Wohnort Berlin, Arbeitsort Zürich: Die Zahl der modernen Wanderarbeiter in Schweizer Städten nimmt stark zu Erstaunlich viele ausländische Manager und Wissenschafter entscheiden sich für den internationalen Wochenaufenthalt als Lebensmodell. Einer von ihnen erzählt, warum er jede Woche mit dem Flugzeug in die Schweiz pendelt.
Erstaunlich viele ausländische Manager und Wissenschafter entscheiden sich für den internationalen Wochenaufenthalt als Lebensmodell. Einer von ihnen erzählt, warum er jede Woche mit dem Flugzeug in die Schweiz pendelt.
(Bild: Karin Hofer / NZZ)
Als Alleinreisende oft mit nicht viel mehr Gepäck als einem kleinen Rollkoffer und einer Laptop-Tasche fallen sie kaum auf: Berufsleute, die unter der Woche in der Schweiz – vorwiegend in den Grossstädten Zürich, Genf und Basel – arbeiten und am Wochenende zu ihren Angehörigen ins Ausland heimkehren.
Allein mit Rollkoffer und Laptop
Am Freitag verschwinden sie im Strom jener Vergnügungsreisenden, die sich am Zürcher Hauptbahnhof, am Flughafen Zürich oder am Euro-Airport in Basel für einen Abstecher ins Ausland aufmachen. Zusammengerechnet bilden diese Berufsleute alles andere als eine kleine Gruppe. Um zu erahnen, wie viele es von ihnen gibt, reicht es, an einem Sonntagabend beispielsweise von Berlin nach Zürich zu fliegen. Fast im Stundentakt starten dann Maschinen vom Flughafen Berlin Brandenburg Richtung Schweiz, und in den Flugzeugen sitzen zumeist Alleinreisende, oft eher jungen Alters, aber nicht nur, und fast immer mit Rollkoffer und Laptop.
Leute, die in grosser Distanz zum Wohnort ihres Partners oder ihrer Partnerin beziehungsweise ihrer Familie arbeiten, gibt es in vielen Ländern. Grösstenteils sind es aber Arbeitskräfte mit niedriger Qualifikation, die wie die chinesischen Wanderarbeiter in Schanghai oder philippinische Hausmädchen in Dubai von armen in prosperierende Regionen ziehen und mangels Zeit und Geld ihre zurückgelassenen Familien nur selten sehen können.
Gut bezahlte Fachkräfte
Bei den Arbeitskräften, die sich zwischen Berlin und Zürich oder zwischen Basel und Barcelona bewegen, ist dies anders. Bei den meisten von ihnen handelt es sich um gutbezahlte Fachkräfte, die sich das allwöchentliche Pendeln entweder per Flugzeug oder per Hochgeschwindigkeitszug leisten können.
Einer von ihnen ist Omar El Manfalouty. Der deutsch-ägyptische Doppelbürger arbeitet seit knapp zwei Jahren mit einem 85-Prozent-Pensum als Oberassistent am Lehrstuhl für Alte Geschichte der Universität Zürich. Fast jedes Wochenende kehrt er an seinen Wohnort in Egelsbach bei Frankfurt zurück. In Zürich trifft er in der Regel am Dienstagmorgen mit dem Flugzeug ein. Am Donnerstagabend fliegt er zurück.
Von der Bahn aufs Flugzeug umgestiegen
Obschon El Manfalouty wegen seines Nebenjobs als Fluglehrer viel Begeisterung für die Luftfahrt mitbringt, würde er allein aus ökologischen Gründen lieber den Zug benutzen. Doch die Deutsche Bahn sei derart unzuverlässig geworden, dass für ihn im Moment als Transportmittel fast nur das Flugzeug infrage komme.
Er sei, weil Züge ausgefallen seien, mehrfach in Basel, Offenburg oder Karlsruhe hängengeblieben und habe viel Geld für Übernachtungen im Hotel oder teure Taxifahrten ausgeben müssen. «Ich kann mir nicht leisten, zu spät zu Lehrveranstaltungen in Zürich zu kommen», sagt El Manfalouty.
Der gegenwärtige Arbeitsvertrag des 31-jährigen Postdoktoranden, der sich als Nächstes habilitieren möchte, ist auf drei Jahre befristet. Damit befindet er sich in einer Situation, die typisch für Angehörige des akademischen Mittelbaus ist. Das Pendeln zwischen Zürich und Egelsbach, wo er aufgewachsen ist und sich nach wie vor verwurzelt fühlt, ermöglicht ihm, mit Blick auf seinen nächsten Karriereschritt flexibel zu bleiben. Noch weiss er nicht, ob es mit der angestrebten Professur klappen wird und ob er weiterhin mit einer Anstellung in der Schweiz rechnen kann.
