Spätestens 2026 erhalten Rentner mehr AHV – oder doch nicht? Das Parlament hat wenig Zeit, um die 13. Rente umzusetzen. Was passiert, wenn seine Vorlage zu spät kommt oder an der Urne scheitert? Eine «Durchsetzungsklausel» gibt es nicht.
Das Parlament hat wenig Zeit, um die 13. Rente umzusetzen. Was passiert, wenn seine Vorlage zu spät kommt oder an der Urne scheitert? Eine «Durchsetzungsklausel» gibt es nicht.
So viele Fragen, so wenige Antworten: Die Medienkonferenz von Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider nach der Abstimmung vom Sonntag war kurz und unergiebig. Die Sozialministerin vermittelte nicht den Eindruck, sie und ihre Fachleute hätten sich ernsthaft darauf vorbereitet, dass das Volk an diesem Tag einen Ausbau der AHV beschliessen könnte.
Das ist umso erstaunlicher, als der Zeitdruck gross ist: Bereits ab 2026 haben die Pensionierten Anspruch auf höhere Renten. So steht es nun in der Verfassung. Aber was passiert, wenn das Parlament nicht rasch genug eine gesetzliche Umsetzung zustande bringt – oder wenn das Volk diese an der Urne verwirft?
Ein solches Szenario ist durchaus plausibel. Wenn die Vorlage nicht aufgeteilt wird, was seltsam wäre, muss sie auch die Finanzierung der höheren Renten klären. Somit wird sie zwangsläufig unpopuläre Massnahmen enthalten wie eine Erhöhung der Steuern, der Lohnabzüge oder des Rentenalters. Dass eine solche Reform an der Urne scheitern kann, liegt auf der Hand. Frei nach Machiavelli wäre sogar denkbar, dass manche Kräfte die Vorlage bewusst überladen, um sie abstürzen zu lassen. In diesem Fall stünde der Bund Ende 2025 ohne Umsetzungsgesetz da.
Das Gesetz geht vor
Wäre auch in diesem Fall sichergestellt, dass Rentnerinnen und Rentner ab 2026 mehr Geld erhalten? Politisch ist der Fall klar: Der Ärger im Land wäre riesig, wenn der Ausbau länger auf sich warten liesse, nach diesem deutlichen Volksentscheid erst recht. Aber was gilt rechtlich, wenn es hart auf hart geht, wenn die Vorlage im Parlament oder an der Urne scheitert?
So eindeutig, wie man meinen könnte, ist die Sache nicht. Die Meinungen unter Staatsrechtlern gehen auseinander, wie eine Umfrage zeigt. Professor Andreas Glaser sieht beträchtliche Unsicherheiten: Zwar sei die neue Verfassungsbestimmung unmittelbar anwendbar, was dafür spräche, dass die höheren Renten in jedem Fall ab 2026 fliessen müssten. Aber Glaser sieht ein anderes Problem: Die Initiative verändert lediglich die Übergangsbestimmungen der Verfassung. Daraus lasse sich ableiten, dass sie keine dauerhafte Anordnung beabsichtigte, sondern eine gesetzliche Regelung voraussetze. An einer Stelle bezieht sich der neue Artikel explizit auf «das Gesetz».
Glasers Fazit: «Ich würde bei rechtlich-formaler Betrachtung dazu neigen, dass 2026 keine 13. Rente ausbezahlt werden muss, wenn das Gesetz vorher nicht geändert wird.» Der Hintergrund: Die Schweiz kennt auf Bundesebene kein Verfassungsgericht. Bei Widersprüchen haben Gesetze Vorrang. Nach Glaser folgt daraus: Wenn das AHV-Gesetz, das heute keine 13. Rente vorsieht, nicht geändert wird, ist es zwar verfassungswidrig, geht aber der neuen Übergangsbestimmung der Verfassung vor. Will heissen: Die Pensionierten müssten sich gedulden, der Rentenzuschlag käme erst später.
«Der Initiativtext ist sehr geschickt gemacht»
Anders sieht es Professor Thomas Gächter: Für ihn steht fest, dass die höheren Renten in jedem Fall ab 2026 ausbezahlt werden müssen, auch wenn die gesetzliche Umsetzung scheitern sollte. «Der Initiativtext ist sehr geschickt gemacht», sagt Gächter. Er knüpfe direkt an den Monatsrenten an, die im AHV-Gesetz definiert seien. Und er sei so konkret formuliert, dass er auch ohne Änderung des Gesetzes anwendbar sei. Die einzige Ausnahme betrifft nach Gächter die Ergänzungsleistungen, bei denen eine Gesetzesrevision zwingend sei. Doch dies könne man notfalls auch später nachholen.
Der Kern der Initiative hingegen – die Auszahlung der höheren Renten – muss und kann laut Gächter fristgerecht umgesetzt werden. Hier seien nur technische Fragen zu klären. Wenn eine gesetzliche Umsetzung misslinge, könne der Bundesrat dies problemlos in eigener Kompetenz mit einer Verordnung erledigen.
