«Lehrlinge sollen froh sein, eine Lehrstelle zu haben» – Betriebe, die so denken, haben bei den Jungen verloren In der Lehre geht die Schere zwischen populären und weniger beliebten Berufen auf. Kleinere Unternehmen aus dem Baugewerbe und der Gastronomie müssen sich etwas einfallen lassen. Und sind durchaus kreativ.
In der Lehre geht die Schere zwischen populären und weniger beliebten Berufen auf. Kleinere Unternehmen aus dem Baugewerbe und der Gastronomie müssen sich etwas einfallen lassen. Und sind durchaus kreativ.
Das Wallis boomt, der Chemiekonzern Lonza baut trotz der jüngsten Rückschläge Dutzende neuer Stellen auf, einheimische Firmen wie Lauber IWISA in Naters müssen schauen, wie sie zu Personal kommen. Weil es im Oberwallis schwierig ist, Lehrlinge zu gewinnen, muss sich die Gebäudetechnikfirma etwas einfallen lassen.
Der Betrieb beteiligt sich an den Kosten für den Führerausweis und am Handyabonnement. Weil die Berge nah sind, offeriert Lauber IWISA wahlweise Skiabos oder jährlich einen Festivalpass für das Open Air Gampel. «Als Lehrbetrieb müssen wir uns ständig verbessern.», sagt die Personalchefin Flavia Heinzmann. Dazu zählt auch, dass das Unternehmen eine 4,5-Tage-Woche eingeführt hat.
Am Ende sollen jedoch nicht die Goodies entscheidend sein, sondern die Firmenkultur. Ideen wie die des Fleischverarbeiters Bell, Lernenden im dritten Lehrjahr schon 4000 Franken Lohn zu zahlen und sie so bei der Stange zu halten, findet Heinzmann «etwas übertrieben». Wichtig ist ihr vor allem, dass die Lernenden eigene Ideen einbringen können, im Betrieb eine fundierte Ausbildung erhalten und von erfahrenen Mitarbeitenden lernen.
Um gute Lehrlinge zu gewinnen, nimmt der Betrieb an verschiedenen Events an Oberwalliser Schulen, Berufsmessen und Kampagnen teil. Zudem spricht Lauber IWISA neben Jugendlichen aus der Region auch junge Erwachsene aus dem grenznahen Italien an. Um den Einstieg in das Berufsleben in der Schweiz zu erleichtern, absolvieren diese aufgrund der Sprachbarriere die schulische Ausbildung sogar im Tessin. Mit Lernenden aus der Grenzregion hat Lauber IWISA laut der Personalchefin sehr gute Erfahrungen gemacht. Offenbar springen diese nach der Lehre anders als zum Teil befürchtet nicht wieder schnell ab. Man habe viele Grenzgänger und langjährige Mitarbeiter aus Italien, so Heinzmann.
Lehrlinge sind die besten «Influencer»
Auch Matthias Zwyssig, Betriebsleiter bei Metallraum aus Lütisburg bei Wil, betont die Betriebskultur. «Viele Betriebe sind in alten Mustern gefangen.» Der Grundtenor sei dabei, dass die Lehrlinge froh sein sollten, eine Lehrstelle zu haben. Dieser Ansatz funktioniert aber immer weniger. «Die Lehrlinge heute sind schon viel weiter, haben mehr Selbstvertrauen und wissen, dass sie auf dem Arbeitsmarkt gesuchte Leute sind.»
Das führt dazu, dass die Jugendlichen abspringen, wenn sie sich schlecht behandelt fühlen oder ihre Erwartungen enttäuscht werden. Daraus folgt für Zwyssig, dass die Betriebe ihnen mehr Wertschätzung entgegenbringen und ihre Meinungen respektieren müssen. Die Zeiten seien vorbei, in denen man den Jungen noch habe sagen können: «In der Lehre lernst du erst einmal richtig schaffen.» Wichtig sind stattdessen auch im harten Metallbau die Soft-Faktoren. «Die Tätigkeit muss inhaltlich interessant sein, abwechslungsreich und sinnhaft», so Zwyssig.
Ein betrieblicher Tiktok-Kanal wird ausschliesslich von den Lehrlingen bespielt. Er dient auch dazu, das Unternehmen nach aussen darzustellen. «Die Lehrlinge sind unsere besten Influencer», erklärt Zwyssig. So tragen bereits die heutigen Lehrlinge dazu bei, das Unternehmen bei einem noch jüngeren Publikum bekanntzumachen.
Weniger Lust auf Bau und Gastro
Die beiden Beispiele zeigen: Die Betriebe müssen sich etwas einfallen lassen, um als Arbeitgeber und Ausbildner attraktiv zu sein. Ein guter Ruf spricht sich herum, ein schlechter ebenfalls.
Gleichzeitig zeigt sich, dass der Lehrlingsmangel je nach Branche und Betrieb unterschiedlich stark ausgeprägt ist. Schwierigkeiten, Lehrstellen zu besetzen, haben vor allem das Gastgewerbe, die Hotellerie und das Baugewerbe.
Überraschend ist das nicht. Im Baugewerbe ist körperlich harte Arbeit angesagt, dazu ist man häufig Wind und Wetter ausgesetzt. In der Gastronomie kann der Kontakt mit vielen Menschen zwar Freude machen. Herumgesprochen hat sich aber auch, dass in manchen Küchen ein rauer Ton herrscht und man arbeitet, wenn die anderen frei haben.
