Weiter aufgeholt haben die Frauen. 2022 betrug der mittlere Lohn bei den Frauen 6397 Franken und lag damit 9,5 Prozent unter dem Niveau der Männer. 2020 waren es 10,8 Prozent gewesen, 2008 noch 16,6 Prozent. Unterhalb der Kaderstufen sind die Geschlechterdifferenzen geringer: 2022 lag der mittlere Lohn bei den Frauen laut Gewerkschaftsangaben noch knapp 6 Prozent unter dem Niveau der Männer. Welcher Anteil der jüngsten Differenzen durch gut erklärbare Faktoren wie Berufserfahrung, Ausbildung und Anforderungsprofil zu erklären ist, wird noch Gegenstand kommender Analysen sein.
Die Wohlstandsinsel lebt noch
Insgesamt haben die Lohnempfänger ihren Anteil am Gesamtkuchen (Bruttoinlandprodukt) gehalten oder sogar noch etwas ausgebaut. In den letzten dreissig Jahren lag der Anteil jeweils zwischen 55 und 60 Prozent. 1995 waren es 56 Prozent, 2010 gut 55 Prozent, 2022 gut 59 Prozent, und heuer dürften es laut Prognose der ETH Zürich knapp 60 Prozent sein.
Die Schweiz ist in Europa nach wie vor eine Wohlstandsinsel. Gemessen an der Kaufkraft der Durchschnittslöhne lag das Lohnniveau in der Schweiz 2022 um etwa 32 Prozent über dem Mittel der vier Nachbarländer (ohne Liechtenstein). Im Vergleich zu Deutschland war das Lohnniveau 24 Prozent höher. In Europa haben die Durchschnittslöhne nur in Luxemburg und Island eine noch höhere Kaufkraft.
Es geht den Schweizern im Mittel finanziell nicht nur besser als den Bewohnern in den meisten anderen Ländern, es geht auch besser als früher. Die Daten der Lohnstrukturerhebung für die Gesamtwirtschaft reichen zurück bis 2006. Laut diesen Daten lag die Kaufkraft des mittleren Lohns 2022 gut 9 Prozent über dem Niveau von 2006. Das entspricht im Durchschnitt einem Anstieg der Reallöhne um etwas über 0,5 Prozent pro Jahr.
Zu den Folgen des hohen Wohlstands zählen die hohe Einwanderung und der starke Franken. Eine weitere Folge ist die politische Gewichtsverschiebung: Im Vordergrund scheint vermehrt nicht mehr die Stärkung des Wirtschaftsstandorts zur Sicherung des künftigen Wohlstands zu stehen, sondern der Verteilungskampf. Politisch steht bei Lohn- und Einkommensdaten denn auch die Verteilung oft stark im Fokus. Die Wahrnehmung, wonach die Kluft zwischen oben und unten laufend grösser wird, wird vor allem von der politischen Linken einschliesslich der Medien gerne verbreitet.
Anstieg oben und unten
Die Daten zur Lohnstrukturerhebung seit 2006 zeigen ein positives Bild für die Lohnempfänger: Die Löhne sind oben, unten und in der Mitte gewachsen. Die hohen Löhne sind prozentual etwas stärker gewachsen als die tiefen Löhne, und die tiefen Löhne sind etwas stärker gewachsen als die mittleren Löhne. Im Gros der Lohnempfänger hält sich die Zunahme der Ungleichheiten in engem Rahmen. So wuchs seit 2006 die Kaufkraft bei den tiefen Löhnen um knapp 11 Prozent, bei den mittleren Löhnen um gut 9 Prozent und bei den hohen Löhnen um gut 12 Prozent. Der «Hochlohn» ist hier definiert als jenes Niveau, das 90 Prozent der Lohnempfänger unterschreiten, und als «Tieflohn» gilt hier das Niveau, das nur 10 Prozent unterschreiten. 2006 war der so definierte Hochlohn 2,68-mal so hoch wie der Tieflohn, 2022 betrug der Faktor 2,71 (vgl. Grafik).