Dies allerdings ist umstritten. Viele Initiativen umfassen eine Art «Durchsetzungsklausel»: Sie beauftragen explizit den Bundesrat, das Begehren mit einer Verordnung umzusetzen, falls die gesetzliche Umsetzung zu spät kommt. Im Initiativtext zur 13. Rente aber fehlt eine solche «Ermächtigung». Hat der Bundesrat trotzdem die Kompetenz, die Rentenerhöhung entgegen dem Wortlaut des Gesetzes mittels Verordnung durchzusetzen? Andreas Glaser hat grosse Zweifel daran. Auch Professor Markus Kern, ein weiterer Staatsrechtler, geht davon aus, dass dieser Weg verbaut ist, weil eine klare Basis dafür fehlt. Thomas Gächter hingegen ist überzeugt vom Gegenteil, zumal die Initiative dem AHV-Gesetz nicht widerspreche, sondern es ergänze.
«Chaos» vor Gericht?
Und falls die Politik keine Lösung findet, gibt es immer noch die Gerichte. Könnten Pensionierte auf dem Rechtsweg vorgehen, wenn sie die beschlossene Rentenerhöhung nicht spätestens Ende 2026 erhalten? «Ja», sagt Professor Felix Uhlmann, ein weiterer Staatsrechtler. Allerdings könnten sie sich erst nachträglich zur Wehr setzen: Wenn die Ausgleichskasse ihnen die Höhe ihrer Rente mittels Verfügung mitteilt, können sie diese anfechten – und am Ende würde der Streit vor Bundesgericht landen.
Wie die Sache dort ausgeht, ist umstritten. Andreas Glaser sieht keine Chance für die Kläger, weil Gesetze Vorrang vor der Verfassung haben. Markus Kern hingegen hält eine gerichtliche Einforderung für «denkbar», da der Anspruch in der Verfassung ausreichend klar definiert sei. Entscheidend sei, ob er als Ergänzung – und nicht als Widerspruch – zum geltenden Recht verstanden werde. Nach Kern wäre auch eine rückwirkende Umsetzung möglich. Allerdings bestünde damit das Risiko, dass manche Pensionierte sterben, ohne von der Rentenerhöhung profitiert zu haben.
Professor Uhlmann wiederum beurteilt die Chancen der Rentner vor Gericht positiv: «Im vorliegenden Fall würde ich erwarten, dass die Gerichte einen Weg finden, das Verfassungsrecht durchzusetzen, das nicht nur neuer ist, sondern auch bewusst vom Gesetz abweicht und direkt von einem Gericht angewendet werden kann.» Doch er betont, diese Frage sei bisher nie geklärt worden.
Uhlmann macht einen pragmatischen Vorschlag für den Fall, dass das Parlament untätig bleibt oder scheitert: Weil unklar ist, ob der Bundesrat das Problem mit einer Verordnung lösen darf, soll das Innendepartement eine schlichte Anweisung an die Ausgleichskassen erlassen. Darin müsste nur festgelegt sein, wie die Rentenerhöhung ausbezahlt wird. «Andernfalls droht ein Chaos», befürchtet Uhlmann: Tausende Pensionierte würden an die Gerichte gelangen, ihre Ansprüche würden sich mit der Zeit zu enormen Beträgen aufsummieren. «Und eine bewusste Beschneidung durch den Gesetzgeber wäre ein ziemlich eklatanter Verfassungsbruch.»
Notrecht ist heute keine Option – und später?
Fazit: Der AHV-Ausbau wird nicht nur politisch, sondern auch juristisch noch viel zu reden geben. In zwei Punkten aber sind sich die befragten Rechtsprofessoren einig:
- Über die Finanzierung darf der Bundesrat nicht entscheiden. Ob er die Rentenerhöhung notfalls in eigener Kompetenz umsetzen darf, bleibt umstritten. Hingegen ist laut einhelliger Fachmeinung ausgeschlossen, dass der Bundesrat bei dieser Gelegenheit die Finanzierung regeln könnte. Eine Erhöhung der Lohnbeiträge oder des Rentenalters an Volk und Parlament vorbei ist demnach unmöglich.
- Defizite sind in Kauf zu nehmen. Ob die Finanzierung der höheren Renten gesichert ist oder nicht, spielt politisch und praktisch eine grosse Rolle, rechtlich aber ist es irrelevant. Die Rentenerhöhung muss auch dann gewährt werden, wenn sie bei der AHV zu Verlusten führt.
Bleibt die Frage, die sich nach Corona und dem CS-Debakel aufdrängt: Könnte der Bundesrat mittels Notrecht eingreifen und als Ultima Ratio die Lohnbeiträge oder das Rentenalter anheben, um die AHV zu stabilisieren? Kurzfristig sicher nicht, sagen die Staatsrechtler, nur schon, weil der Zeitdruck fehlt.
Auch im schlimmsten Fall, wenn länger keine Reform gelingt, dauert es bis in die zweite Hälfte der 2030er Jahre, bis das Kapital des AHV-Fonds vollständig aufgebraucht ist. Bis dahin haben Politik und Volk grundsätzlich Zeit, die Probleme auf dem ordentlichen demokratischen Weg zu lösen.
Wenn sie es nicht schaffen, wird die AHV Schulden anhäufen wie einst die Invalidenversicherung (IV), einfach in ganz anderen Dimensionen. Bei der IV musste der AHV-Fonds als «Bank» einspringen. Bei der AHV wäre es wohl der Bund. Aber wie könnte er das Sozialwerk trotz Schuldenbremse Jahr für Jahr mit Milliarden versorgen? Kommt dann doch Notrecht? Es bleibt spannend, rechtlich – und politisch erst recht.