Der Historiker studierte und arbeitete zuvor in Frankfurt, Würzburg und Regensburg, wo sich zurzeit seine Ehefrau – ebenfalls im Fach Geschichte – unter der Woche dem Abschluss ihrer Dissertation widmet. Am Wochenende treffen sich die beiden in ihrer Wohnung in Egelsbach. El Manfalouty engagiert sich in seiner Wohngemeinde als Mitglied der Gemeindevertretung auch politisch. Ausserdem geht er am dortigen Flughafen seiner Nebentätigkeit als Fluglehrer nach.
Mieten sind selbst in Frankfurt tiefer als in Zürich
El Manfalouty hat an der Universität Zürich mehrere Kolleginnen und Kollegen aus Deutschland, Italien und Österreich, deren Arbeits- und Wohnsituation ähnlich ist. Die meisten von ihnen bewohnen als Wochenaufenthalter in der Limmatstadt lediglich ein Zimmer in einer Wohngemeinschaft. El Manfalouty übernachtet jeweils in einer Pension unweit seines Arbeitsplatzes. Ein grosses Problem, sagt er, seien in Zürich die hohen Mietkosten. Selbst im teuren Frankfurt bezahle man für eine Wohnung vergleichbarer Grösse nur halb so viel.
Zugleich ist El Manfalouty des Lobes voll über die Arbeitsbedingungen, die Forschende an der Universität Zürich antreffen: «Anders als in Deutschland wird der akademische Mittelbau nicht mit einjährigen Verträgen zu Minimallöhnen abgespeist. Wir werden fair bezahlt.»
Die Universität Zürich kann erstaunlicherweise nicht angeben, wie viele ihrer Mitarbeitenden sich wie El Manfalouty nur unter der Woche in der Schweiz aufhalten. Man erhebe diese Daten nicht, lässt die Medienstelle ausrichten. Besser informiert ist die ETH, die den Anteil der Mitarbeitenden mit Hauptwohnsitz im Ausland an ihrer Belegschaft von rund 10 000 Beschäftigten mit 2 Prozent angibt. Darin eingerechnet sind indes auch Personen, die täglich die Grenze überqueren, also klassische Grenzgänger.
Bundesbehörden tappen im Dunkeln
Gesamtschweizerische Erhebungen zur Zahl der Arbeitstätigen, die zwischen der Schweiz und Orten im Ausland pendeln, existieren nur für Grenzgänger, aber nicht für sogenannte internationale Wochenaufenthalter. Das Bundesamt für Statistik, das sonst alles von einzelnen Nutz- und Wildtieren über Bauern und Jäger bis hin zu Angehörigen fast jeder noch so kleinen Berufsgruppe zählt, winkt auf Anfrage ebenfalls ab. Man verfüge genauso wie das Staatssekretariat für Migration nicht über «ausreichend genaue Informationen zu diesem Thema». Die Bundesbehörde empfiehlt, sich bei den einzelnen Gemeinden zu erkundigen, da sich auch Leute, die nur während der Woche in der Schweiz wohnen würden, dort anmelden müssten.
Und tatsächlich: Die Statistikbehörden der Stadt Zürich und des Kantons Basel-Stadt besitzen detaillierte Daten zu Wochenaufenthaltern mit Wohnsitz im Ausland. Dabei zeigt sich, dass deren Zahl in beiden grössten Städten der Deutschschweiz signifikant gestiegen ist. In Zürich versiebenfachte sie sich in den vergangenen 20 Jahren – auf über 700. Etliche weitere dürften sich in Gemeinden der Agglomeration Zürich sowie in den Nachbarkantonen niedergelassen haben. So gesehen könnten mehrere tausend Arbeitskräfte Wochenende für Wochenende via Zürich mit dem Flugzeug oder per Bahn zu ihren Angehörigen im Ausland heimkehren.
Im Kanton Basel-Stadt, der mit 206 000 weniger als halb so viele Einwohner wie die Stadt Zürich zählt, lebten 2022 knapp 570 internationale Wochenaufenthalter. 2010 waren es noch weniger als 100 gewesen.
In Zürich und Basel wächst die Zahl internationaler Wochenaufenthalter
Anzahl Wochenaufenthalter mit Hauptwohnsitz im Ausland
Die Region Nordwestschweiz profitierte in den vergangenen Jahren stark vom Boom in der Life-Sciences-Industrie. Bei Pharma- und Chemieunternehmen arbeiten besonders viele ausländische Spezialisten. Sie bringen Fertigkeiten mit, welche die Betriebe für ihre hochspezifischen Tätigkeiten bei einheimischen Arbeitnehmern oft nicht ausreichend finden.