Die Lohnstrukturerhebung erlaubt mangels Daten keine schlüssigen Aussagen zu den obersten paar Prozenten in der Lohnverteilung. Aussagekräftiger in diesem Punkt sind die AHV-Daten, die auf einer Vollerhebung beruhen. Eine Sonderauswertung der AHV-Daten zeigte jüngst, dass die Löhne in den obersten 2 Prozent während der letzten Jahrzehnte prozentual deutlich stärker gestiegen sind als weiter unten. Diese ungleiche Entwicklung zeigte sich auch innerhalb des obersten Prozents – ebenso wie innerhalb des obersten Promilles. Im Gesamtkontext fallen allerdings die obersten 2 Prozent statistisch wenig ins Gewicht.
Gemäss einer Datenbank der Universität Luzern zur Entwicklung der Einkommensungleichheiten auf Basis von Steuerdaten lag der Anteil des obersten Zehntels in den letzten fünfzig Jahren vor Steuern fast immer zwischen 30 bis 35 Prozent. 2022 waren es mit knapp 34 Prozent leicht mehr als 2001 (32,4 Prozent). Nach Steuern stieg in der gleichen Periode der Anteil des obersten Zehntels von knapp 29 auf gut 30 Prozent. Auch bei der Betrachtung der obersten 5 Prozent zeigt sich nur ein leichter Anstieg des Einkommensanteils.
Nochmals eine andere Betrachtung erlauben die Haushaltserhebungen des Bundesamts für Statistik. Diese zeigen gemessen an den Bruttoeinkommen ebenso wie an den verfügbaren Einkommen für die Periode 2000 bis 2021 höchstens einen kleinen Anstieg der Einkommensungleichheiten. Die Ungleichheit in der Schweiz liegt gemessen an den verfügbaren Haushaltseinkommen etwa im Mittel der OECD-Länder.
Verzerrte Wahrnehmungen
Die Einkommensungleichheiten scheinen sich weit weniger verändert zu haben als die Wahrnehmungen darüber. Das betonte Melanie Häner vom Institut für Schweizer Wirtschaftspolitik der Universität Luzern in der «NZZ am Sonntag». Sie verweist auf eine regelmässig durchgeführte internationale Erhebung zur subjektiven Einschätzung der Einkommensverteilung. Die jüngsten Daten aus jener Erhebung stammen von 2019. Für die Schweiz deuten diese Daten im Vergleich zu Befragungen von 2009 und von 1987 auf ein verstärktes Gefühl von Ungleichheiten und auf einen grösseren Wunsch nach staatlichen Umverteilungen. Eine Entwicklung, die sich laut Häner nicht mit den gemessenen Daten zur Einkommensungleichheit deckt.
Doch hier gilt ein alter Politikspruch: Die Wahrnehmung der Realität ist die Realität. Spektakuläre Fälle von Lohnexzessen auf den Chefetagen in Kombination mit der Lust der Medien für die Erzählung einer wachsenden Kluft zwischen Reich und Arm mögen den Boden für politische Verschiebungen bereitet haben.
Eine repräsentative Umfrage des Instituts GfS Bern von 2023 im Auftrag der SRG schien dieses Bild zu erhärten. «Das Wohlstandsgefälle zwischen Reich und Arm in der Schweiz ist zu gross»: 45 Prozent der Befragten zeigten sich «voll» einverstanden, und weitere 36 Prozent waren «eher» einverstanden. Dies ist allerdings mit Vorsicht zu geniessen, weil die Art der Fragestellung fast nach einer Zustimmung rief.
Einige Urnengänge der letzten Jahre deuten aber darauf hin, dass die Verteilung des Kuchens in der Wahrnehmung wichtiger geworden ist als dessen Erhalt und Wachstum. Das gilt nicht nur für das Volksverdikt von Anfang März zum Ausbau der AHV, sondern auch für drei Abfuhren an der Urne in den letzten Jahren für Steuerreformen, die den Unternehmensstandort Schweiz hätten stärken sollen. Der nächste Testfall wird im Juni der Urnengang über die Volksinitiative zum Ausbau der staatlichen Verbilligung der Krankenkassenprämien sein.
Hansueli Schöchli, «Neue Zürcher Zeitung»