Weniger Zuwanderung dank Schutzklausel? Die Schweizer Wirtschaft ist gespalten – muss aber bald Position beziehen Verbände und Politiker wünschen, dass der Bundesrat mit der EU über eine mögliche Begrenzung der Zuwanderung verhandelt. Die Wirtschaft ist allerdings uneins und ratlos, wie diese aussehen könnte.

Verbände und Politiker wünschen, dass der Bundesrat mit der EU über eine mögliche Begrenzung der Zuwanderung verhandelt. Die Wirtschaft ist allerdings uneins und ratlos, wie diese aussehen könnte.

(Bild: Timon Studler auf Unsplash)

Die Personenfreizügigkeit mit der EU soll uneingeschränkt gelten, und die Bedürfnisse der Unternehmen bestimmen den Umfang der Zuwanderung aus dem Staatenbund: Das schien lange Zeit die unverrückbare Haltung der Schweizer Wirtschaft zu sein.

Doch so eindeutig ist ihre Position nicht mehr, die Meinungen gehen bei diesem kontroversen Thema auseinander. Lanciert hat die Diskussion ausgerechnet der Verband Economiesuisse. Im Mai sagte dessen Direktorin Monika Rühl, dass man sich einen «Schutzmechanismus» gegen die hohe Zuwanderung aus der EU vorstellen könne. Die Initiative «Keine 10-Millionen-Schweiz!» hatte Economiesuisse offenbar aufgeschreckt. Rühls Aussage kam umso überraschender, als Vertreter von Economiesuisse kurz vorher noch betont hatten, wie wichtig die Personenfreizügigkeit mit der EU sei. Gibt es in der Schweiz mittlerweile eine Absetzbewegung davon?

Der Industrieverband Swissmem, der Unternehmen mit 330 000 Angestellten repräsentiert, möchte weiterhin auf einen Schutzmechanismus verzichten. Man teile zwar die Sorgen der Bevölkerung wegen der hohen Zuwanderung, sagt der Direktor Stefan Brupbacher. «Allerdings hängen diese Sorgen kaum mit der Personenfreizügigkeit zusammen.» Brupbacher fordert den weiteren Ausbau des öffentlichen Verkehrs sowie Erleichterungen bei den Baunormen, damit mehr Wohnungen gebaut werden.

Die Schweiz ist unter Zugzwang

Als die Verhandler der EU und der Schweiz im Dezember 2023 ein Common Understanding publizierten und so die Verhandlungsbasis legten für eine neue bilaterale Übereinkunft, war von einem Schutzmechanismus noch nicht die Rede. Die Angelegenheit kam erst auf das Tapet, als die Aussenpolitische Kommission des Nationalrats den Bundesrat bat, mit der EU auch über Artikel 14.2 des Freizügigkeitsabkommens (FZA) zu sprechen.

Konkret besagt dieser, dass «bei schwerwiegenden wirtschaftlichen oder sozialen Problemen» in der Schweiz «Abhilfemassnahmen» möglich seien. Beschliessen muss sie aber der gemischte Ausschuss EU – Schweiz, und gelten dürfen sie nur vorübergehend. Bisher ist der Artikel 14.2 allerdings noch nie angewendet worden. Wer einen Schutzmechanismus fordert, bewegt sich daher auf unbekanntem Terrain. So hat niemand eine Vorstellung davon, was «schwerwiegende Probleme» sein könnten; ebenso unklar ist, was «Abhilfemassnahmen» wären.

Doch der Bundesrat ist nun unter Zugzwang. Gegenüber der EU muss er Klarheit schaffen, denn er hat das Thema der Konkretisierung der Schutzklausel angestossen. EU-Vertreter geben sich derweil irritiert. Zumindest erwecken sie den Anschein, als bestünde aus ihrer Sicht kein Anlass, über die Zuwanderung zu verhandeln. Diese Haltung begründen sie mit dem Umstand, dass im Common Understanding nichts von einem Schutzmechanismus stehe.

Beim Schutzmechanismus stellen sich Detailfragen

Derweil sucht die Schweiz nach der Zauberformel. Denkbar wäre etwa, dass die Behörden die Zuwanderung begrenzen, wenn sie über einen längeren Zeitraum vom Durchschnitt der Binnenmigration in den EU- und Efta-Ländern abweicht. Weitere Variablen könnten die Formel verfeinern: etwa die Dynamik der Arbeitslosigkeit in der Schweiz im Vergleich mit der durchschnittlichen Arbeitslosigkeit in den EU-Ländern und vor allem der Bestand an EU-Ausländern.

