«Ich habe Chef»: Psychische Krankheiten werden häufig am Arbeitsplatz ausgelöst Absenzen wegen kranker Mitarbeiter sind auf einem Allzeithoch. Die Kosten für die Firmen steigen – oft verursacht durch Krach im Job.

Absenzen wegen kranker Mitarbeiter sind auf einem Allzeithoch. Die Kosten für die Firmen steigen – oft verursacht durch Krach im Job.

(Bild: Nik Shuliahin auf Unsplash)

Der Anstieg der Krankenkassen-Prämien bereitet vielen Menschen Kopfzerbrechen. Aber es sind nicht nur Privatpersonen, die unter steigenden Kosten leiden. Firmen haben genau das gleiche Problem.

2022 waren die Absenzen am Arbeitsplatz auf einem Allzeithoch, wie Zahlen des Bundes zeigen (siehe Grafik). Ein Angestellter fehlte im Schnitt 9,3 Tage wegen Krankheit oder Unfall bei der Arbeit. Das ist ein Anstieg von 50% gegenüber 2012.

Für die Unternehmen geht das massiv ins Geld. Sie werden auf zwei Arten belastet: Einerseits kommen sie bei einer Absenz weiterhin für den Lohn auf – je länger sie dauert, desto mehr kostet es.

Andererseits steigen die Versicherungsprämien. Unternehmen können sich gegen hohe Kosten bei längeren Krankheiten schützen, indem sie eine Krankentaggeld-Versicherung abschliessen. Die greift meist bei einer Absenz von mehr als 30 Tagen. Doch: Je mehr Absenzen eine Firma hat, desto teurer werden die Prämien. Sie sind zuletzt stark gestiegen.

Immer mehr Chefs

Weil die Angestellten nicht mitteilen müssen, woran sie leiden, kann über die Hintergründe nur spekuliert werden. Zwei Trends sind jedoch feststellbar: Corona hat die Menschen für Krankheiten sensibilisiert. Sie bleiben eher zu Hause, wenn sie sich nicht fit fühlen. Darauf deuten die Arztbesuche hin, die überdurchschnittlich zunehmen.

Zweitens leiden Menschen vermehrt an psychischen Krankheiten. «Diese tun den Versicherungen besonders weh, denn die Absenzen sind sehr lange. Ursache dafür ist sicher auch eine erhöhte Akzeptanz für psychische Krankheiten in der Gesellschaft», sagt Simon Tellenbach, Geschäftsleiter Firmenkunden beim Beratungsunternehmen Vermögenszentrum (VZ). Im Schnitt fehlt eine Person zwischen sechs und sieben Monaten.

Was den Firmen besonders zu denken geben sollte: «Etwas mehr als 50% aller psychischen Arbeitsunfähigkeiten werden durch Konflikte am Arbeitsplatz ausgelöst», sagt Tellenbach.

Dass der Stress im Job – ob nun gefühlt oder real – in der Schweiz zunimmt, ist durch verschiedene Studien erwiesen. Etwa den «Barometer Gute Arbeit», welcher die Gewerkschafts-Dachorganisation Travail Suisse jedes Jahr mit der Berner Fachhochschule (BFH) erstellt. Zwar ist die Beschäftigungslage gut und die Angst davor, die Stelle zu verlieren, laut dem Barometer so tief wie noch nie. Dafür steigt die Arbeitsbelastung. 43% der Schweizerinnen und Schweizer fühlen sich an der Arbeit gestresst. 2016 waren es noch knapp 38%. Drittel gaben in der Travail-Suisse-Befragung an, in ihrer Freizeit zu arbeiten.

Kommt hinzu: Es gibt in der Schweiz immer mehr Chefs. Für die Einzelnen mag dies ein Karrieresprung sein. Doch je mehr Führungskräfte in einer Firma, desto grösser ist die Komplexität und das Konfliktpotenzial. «Viele Vorgesetzte sorgen für unnötigen Mehraufwand, der an den Untergebenen hängenbleibt», sagte Sozialpsychologe Jakub Samochowiec, der das Phänomen untersuchte, zur «NZZ am Sonntag».

