Stress schadet dem Gehirn: Langfristig macht er uns dümmer Wenn die Nerven im Alltag immer schneller blank liegen, ist das ein Zeichen, dass der Körper eine Pause braucht. Denn andauernde Belastung lässt die Nervenzellen verkümmern. Doch es gibt ein frühes Warnsignal: Wenn wir plötzlich mehr vergessen, dann braucht das Gehirn Erholung.
Wenn die Nerven im Alltag immer schneller blank liegen, ist das ein Zeichen, dass der Körper eine Pause braucht. Denn andauernde Belastung lässt die Nervenzellen verkümmern. Doch es gibt ein frühes Warnsignal: Wenn wir plötzlich mehr vergessen, dann braucht das Gehirn Erholung.
Hirnforscher betrachten gerne das eigene Gehirn. Manchmal finden sie dort Unerwartetes. Das zeigt der Fall einer jungen Wissenschafterin, die vor gut zehn Jahren in Kalifornien forschte. Die 32-Jährige war rund um die Uhr beschäftigt: Tagsüber untersuchte sie die Gehirne ihrer Versuchspersonen. Nachts kümmerte sie sich um drei kleine Kinder. Bis sie einmal die neuesten Bilder ihres eigenen Hirns auf den Bildschirm zog und stutzte.
Auf der Höhe der Ohren, in der Mitte des Gehirns, war ihr Gedächtnisorgan klar erkennbar. Und dieser sogenannte Hippocampus war eindeutig geschrumpft. Das passte zwar zur Beobachtung, dass sie in letzter Zeit vergesslicher war. Schliesslich war sie stark ausgelastet, und erholen konnte sie sich kaum. Doch sie war kerngesund. Dass eine solche Veränderung im Gehirn mit blossem Auge sichtbar war, schockierte sie.
Was Adrenalin und andere Stresshormone auf Dauer mit der Psyche und dem Gehirn anrichten können, ist inzwischen gut erforscht. Weniger wissen wir darüber, wie sich solche Veränderungen wieder beheben lassen. Doch es war genug, um die junge Wissenschafterin zuversichtlich zu stimmen. Und schliesslich half es ihr, das eigene Gedächtnis wieder herzustellen.
Das Gehirn von Mäusen wird mit Stresshormonen geflutet
«Chronischer Stress macht dümmer», pflegte der amerikanische Neurowissenschafter Bruce McEwen zu sagen. Er untersuchte in den 1980er Jahren an der Rockefeller-Universität in New York die Wirkung von Stress auf die Nervenzellen. McEwen setzte seine Labormäuse gehörig unter Stress – sozialen Stress. Dafür züchtete er besonders aggressive Mäuse und liess sie später auf friedlichere Tiere los.
Nicht dass die Mäuse in solchen Experimenten tagelang miteinander gekämpft hätten. Kein Tier sollte sich verletzen. Pro Tag trafen die Mäuse sogar nur zweimal kurz aufeinander. Den Rest der Zeit verbrachten sie in separaten Käfigen. Trotzdem blieben die friedlichen Tiere gestresst. Denn durch die dünne Trennwand zwischen den Käfigen konnten sie das dominante Tier riechen.
Der dauernde Alarmzustand veränderte das Verhalten der Tiere, und sie lernten schlechter. Etwa fanden sie den richtigen Weg zum Futter in einem Labyrinth nur langsam und hatten beim nächsten Mal gar vergessen, wo es langging. Beides ist eine Folge der Glucocorticoide, der Stresshormone, die zu lange auf das Gehirn der Mäuse wirkten.
Gehirnzellen verlieren ihre Verästelung
In der freien Wildbahn würden die sanften Tiere sofort fliehen – auch dank den Stresshormonen, die ihr Körper freisetzt. Für kurze Zeit wären sie alarmiert, und ihr Herz würde schneller schlagen. Aufmerksam und flink könnten sie so der Gefahr ausweichen. Dann würde ihr Körper die Hormone wieder abbauen und deren Herstellung drosseln.
Doch im Versuchslabor haben die friedlichen Mäuse keinen Ausweg. Und die Stresshormone bleiben viel länger im Körper, als es für die Tiere gesund ist. In der Gedächtnisregion des Gehirns finden diese Botenstoffe besonders viele Andockstellen. Deswegen entfalten sie dort ihre schädliche Wirkung zuerst.
Schon wenige Tage nach Beginn eines solchen Experiments verlieren die Nervenzellen im Hippocampus einen Teil ihrer Verästelung – und damit die Stellen der Verbindung zu anderen Nervenzellen. Und weil die Tiere schlechter lernen, bleiben sie gewissermassen auch dümmer.
Der Mensch lässt sich auch von Sorgen und Ängsten stressen
Ob die Zellen im Gehirn der eingangs erwähnten Forscherin genauso verkümmerten? Der Biologe Robert Sapolsky wählt eine vorsichtige Formulierung, wenn er schreibt: «Chronischer Stress macht uns vergesslich. Es besteht zumindest die Möglichkeit, dass die Nervenzellen auch beim Menschen Schaden nehmen.» Er ist ein Schüler des Stressforschers McEwen und forscht schon seit gut drei Jahrzehnten an der Stanford University in Kalifornien.
