Ein Viertel aller Preise steuert der Staat – niemand nimmt in Europa so stark Einfluss auf den Markt wie die Schweiz Hochpreisinsel Schweiz: Den Bundesrat stört dieser Spitzenplatz. Das Interesse, daran etwas zu ändern, ist aber klein.

Hochpreisinsel Schweiz: Den Bundesrat stört dieser Spitzenplatz. Das Interesse, daran etwas zu ändern, ist aber klein.

(Bild: Ph B auf Unsplash)

In den internationalen Rankings zur Wettbewerbsfähigkeit belegt die Schweiz regelmässig Spitzenplätze. Daraus darf man aber nicht den Schluss ziehen, dass auch der Wettbewerb in der Schweiz besonders intensiv ist. Das zeigt ein Blick auf die Rangliste jener Länder, in denen grosse Teile der Wirtschaft dem Preiswettbewerb entzogen sind. Auch hier liegt die Schweiz weit vorne, was ein wichtiger Grund für die hiesige Hochpreisinsel sein dürfte.

Drei-Viertel-Marktwirtschaft

Ob bei Stromkonsum, Arztbesuch oder Fahren im öffentlichen Verkehr: Wie viel es kostet, hängt vor allem vom Staat ab. Gemäss dem Landesindex der Konsumentenpreise (LIK) sind 25 Prozent aller Preise in der Schweiz administrativer Art. Das bedeutet: Jeder vierte Preis wird nicht vom Markt, sondern von Behörden oder regulierten Unternehmen festgelegt. Im Umkehrschluss heisst das: Die Schweiz ist mit Blick auf den Preiswettbewerb bestenfalls eine Drei-Viertel-Marktwirtschaft.

Gar noch höher liegt der Anteil administrierter Preise, wenn man den harmonisierten Verbraucherpreisindex (HVPI) heranzieht. Dieser Index wird vom statistischen Amt der EU (Eurostat) erhoben, wobei auch die Schweiz seit 2008 entsprechende Daten an die Luxemburger Behörde liefert. Dabei zeigt sich: In keinem anderen europäischen Land ist der Einfluss des Staates auf die Konsumpreise so hoch wie in der Schweiz.

Gemäss den EU-Statistiken sind in der Schweiz in diesem Jahr knapp 29 Prozent aller Preise staatlich administriert. Das ist ein mehr als doppelt so hoher Anteil wie im Durchschnitt aller EU-Staaten (12 Prozent). Sehr gross ist auch der Abstand zu den zweitrangierten Niederlanden (20 Prozent) und erst recht zu den Nachbarstaaten Frankreich (15 Prozent), Deutschland (13 Prozent), Österreich (9 Prozent) und Italien (7 Prozent).

Ein wichtiger Grund für den grossen Abstand liegt gemäss Bundesamt für Statistik im Gesundheitswesen, wo der Staat sowohl in der Schweiz als auch im Ausland eine grosse Rolle spielt. So wird in der Schweiz ein relativ hoher Teil der Gesundheitskosten privat finanziert, während diese Kosten im übrigen Europa stärker über allgemeine Steuern gedeckt werden. Die Folge: Der Anteil der Gesundheitskosten am HVPI ist in der Schweiz mit 16 Prozent deutlich höher als in der EU, wo er nur 5 Prozent beträgt.

Wenig Interesse an mehr Transparenz

Genau messen lässt sich das Phänomen aber nicht. Deshalb hat der FDP-Nationalrat Andri Silberschmidt diesen Frühling den Bundesrat in einem Postulat dazu aufgefordert, ein Inventar aller direkt oder indirekt administrierten Preise zu erstellen und dieses regelmässig zu aktualisieren. Nur so könne man einen Überblick darüber gewinnen, wo es an Marktdynamik mangle und wo mit mehr Wettbewerb und tieferen Preisen die Kaufkraft der Bevölkerung gestärkt werden könne.

Die Idee stiess in Bundesbern auf wenig Gegenliebe. Ja, man teile die Meinung, dass der hohe Anteil der administrierten Preise gesenkt werden solle, heisst es seitens des Bundesrates, der die Ablehnung des Postulats beantragt. Eine Analyse, wie vorgeschlagen, sei aber unrealistisch. So lägen viele staatliche Preise in der Kompetenz der Kantone und Gemeinden. Diese alle zu analysieren und regelmässig zu aktualisieren, sei mit «sehr hohem administrativem Aufwand und mit sehr begrenztem Mehrwert verbunden».

