Pensionskassen: Der wirkliche «Rentenbschiss» – von dem aber niemand spricht Die BVG-Reform führt zu neuen Ungerechtigkeiten: 400 000 Personen erhalten Zuschüsse, obwohl ihre Rente gar nicht sinkt. Das kostet Milliarden.
Die BVG-Reform führt zu neuen Ungerechtigkeiten: 400 000 Personen erhalten Zuschüsse, obwohl ihre Rente gar nicht sinkt. Das kostet Milliarden.
«Rentenbschiss» lautet das neue Schlagwort der Gewerkschaften. Diese Woche haben sie ihre Abstimmungskampagne gegen die Reform der beruflichen Vorsorge lanciert. Für die Versicherten sei die Vorlage ein «ganz schlechtes Geschäft», meinte Vania Alleva vor den Medien. Die Vizepräsidentin des Gewerkschaftsbundes klagte: «Das ist ein Rentenklau, anders kann man das nicht sagen.»
Die Empörung richtet sich gegen die geplante Senkung des Umwandlungssatzes für die Mindestrente. Dieser Satz ist wichtig, denn er definiert, in welche Altersrente das angesparte Kapital umgewandelt wird. Weil die Lebenserwartung steigt, muss der Satz sinken. Sonst sind die Pensionskassen gezwungen, Gelder von den Erwerbstätigen zu den Pensionierten umzuschichten.
Werden die Rentner mit der Reform «beklaut», wie das die Gewerkschaften suggerieren? Die Firma BSS Volkswirtschaftliche Beratung hat in einer Studie durchgerechnet, wie viele Personen von der Vorlage betroffen sind. Die grosse Mehrheit der Versicherten, rund 85 Prozent, gehört zu jenen Pensionskassen, die den Umwandlungssatz schon bisher gesenkt haben, um die Umverteilung von Jung zu Alt zu stoppen. Sie alle bleiben somit verschont.
Daneben gibt es gemäss BSS-Studie aber 170 000 Personen, die mit tieferen Renten rechnen müssen. Diese Zahl sei realistisch, bestätigt auch Roger Baumann, Gründungspartner des Vorsorgeberaters C-alm. «Diese Fälle hätte man zum Teil verhindern können. Dazu hätte das Parlament die Vorlage handwerklich geschickter erarbeiten müssen.»
Milliarden für Zuschüsse
Dass 170 000 Versicherten eine Einbusse droht, ist vor allem deshalb schwer zu erklären, weil die Reform kostspielige Zuschüsse plant, um genau solche Verluste zu verhindern. Dabei hat das Parlament mit der grossen Kelle angerichtet. Laut Schätzungen verschlingen diese Leistungen mehr als 11 Milliarden Franken.
Die Folge ist ein zweiter «Rentenbschiss», den die Gewerkschaften aber geflissentlich unter den Tisch wischen. Laut BSS-Studie profitieren nämlich 400 000 Versicherte von einem solchen Zuschuss – und dies, obwohl sie vom tieferen Umwandlungssatz gar nicht betroffen sind und ihre Rente entsprechend auch nicht sinkt.
Das liegt an den Kriterien, die ein Begünstigter laut Reform erfüllen muss. Die Zahlungen gehen ausschliesslich an eine Übergangsgeneration von 15 Jahrgängen. Im besten Fall sind es 2400 Franken pro Jahr – je näher vor der Pensionierung man steht, desto mehr Geld gibt es. Hinzu kommt als weiterer Faktor das angesparte Alterskapital: Liegt dieses unter 220 000 Franken erhält man den vollen Zuschuss. Bis 440 000 Franken nimmt der Betrag stufenweise ab. Darüber geht man leer aus.
Der PK-Experte Roger Baumann bezweifelt allerdings, dass eine solche Verteilung nach dem Giesskannenprinzip Sinn ergibt. «Viele Versicherte aus der Übergangsgeneration erhalten mit der BVG-Reform eine Zuwendung, die sachlich nicht gerechtfertigt ist. Offenbar wollte die Politik dem Volk einen Anreiz geben, damit dieses an der Urne für die Vorlage stimmt.»
Das Fragwürdige am geplanten Mechanismus: Von den Versicherten mit weniger als 440 000 Franken Alterskapital gehört nur eine Minderheit zu jenen Pensionskassen, die den Umwandlungssatz senken müssen. Ausserdem zählen auch viele Leute aus dieser Gruppe zur wohlhabenden Bevölkerung. Das gilt zum Beispiel für eine verheiratete Akademikerin, die wegen der Mutterschaft eine berufliche Pause eingelegt hat, oder für den Expat, der mit 50 in die Schweiz zog und deshalb weniger lang in die berufliche Vorsorge einzahlen konnte.
Schlimmer noch: «Die Regelung führt zu Fehlanreizen. Versicherte könnten versuchen, ihr PK-Guthaben bis 65 bewusst unter der Limite von 440 000 Franken zu halten», sagt Baumann. Wer sich dennoch in die Pensionskasse einkaufe oder das Arbeitspensum erhöhe, werde bestraft.