Weil im Gehirn von lebenden Menschen nicht einzelne Zellen untersuchbar sind, können Forscher nur die Grösse des Hippocampus vermessen. Dieser besteht aus gut zwei Millionen Nervenzellen. Immerhin ist es – anders als bei Versuchstieren – leichter, die gestressten Forschungssubjekte zu finden. Denn chronischer Stress ist bei modernen Menschen häufig. Das zeigt nur schon die weite Verbreitung von stressbedingten Krankheiten wie Schlafstörungen, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes, Depressionen oder Ängsten.
Die Chance ist gross, dass bei einem chronisch gestressten Patienten das Gedächtnisorgan im Gehirn mit der Zeit schrumpft. Das schreibt die französische Neuropsychologin Sonia Lupien zusammen mit Bruce McEwen in einer aktuellen Übersichtsarbeit. Und das wiederum sei auf das ständig wirksame Cortisol im Körper des gestressten Menschen zurückzuführen.
Der Mensch hat mehr Gelegenheit, unter Stress zu leiden, als unsere tierischen Mitlebewesen. Das behauptet zumindest der sonst eher vorsichtige Biologe Sapolsky in seinem Buch, dessen Titel sinngemäss lautet «Zebras bekommen kein Magengeschwür». Unbestritten ist zudem, dass wir uns Gefahren in der Zukunft vorstellen können. Und so kommen zur Liste der Stressoren beim Menschen noch Sorgen und Ängste wegen Bedrohungen, die möglicherweise gar nie eintreten: Börsenverluste etwa. Dass sich Zebras darüber nicht den Kopf zerbrechen, leuchtet ein.
Auch wenn unklar bleibt, was mit den Nervenzellen im Gedächtnis des Menschen geschieht: Erste Hinweise, wie wir gegen die stressbedingte Verdummung ankämpfen können, kommen aus der Humanforschung. Denn es gibt die gesunden Menschen, in deren Blut trotz wenig Stress hohe Mengen an Cortisol schwimmen. Häufig bewegen sich diese Menschen im Alltag kaum oder verzichten gar gänzlich auf Sport. Wie mehr Bewegung die Stresshormone abbauen kann und so das Gehirn regeneriert, zeigt die neuere Forschung an dauergestressten Mäusen.
Das Gehirn kann sich nur teilweise vom Stress erholen
Bewegung schützt die Nervenzellen im Gehirn der Mäuse vor Stress. Verantwortlich dafür ist das Protein BDNF (brain-derived neurotrophic factor). Es wirkt als wahres Wundermittel in den grauen Zellen und sorgt dafür, dass deren Verästelungen erhalten bleiben. Und wie viel BDNF im Gehirn verfügbar ist, das können wir steuern. Das zeigen Ergebnisse aus dem Mäuselabor.
Je mehr sich die gestressten Mäuse in ihrem Käfig bewegen dürfen, desto mehr BDNF steht bereit und lässt die Zellen wieder spriessen. Mehr noch, dank BDNF können aus sogenannten Vorläuferzellen neue Nervenzellen heranreifen. Das allein müsste uns alle dazu bewegen, täglich mehr zu Fuss zu gehen.
Ob im Gedächtnisorgan des Menschen auch neue Zellen wachsen können, das ist hingegen eine offene Frage. Das optimistische Lager unter den Stressforschern lässt verlauten: Bis zu 700 neue Nervenzellen entstehen täglich im Hippocampus. Erst mit dem Alter sinken diese Zahlen. Andere Wissenschafter bemängeln, die Messmethoden seien ungenau und könnten nur Veränderungen der bestehenden Neuronen abbilden. Dass hingegen mit der Hilfe von BDNF auch beim Menschen die Zellen wieder spriessen, gilt unter Forschern als belegt.
Klar ist: Bewegung erhöht auch beim Menschen das Wundermittel BDNF im Gehirn. Das zeigt etwa eine im Fachjournal «PNAS» publizierte Studie. Und die Folgen im Gehirn sind messbar. Bei älteren Menschen wächst der Hippocampus wieder um bis zu zwei Prozent, vorausgesetzt, sie führen konsequent dreimal wöchentlich ihre Aerobic-Übungen aus, so die Studie. Ob dies auch bei gestressten jungen Menschen möglich ist, das bleibt noch zu untersuchen.
Ein Freipass, um das Gehirn bedenkenlos mit Stress zu malträtieren, sind diese Ergebnisse gleichwohl nicht. Denn funktioniert der Mensch nur annähernd gleich wie die Maus, so bleiben selbst neugebildete Nervenzellen langfristig belastet. Das frisch erholte Gedächtnisorgan lernt zwar so gut wie vor dem Stress. Aber die Zellen geraten umso schneller wieder in den Stressmodus.
McEwen, der Urvater der Stressforschung, prägte dafür den Begriff der allostatischen Last: Sie steigt mit jeder Stressphase des Lebens. Es braucht dann immer weniger neuen Stress, um das System wieder aus der Balance zu bringen.
Ausgestattet mit diesem Wissen, begann die junge Forscherin aus Kalifornien wieder regelmässig zu joggen und gönnte sich fortan auch tagsüber mal eine halbe Stunde Schlaf. Über Vergesslichkeit kann sie sich nun nicht mehr beklagen. Ob in ihrem Gehirn auch der Hippocampus wieder gewachsen ist, das wissen wir leider nicht.
Eveline Geiser, «Neue Zürcher Zeitung»