Wie gross der Mehrwert wäre, wüsste man wohl erst, wenn die Daten tatsächlich vorlägen. Ein hoher Aufwand wäre es zweifellos, alle administrierten Preise zu erfassen und zu analysieren. Denn die Grenzen zwischen freien und staatlichen Preisen sind meistens fliessend. So greift der Staat auf fast allen Märkten in irgendeiner Form in die Preisbildung ein, ob durch Steuern oder andere Formen der Regulierung. Wirklich freie Marktpreise sind in real existierenden Volkswirtschaften eher ein theoretisches Konstrukt.

So gibt es nicht nur Preise, die direkt von einer Behörde fixiert oder genehmigt werden, etwa im Gesundheitswesen. Hinzu kommen Preise von Unternehmen, die sich mehrheitlich in Staatsbesitz befinden, etwa die Swisscom, Post, SBB und Skyguide. Und dann gibt es Preise, die über Subventionen und Lenkungsabgaben indirekt beeinflusst werden, etwa Agrarprodukte und Zigaretten. Sehr komplex wird es, wenn auch noch Regulierungen wie technische Normen oder Verpackungs- und Deklarationsvorschriften mitberücksichtigt werden.

Der Inflationsverlauf wird geglättet

Die Komplexität und die Intransparenz sind gross. Vielen staatsnahen Politikern dürfte dies durchaus recht sein. Denn so werden die Kosten administrativer Eingriffe verschleiert, was dazu beiträgt, dass der öffentliche Aufschrei gegen überhöhte Preise nicht allzu laut wird. Daran ändert wenig, dass der Bundesrat in seiner Antwort auf das Postulat den Eindruck erweckt, die Schweiz verfüge mit dem Preisüberwacher über eine wirksame Instanz, um Missbräuche bei administrierten Preisen zu verhindern.

Wer die Kosten administrierter Preise quantifizieren will, stochert im Nebel. Niemand weiss, wie hoch die Preise wären, wenn bei Strom, Gas, Fernwärme oder Wasser der Markt stärker spielen würde. Oder wenn in den Sektoren Gesundheit, Verkehr, Landwirtschaft, Wohnen und Bildung mehr auf Kostenwahrheit gesetzt würde. Wobei administrierte Preise nicht grundsätzlich schlecht sind – vor allem dort nicht, wo Marktversagen vorliegt, beispielsweise im Umweltbereich.

Einfacher abschätzbar als die Kosten administrierter Preise ist deren Einfluss auf die Inflationsentwicklung. So zeigt sich, dass beim LIK die administrierten Preise weniger stark ausschlagen als die Marktpreise. Dies gilt in beide Richtungen, nach oben und unten. So bewegte sich die Inflation der administrierten Preise in den letzten zehn Jahren in einem relativ engen Band zwischen –1,1 Prozent und 3,1 Prozent. Der LIK ohne administrierte Preise schwankte dagegen stärker zwischen –1,9 Prozent und 4,3 Prozent.

Wie ist diese Trägheit zu erklären? Administrierte Preise werden in aller Regel nicht täglich dem Marktgeschehen angepasst, sondern bleiben über einen längeren Zeitraum gleich. Ein Beispiel sind die Schweizer Strompreise, die für die Privathaushalte nur einmal pro Jahr fixiert werden. Auch im Gesundheitswesen, im öffentlichen Verkehr oder im stark administrierten Wohnungsmarkt, wo der hypothekarische Referenzzins nur vierteljährlich festgesetzt wird, sind die Preise ziemlich starr.


Kein Rezept gegen hohe Inflation

Diese Starrheit hat dazu beigetragen, dass der Inflationsanstieg in der Schweiz verhalten ausfiel. Das hohe Gewicht administrierter Preise ist aber auch dafür verantwortlich, dass es länger dauert, bis ein genereller Preisrückgang bei den Konsumenten ankommt. Ein Beispiel: Nach der jüngsten Inflationswelle der Schweiz kehrten die Marktpreise im Mai 2023 wieder in den geldpolitischen Zielbereich zwischen null und zwei Prozent zurück. Bei den administrierten Preisen war dies erst im Oktober 2023 der Fall.

Wenn manchmal behauptet wird, die Inflation könne dank staatlichen Preisen gesenkt werden, ist das irreführend. Denn die Inflation wird dadurch nur zurückgehalten. Und wird ihre Entladung verhindert, führt dies entweder zu Angebotsverknappungen – ein Beispiel sind Mietpreisbremsen, die meist die Wohnungsnot verschärfen, die sie zu bekämpfen vorgeben. Oder die Kosten der unterdrückten Preissignale wandern in den Staatshaushalt und müssen später über höhere Steuern bezahlt werden – was auch eine Form von Inflation ist.

Thomas Fuster, «Neue Zürcher Zeitung»

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