Zudem sind die Löhne unterdurchschnittlich, die Aufstiegschancen limitiert. Viele Jugendliche orientieren sich deshalb in Richtung Informatik. Dort sind die Lehrstellen in aller Regel am frühesten vergeben. Und auch die Löhne nach der Berufslehre am höchsten. Weiter beliebt sind bei den Jugendlichen auch die Bereiche Bildung und Soziales, Planung und Konstruktion sowie Wirtschaft und Verwaltung.
Viele Bewerbungen erhalten vor allem grosse Firmen mit bekannten Namen und vielen unterschiedlichen Abteilungen, die eine breite Ausbildung versprechen. Kleinere Handwerksunternehmen hingegen müssen sich mehr anstrengen, um gute Lehrlinge zu gewinnen.
Weiterbildung im Nebenjob
Wie attraktiv die Lehre ist, hängt auch von der langfristigen Perspektive ab. Verfechter der Berufslehre loben die Durchlässigkeit des Schweizer Bildungssystems. Nach der Lehre ist das Ende der Fahnenstange noch keineswegs erreicht. Stattdessen stehen den jungen Berufsleuten die Türen offen für die Höhere Berufsbildung (HBB); mit einer Berufsmatur beziehungsweise Passerelle öffnet sich auch der Weg zu den Fachhochschulen beziehungsweise universitären Hochschulen.
Wer beispielsweise die Ausbildung zur FAGE (Fachfrau/-mann Gesundheit) absolviert hat, kann sich an einer HF (Höhere Fachschule) oder FH (Fachhochschule) zur Pflegefachkraft ausbilden lassen. Verbunden ist das allerdings mit Aufwand und Kosten. Die Ausbildung dauert zwei Jahre, voll arbeiten kann man während dieser Zeit nicht. «Statt eigenes Geld zu verdienen, musst du vielleicht wieder zurück und bei den Eltern wohnen», sagt Pia Albin, die mit einem Abschluss als Master of Science in Nursing am Unispital Zürich arbeitet.
Immerhin übernehmen die Spitäler häufig die Kosten der Ausbildung und fangen teilweise auch den Einkommensverlust auf. Sofern das der Fall ist, ist die finanzielle Situation der jungen Berufsleute dann nicht schlechter als bei Hochschulstudenten.
Die Kosten der Weiterbildung waren auch für Valeria Miggiano ein Thema. Sie hat nach der KV-Lehre und einer Weiterbildung an der HFW (Höhere Fachschule für Wirtschaft) in Betriebswirtschaft im Herbst 2021 noch einen Lehrgang zur diplomierten Treuhandexpertin angeschlossen. Die Ausbildung kostet über drei Semester 21 900 Franken. Die Hälfte des Betrages kann der Kandidat oder die Kandidatin zurückfordern, wenn er oder sie sich für die Abschlussprüfung anmeldet. Häufig übernehmen die Arbeitgeber sogar die ganzen Kosten; im Gegenzug verpflichten sich die Kandidaten dafür, für eine gewisse Zeit in dem Betrieb zu bleiben.
Um neben der Arbeit Zeit für die Ausbildung freizuschaufeln, reduzierte Miggiano ihr Pensum vorübergehend auf 80 Prozent, anstrengend war das Programm dennoch. Im Vergleich dazu mag vielen das Studium als der angenehmere Weg erscheinen. Die Studiengebühren sind niedrig, an ein eigenes Einkommen hat man sich noch nicht gewöhnt.
Trotzdem sagt Miggiano heute: «Ich finde es super, dass man in der Schweiz eine solche Ausbildung berufsbegleitend machen kann.» Sie sei zwar schon erschrocken gewesen, dass ein befreundeter Student im Semester nur so viel Studiengebühren gezahlt habe wie sie pro Monat. «Aber für mich wäre das nicht infrage gekommen.» Man lebe doch anders, wenn man während der Weiterbildung Geld verdiene und nicht als Studentin durchkommen müsse.
Abstimmen mit den Füssen geht bei den Jungen schneller
Thomas Bolli von der Professur für Bildungssysteme bei der ETH Zürich warnt deshalb davor, die Berufslehre und die höhere Berufsbildung schlechtzureden. Eine Krise der Berufslehre sieht er nicht. Es sei höchstens so, dass einige Berufe beliebter seien als andere. Das lasse sich auch am Bewerbungsverhalten ablesen. In den populären Berufsgruppen werden die Lehren frühzeitig besetzt, bei weniger populären Berufsfeldern häufig erst später, wenn die Bewerber merken, dass es mit dem Traumberuf nicht klappt.
Was sich aber jetzt schon zeigt: Der demografische Wandel ist bei den Lehrlingen besonders akut, denn am unteren Ende des Altersspektrums ist der Geburtenrückgang am weitesten fortgeschritten. Wenn es weniger junge Leute gibt als Lehrstellen, haben die Schulabgänger mehr Optionen und stimmen mit den Füssen ab.
Gewinner sind diejenigen Unternehmen, die eine interessante Tätigkeit und eine gute Karriereperspektive bieten. Wer hingegen weder mit einer attraktiven Branche noch mit einem guten Arbeitsklima punktet, wird es schwer haben, guten Nachwuchs zu finden.