Pendeln kostet Zeit, Geld und Nerven: Warum machen es dann trotzdem immer mehr Leute?Niemand pendelt gerne, und doch werden die Arbeitswege immer länger. Das Home-Office könnte diesen Trend paradoxerweise noch verstärken.
Niemand pendelt gerne, und doch werden die Arbeitswege immer länger. Das Home-Office könnte diesen Trend paradoxerweise noch verstärken.
Das Mühsamste an einem Arbeitstag ist manchmal der Hin- und Rückweg. Der Zug ist voller Menschen, wegen einer Verspätung klappt der Anschluss nicht, das Auto steht wieder einmal im Stau.
Je nachdem wie weit das Büro von zu Hause entfernt liegt, kann Pendeln den Arbeitstag ganz schön in die Länge ziehen. Ende Oktober sorgte in den sozialen Netzwerken ein Video für Aufsehen, in dem eine amerikanische College-Absolventin sich über ihren Arbeitsweg beklagte. «Ich nehme um 7 Uhr 30 den Zug und komme um 18 Uhr 15 nach Hause. Ich komme zu gar nichts mehr. Wenn ich von zu Hause arbeiten könnte, wäre das ja okay, aber das geht nicht.»
«Niemand pendelt gerne», so bringt Wolfgang Dauth, Leiter des Forschungsbereiches Regionale Arbeitsmärkte am Nürnberger Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, die Situation auf den Punkt. Und doch tun es fast alle: 8 von 10 Schweizer Erwerbstätigen sind Pendler, das heisst, sie verlassen für die Arbeit ihr Zuhause. Der mittlere Zeitbedarf für einen einfachen Arbeitsweg liegt bei 29 Minuten, ein durchschnittlicher Schweizer Angestellter verbringt also eine Stunde pro Tag mit Pendeln.
Pendeln kann auch Vorteile haben
«Pendeln ist ein Übel, aber ein notwendiges Übel», sagt Wolfgang Dauth. Denn der lange Arbeitsweg biete auch Vorteile – etwa mehr Möglichkeiten bei der Berufswahl. Wer bereit sei, eine längere Anfahrt auf sich zu nehmen, könne Berufe ergreifen, die besser zu einem passten und besser bezahlt seien.
Ob Menschen eher bereit sind zu pendeln oder für einen Job umzuziehen, hängt auch von Faktoren ab, die sie möglicherweise an ihren Wohnort binden – dem sogenannten «ortsspezifischen Kapital». Wer Kinder, Wohneigentum oder einen berufstätigen Partner hat, kann weniger leicht für einen neuen Job umziehen und nimmt deswegen einen längeren Anfahrtsweg in Kauf.
Laut den Soziologen Heiko Rüger und Natascha Nisic trägt die steigende Zahl von Doppelverdienerpaaren massgeblich zum erhöhten Pendelaufkommen bei. Wenn berufstätige Paare zusammenziehen wollten, stünden sie oft vor einem «sozialen Dilemma»: Selbst wenn es gute Gründe gibt, die für einen bestimmten gemeinsamen Wohnort sprechen, will keiner von beiden berufliche Einbussen in Kauf nehmen. Die Folge sind Kompromisse, bei denen mindestens ein Partner über eine grössere Distanz pendelt. Je gleichwertiger und höher die Einkommens- und Karrierechancen, desto schwieriger werde ein gemeinsamer Umzug, so die Soziologen.
Die zurückgelegten Distanzen werden grösser
Der gesellschaftliche Wandel zeigt sich auch in den zurückgelegten Pendeldistanzen: Während 1990 noch 58 Prozent der Schweizer Pendler für die Arbeit ihre Wohngemeinde verliessen, waren es 2021 bereits 71 Prozent. 19 Prozent verliessen sogar den Kanton. Hier macht sich auch bemerkbar, dass immer mehr Jobs in grossen Städten zu finden sind, während der Wohnraum dort immer teurer wird.
Wer keine familiären und privaten Verpflichtungen habe, könne das Pendeln aber auch als «Auszeit» vom Alltag wahrnehmen, so Nisic und Rüger. Pendelzeit kann schliesslich auch Mussezeit sein – Zeit, um ein Buch zu lesen, Radio zu hören oder einfach aus dem Fenster zu sehen und die Gedanken schweifen zu lassen.
