kommen häufig vor. Die EU-Kommission hat gemäss ihren Daten von 2018 bis 2022 im Mittel pro Jahr rund 750 Vertragsverletzungsverfahren lanciert. Ende 2022 waren total fast 2000 Verfahren hängig – über 400 mehr als fünf Jahre zuvor. Unrühmlicher Spitzenreiter war Belgien mit 114 hängigen Fällen. Am Ende der Rangliste war Dänemark mit 36 hängigen Fällen.
Im Durchschnitt dauern die Verfahren gut zwei Jahre. In manchen Fällen kann es aber auch fünf Jahre oder mehr dauern. Typischerweise werden nach der formalen Eröffnung eines Verfahrens etwa 70 Prozent der Fälle vor der ersten Eskalationsstufe erledigt. Nur einige Prozent der Verfahren gehen bis vor Gericht. Im vergangenen Jahr hat die EU-Kommission 35 Fälle ans Gericht geschickt. Dieses fällte 2022 Urteile in 19 Verfahren. In fast allen Fällen (17) urteilte das Gericht gegen den betroffenen Mitgliedstaat. Ende 2022 waren rund 100 Verfahren trotz Gerichtsurteil noch hängig, weil die Staaten die Urteile noch nicht umgesetzt hatten.
Zähe Fälle zum Binnenmarkt
Die EU liefert auch spezifische Angaben zu Vertragsverletzungsverfahren betreffend den europäischen Binnenmarkt. Voll im Binnenmarkt dabei sind nebst den EU-Ländern auch die drei Efta-Staaten im Europäischen Wirtschaftsraum (Norwegen, Island, Liechtenstein). Gemäss den jüngsten Daten waren Anfang Dezember 2022 in den Phasen vor dem Gang zum Gericht etwa 700 Verfahren gegen EU-Staaten und rund 50 Fälle gegen Efta-Staaten hängig. Im Mittel waren diese Verfahren bereits seit fast vier Jahren pendent.
Noch viel länger geht es oft, wenn Fälle vor das Gericht gehen. In den fünf Jahren bis Ende November 2022 hat die EU-Kommission 94 Verfahren zum Binnenmarkt abgeschlossen, weil der betroffene Mitgliedstaat ein für ihn negatives Gerichtsurteil umgesetzt hatte. Bis zur Umsetzung dauerte es aber im Mittel nochmals vier Jahre.
Die Moral der Geschichte: Die EU mag Probleme mit der Schweiz haben, aber viele EU-Länder sind nicht unbedingt einfachere Kunden.