Hinzu komme ein grosser bürokratischer Mehraufwand, davor warnt der Experte. Bei vielen wichtigen Fragen sei das künftige Vorgehen noch völlig unklar: «Wie behandelt man zum Beispiel PK-Guthaben, die bei einer Scheidung übertragen wurden? Und wie verhindert man, dass Versicherte weitere, nicht deklarierte Freizügigkeitsgelder besitzen?»
Bei der Migros-Pensionskasse profitieren Tausende
Beim Gros der Pensionskassen kommt der von den Gewerkschaften beklagte Rentenklau ohnehin kaum vor. Denn ihre Leistungen gehen deutlich über das gesetzliche Obligatorium hinaus. So liegen der «NZZ am Sonntag» die Zahlen der Migros-Pensionskasse vor: Von den 51 000 erwerbstätigen Versicherten wären lediglich 23 von einer Senkung des gesetzlichen Umwandlungssatzes tangiert. Ganz anders sieht es bei den Zuschüssen aus: 19 000 Versicherte gehören zur Übergangsgeneration. 8000 von ihnen erhalten bei einer Annahme der Reform Ausgleichszahlungen, obschon ihre Rente gar nicht sinkt.
Die Migros-Pensionskasse will sich auf Anfrage nicht zur Vorlage äussern. Viele andere Kassen aber berichten von ähnlichen Verhältnissen – was in der Branche entsprechend zu Unmut führt. «Wir haben unsere Hausaufgaben gemacht und die Umverteilung von Jung zu Alt gestoppt», kritisiert der Leiter einer führenden Pensionskasse, der nicht namentlich genannt werden will. «Unsere Versicherten sind im Schnitt Mitte 30, und diese sollen jetzt das unsinnige Geschenk für die Übergangsgeneration bezahlen.»
Tatsächlich haben die Zuschüsse einen hohen Preis. Für die Finanzierung ist ein zusätzlicher Lohnabzug von anfänglich 0,24 Prozent oder maximal 339 Franken im Jahr geplant. Der PK-Experte Baumann geht davon aus, dass der Betrag über die Jahre weiter ansteigen wird. Die Gelder fliessen danach in den sogenannten Sicherheitsfonds, von wo sie an die jeweiligen Pensionskassen verteilt werden.
Doch wie kommt es, dass trotz dem teuren und aufwendigen System an Zuschüssen rund 170 000 Versicherte mit tieferen Renten rechnen müssen? Ein Teil dieser Personen sei bei der Konzeption der Vorlage «irgendwie vergessen» gegangen, erklärt Roger Baumann. Durch ihr Profil hätten diese Leute gleich doppelt Pech und würden zwischen Stuhl und Bank fallen.
Erstens gehören sie einer finanzschwachen Pensionskasse an, deren Leistungen nahe am gesetzlichen Obligatorium liegen. Es handelt sich also um jene 15 Prozent der Kassen, die den Umwandlungssatz nicht gesenkt haben. Zweitens haben sie mit ihrem Lohn im Bereich von etwa 75 000 bis 88 000 gerade so viel Alterskapital angespart, dass sie die Limite von 440 000 Franken knapp übertreffen und damit das Anrecht auf Zuschüsse verlieren. «Wenn man schon Kompensationen bezahlen will, so hätte man diese möglichst konsequent auf jene Versicherten beschränken sollen, deren Renten effektiv sinken», kritisiert Baumann.
Unerreichbare Renditevorgaben
Dass dieses leidige Ringen um Zuschüsse überhaupt entstanden ist, liegt an einem Systemfehler: Das Parlament hat den Umwandlungssatz für den obligatorischen Teil der zweiten Säule im Gesetz festgeschrieben. Dieser Satz ist mit 6,8 Prozent unrealistisch hoch. Bei der heutigen Lebenserwartung bedeutet er nämlich, dass eine PK an den Finanzmärkten eine jährliche Rendite von 4,9 Prozent erzielen muss. Mit der BVG-Reform würde der Umwandlungssatz zwar auf 6,0 Prozent sinken. Das entspräche aber immer noch einer schwer erreichbaren Rendite von 3,75 Prozent.
Weil aber die allermeisten Kassen Leistungen anbieten, welche über die obligatorischen Vorgaben hinausgehen, konnten sie auch den Umwandlungssatz auf ein angemessenes Niveau senken. Im Schnitt sind es derzeit 5,3 Prozent. Bei etwa 15 Prozent der Kassen fehlt jedoch der finanzielle Spielraum, um sich von den Fesseln des Gesetzgebers zu befreien. Dort müssen die Erwerbstätigen für die überhöhten Renten der Pensionierten aufkommen.
Eine vernünftige Lösung – ohne «Rentenbschiss» – bestünde somit darin, dass jede Pensionskasse eigenverantwortlich entscheiden kann, wie sie ihr Kapital zwischen den Aktiven und den Rentnern aufteilen will. Das würde bedeuten, die Höhe des Umwandlungssatzes aus dem Gesetz zu streichen. Stattdessen aber hat sich das Parlament für ein teures Flickwerk entschieden. Was die Gewerkschaften prompt nutzen, um Stimmung gegen die berufliche Vorsorge zu machen.