Dennoch ist klar: Ein langer Arbeitsweg verursacht Kosten. Zu den offensichtlichen wie Ausgaben für ein Nahverkehrsabo oder für Benzin kommen externe Kosten wie die zusätzliche Umweltbelastung, die durch die Fahrten entsteht. 53 Prozent der Schweizer Pendler nutzen für den Arbeitsweg das Auto, 27 Prozent den öV. Doch auch wer mit dem Fahrrad fährt, muss Einbussen in Kauf nehmen. Denn Pendeln kostet neben Zeit auch Nerven.
Kontrollverlust sorgt für Stress
Der Zusammenhang zwischen dem Pendelweg und der Stressbelastung wurde bereits in zahlreichen Studien untersucht – mit dem Ergebnis, dass Faktoren wie Verkehr, Lärm und ungeplante Verspätungen das Stress- und Müdigkeitsempfinden der Arbeitnehmer deutlich erhöhen. Zu den beobachteten Symptomen gehören gesteigerte Reizbarkeit, ein höherer Blutdruck, geringere kognitive Leistungen oder sogar Angststörungen. Eine wichtige Rolle spielt laut Psychologen der Kontrollverlust: Man fühlt sich dem Verkehr und den Zugverbindungen hilflos ausgeliefert und kann bei Verspätungen nicht selbst beeinflussen, wann man mit der Arbeit beginnt oder nach Hause kommt.
Doch nicht alle Pendler leiden gleich: Frauen nehmen das Pendeln laut Nisic und Rüger stärker als Belastung wahr als Männer. Dies, obwohl Frauen im Schnitt sogar weniger weit pendeln. Wolfgang Dauth erklärt das Phänomen mit den jeweiligen Opportunitätskosten: «Laut einer französischen Studie wären Männer bei einer Gehaltserhöhung ab durchschnittlich 12 Prozent bereit, die doppelte Pendeldistanz zurückzulegen, Frauen erst bei einer Erhöhung von 15 Prozent.» Das dürfte damit zu tun haben, dass Frauen in vielen Familien den Hauptteil der Kinderbetreuung übernähmen, so Dauth. Die Zeit, die fürs Pendeln draufgehe, fehle ihnen dafür dann.
Home-Office als Lösung?
Die Möglichkeit zum Home-Office kann jedoch einen wichtigen Beitrag dazu leisten, die Kosten des Pendelns zu minimieren. Wer komplett von zu Hause arbeiten kann, kann schliesslich überall wohnen. Aber auch die Möglichkeit, etwa die Hälfte der Woche von zu Hause zu arbeiten, hilft bereits, die Situation zu entspannen. Laut einer Studie der Stanford University haben Arbeitnehmer unter anderem deswegen das Gefühl, im Home-Office produktiver zu sein, weil die Anfahrt zur Arbeit wegfällt – und sie so in derselben Zeit mehr erledigen können.
Remote Work bietet Paaren mehr Möglichkeiten, ihren Alltag und die Betreuung der Kinder zu organisieren oder sich vielleicht sogar den Traum vom Leben auf dem Land zu ermöglichen, wo auch die Mieten günstiger sind. «Wenn man plötzlich die Möglichkeit hat, etwa nur noch an zwei Tagen die Woche ins Büro kommen zu müssen, steigt auch die Distanz, die man bereit ist, zu pendeln», sagt Wolfgang Dauth. Das sehe man bereits jetzt: Bei Beschäftigungsverhältnissen, die seit 2021 eingegangen worden seien, sei die durchschnittliche Entfernung zwischen Wohn- und Arbeitsort gestiegen – aber nur in Berufen, die auch von zu Hause aus erledigt werden könnten.
Paradoxerweise führt das Home-Office also dazu, dass die durchschnittlichen Pendeldistanzen steigen. Es sorgt aber auch dafür, dass die Fahrtzeit produktiver genutzt werden kann: So kann man im Zug den Laptop aufklappen und schon einmal E-Mails beantworten oder eine Präsentation vorbereiten. Wer sich für den Weg zur Arbeit etwas zu tun mitnehme, sei zufriedener, sagte Vanessa Bohns, Professorin für Organisationsverhalten an der Cornell University, gegenüber dem «Wall Street Journal». Wenn man schon pendeln muss, dann soll es sich wenigstens lohnen.
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