Das VZ bietet seinen Firmenkunden Beratungen in Sachen Gesundheitsmanagement an. Das Ziel: Krankheiten und damit auch Kosten zu reduzieren. Die Nachfrage ist da: «Meist sind es Unternehmen, die mit starken Prämienerhöhungen konfrontiert waren und zum Schluss kamen, dass es so nicht weitergehen kann», sagt Simon Tellenbach.

Wichtiger Bestandteil sind Präventionsworkshops. Dabei lernen Führungskräfte, Warnsignale früh zu erkennen und auch anzusprechen. «Vor allem Firmen mit überdurchschnittlich vielen Absenzen können viel Geld sparen, wenn sie sich professionell darum kümmern», sagt Tellenbach.

Es fehlen die Fachkräfte

Eine Umfrage bei grossen Schweizer Arbeitgebern zeigt, dass sie die Zeichen der Zeit erkannt haben. «Wir haben schon diverse Massnahmen im Bereich der Prävention, Führung und Reintegration ergriffen», schreibt beispielsweise die Post. Sie hat im März in der Deutschschweiz ein Angebot lanciert, welches den Mitarbeitern rund um die Uhr anonyme Unterstützung anbietet. So gibt es auch «Kurz-Inputs zu Themen der psychischen Gesundheit». Weil die Resonanz gross sei, werde das Programm nun auf die weiteren Landesteile ausgeweitet.

Bei der Swisscom lag die Absenzenquote im letzten Jahr bei 3%. Das bedeutet: Von 100 Angestellten fehlten im Schnitt jeden Tag drei Personen – ein absoluter Höchstwert für das Unternehmen. Die Swisscom will Resilienz fördern und hat diverse Präventionsmassnahmen zu Stress eingeführt. Zudem bietet sie Kurse für mentale Gesundheit an, die speziell auf Jugendliche zugeschnitten sind.

Die Schweizer Grossunternehmen gehen davon aus, dass der Höhepunkt punkto Krankheitstage erreicht ist. «Die krankheitsbedingten Absenzen sind im laufenden Jahr bislang tiefer als noch 2022», schreibt beispielsweise Coop.

Das bedeutet aber nicht, dass sich die Kosten stabilisiert haben. «Wir richten aktuell gegenüber dem Jahr 2022 zirka 4 bis 5% mehr Leistungszahlungen aus», teilt die Swica mit. Die Krankenkasse ist der grösste Player im Geschäft mit Krankentaggeldern, mit denen sich Firmen gegen Langzeitabsenzen versichern können. Zwar sei die Anzahl der Fälle zurückgegangen, schreibt die Swica. Aber: «Die Dauer der Arbeitsunfähigkeit hat sich erhöht.»

Geschätzt haben rund 80% der Firmen in der Schweiz eine Taggeldversicherung abgeschlossen. Die Kosten sind enorm. Allein für die Prämien 2021 zahlten Firmen den Versicherungen 4,6 Mrd. Fr. Dies geht aus einer Studie des VZ hervor. Es gibt aber auch Unternehmen, die bewusst auf eine Versicherung verzichten. Etwa die SBB. «Steigen Krankheitstage an, steigen auch die Kosten», schreibt das Unternehmen.

 

Zusätzlich zu den Ausgaben kommt für Firmen vermehrt ein weiteres Problem hinzu. Fällt eine Person länger aus, kann sie nicht so einfach ersetzt werden. In vielen Branchen ist der Markt für Fachkräfte ausgetrocknet. So stellt die Migros fest: «Analog der gesamtschweizerischen Entwicklung können auch wir seit der Pandemie einen Anstieg an Absenzen wahrnehmen. Zusätzlich beschäftigt uns auch der Arbeitskräftemangel.»

Ob sie wollen oder nicht: Chefs kommen heutzutage nicht mehr darum herum, sich mit der Gesundheit ihrer Angestellten auseinanderzusetzen. Sonst wird es teuer für sie.

Moritz Kaufmann, «Neue Zürcher Zeitung»

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