Nur Luxemburg ist europäischer als die Schweiz. (Quelle: BFS, Eurostat, Grafik: NZZ / imr.)

Doch so stimmig diese Formel scheint, sie lässt Fragen offen. Wie hoch müsste etwa die Abweichung vom Durchschnitt in der EU sein, damit eine Begrenzung erlaubt wäre? Das ist nicht nur eine wirtschaftliche, sondern auch eine politische Frage, die in der Schweiz wohl heftige Diskussionen auslösen dürfte.

Kein Wunder, will diese Debatte derzeit niemand führen. Auch die Wirtschaft hat keine klaren Vorstellungen. Jan Atteslander, Bereichsleiter Aussenwirtschaft bei Economiesuisse, sagt, man nehme die Ängste in Teilen der Bevölkerung wegen der hohen Zuwanderung ernst. Economiesuisse begrüsse es, dass der Bundesrat die Schutzklausel in das Verhandlungsmandat aufgenommen habe. Was die Konkretisierung des Schutzmechanismus betrifft, schiebt der Verband die Verantwortung aber an die Politiker ab: «Wie sie genau aussehen soll, ist Aufgabe des Bundesrats», sagt Atteslander.

Scienceindustries schliesst sich der Position an. Der Verband für Chemie- und Pharmaunternehmen unterstützt das Anliegen des Bundesrats, Artikel 14.2 mit Inhalt zu füllen. Konkreter werden Verbandsvertreter aber nicht.

Für den Arbeitgeberverband hingegen stünden Massnahmen im Inland im Vordergrund, um die Folgen der Zuwanderung abzufedern, sagt Daniella Lützelschwab, die Leiterin des Bereichs Arbeitsmarkt. Sie nennt beschleunigte Asylverfahren, vereinfachte Baubewilligungen sowie eine bessere Ausschöpfung des inländischen Arbeitskräftereservoirs. Ähnliche Forderungen erheben auch Swissmem und Economiesuisse, und in der Politik werden sie ohnehin schon seit Jahren diskutiert.

Aber offensichtlich ist es mit der wiederholten Forderung nach besserer Nutzung des inländischen Arbeitskräftepotenzials nicht gelungen, den von der Wirtschaft beklagten Fachkräftemangel zu lösen. Auch bei der Liberalisierung der Bauvorschriften ist die Politik nicht weitergekommen, die Auflagen sind vielmehr immer schärfer geworden.

Zur Schutzklausel hält sich der Arbeitgeberverband derweil bedeckt – so wie Economiesuisse. Lützelschwab sagt lediglich: «Würde der Bundesrat eine solche konkretisieren, gälte es, sie neu zu beurteilen.» Diese Position ist allerdings widersprüchlich: Der Arbeitgeberverband kann sich zwar einen Schutzmechanismus vorstellen, gleichzeitig drängte der Verband aber darauf, dass der Bundesrat die Kontingente für Arbeitskräfte aus Drittstaaten 2025 nicht reduziert.

Bis Ende Jahr muss die Wirtschaft Farbe bekennen

Eine Schutzklausel birgt auf jeden Fall viel Konfliktpotenzial. Langwierige Bewilligungsverfahren, um Arbeitskräfte aus der EU anzustellen, werden die Firmen kaum akzeptieren. Schon beklagt sich etwa der Arbeitgeberverband, dass die Zulassungsverfahren für Arbeitskräfte aus Drittstaaten zu aufwendig seien.

Und nach welchem Kriterium verteilte man allfällige Kontingente, wenn solche infolge des Schutzmechanismus eingeführt würden, die Firmen aber weiterhin dringend Arbeitskräfte benötigten? Beat Imhof, der neue Präsident von Gastrosuisse, hebt hier bereits den Mahnfinger: «Neue Schutzmassnahmen dürfen nicht einseitig zulasten des Gewerbes gehen», sagt er.

Die EU und die Schweiz wollen die Verhandlungen bis Ende Jahr abschliessen, das haben die beiden Parteien jüngst erneut bekräftigt. Beim Thema Zuwanderung macht die EU Druck wie sonst bei keinem Dossier. Sie treibt die Schweiz zur Eile an. Spätestens wenn ein Vertragsentwurf vorhanden ist, wird die Wirtschaft Farbe bekennen müssen, wie sie es genau mit der Personenfreizügigkeit hält. Einen Schutzmechanismus so zu gestalten, dass er eine Wirkung entfaltet, sich aber mit der Personenfreizügigkeit vereinbaren lässt, ist ein schwieriges Unterfangen. Heisse politische Diskussionen sind garantiert.

Jannik Belser, Daniel Imwinkelried, Brüssel, «Neue Zürcher Zeitung»

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