Der Euro-Airport, der auf französischem Boden ausserhalb des Basler Stadtgebiets liegt, ist deutlich kleiner als der Zürcher Flughafen. Doch erlebte er, abgesehen vom Einbruch während der Pandemie, in den vergangenen Jahren ein starkes Wachstum bei den Flugbewegungen und Passagierzahlen. Dies ermöglicht es gutverdienenden Fachkräften auch in Basel, ihr Leben vergleichsweise einfach zwischen weit voneinander entfernten Orten aufzuteilen.
Flughäfen und Airlines verdienen an Pendlern
Die Direktion des Euro-Airports kann allerdings ebenso wie jene des Zürcher Flughafens nicht beziffern, wie viele Passagiere es gibt, die immer wieder dieselbe Strecke benutzen. Die Flughafendirektion Zürich begründet dies damit, dass der Reisegrund der Passagiere nur stichprobenartig erhoben werde.
Allerdings fällt auf, dass im Flugplan des Flughafens Zürich Berlin bereits die zweitwichtigste Destination noch vor Amsterdam, Palma de Mallorca und Frankfurt bildet. Spitzenreiter ist London. In Basel wird die Rangliste der am häufigsten pro Woche angeflogenen Städte von Pristina angeführt – vor London, Istanbul, Amsterdam und Barcelona. Eine Sprecherin des Euro-Airports sagt, man wisse aus Beobachtungen, dass die Strecken nach Amsterdam, Berlin, London und Barcelona gerne auch von Pendlern genutzt würden.
Bei den Flügen zwischen Zürich und Berlin zeigt sich, dass das Angebot am grössten an den Wochentagen Montag, Donnerstag und Freitag ist. Dies ist nicht nur für Personen, die als Touristen fürs Wochenende in die deutsche Hauptstadt fliegen, sondern auch für internationale Wochenaufenthalter praktisch.
Zwischen Zürich und London sind die Flüge über die Wochentage gleichmässiger verteilt. Dies liegt wohl vor allem daran, dass die britische Hauptstadt eine führende Geschäftsmetropole ist. Ausserdem ist der Londoner Grossflughafen Heathrow ein beliebtes Drehkreuz für Umsteigepassagiere auch aus der Schweiz. Für Berlin trifft beides nicht zu.
Omar El Manfalouty ist mit seinem gegenwärtigen Leben zufrieden. Das Pendeln zwischen Frankfurt und Zürich ermögliche ihm, sich in zwei Kulturen, der deutschen und der schweizerischen, zu bewegen. «Ich empfinde dies als sehr bereichernd», sagt er. Zugleich beansprucht die Reiserei auch bei ihm viel Zeit und Energie. El Manfalouty versucht, die Stunden, die er beim Warten am Flughafen sowie im Flugzeug und im Zug verbringt, konsequent zum Arbeiten zu nutzen. «Reisen ist Arbeitszeit.»
Schwieriger mit Kindern
Ewig möchte indes auch El Manfalouty nicht pendeln. Er erwähnt, dass er gerne Vater werden würde. Und mit Kindern könne er sich das Pendeln über grosse Distanzen schwer vorstellen.
Allerdings scheint es unter den internationalen Wochenaufenthaltern nicht wenige Familienväter zu geben. Dies legen zumindest die Zahlen aus Zürich und Basel nahe. Die beiden grössten Gruppen bilden Personen im Alter zwischen 30 und 44 Jahren sowie die 45- bis 64-Jährigen.
Das Gegenteil ist bei den Schweizer Wochenaufenthaltern der Fall. Unter ihnen ist die grosse Mehrheit unter 30. Das deutet darauf hin, dass viele Schweizer, die als Studenten und zu Beginn ihrer Berufslaufbahn regelmässig fürs Wochenende beispielsweise von Zürich ins Tessin oder ins Wallis heimkehren, spätestens bei der Familiengründung damit aufhören und näher bei ihrem Arbeitsort sesshaft werden.
Der Personalberater Hannes Stettler beobachtet auch unter Führungskräften, dass sich der Status des internationalen Wochenaufenthalters wachsender Beliebtheit erfreut. Viele Firmen seien flexibler geworden und würden dieses Lebensmodell ihren Mitarbeitenden explizit erlauben.
Darf der Chef jede Woche von Hamburg einfliegen?
Allerdings empfiehlt Stettler, genau darauf zu achten, ob das Pendeln über grosse Distanzen mit der Kultur eines Unternehmens vereinbar sei. «Ist ein Unternehmen stark in der Schweiz verwurzelt, kommt es bei Mitarbeitern und Kunden möglicherweise nicht so gut an, wenn der Chef jede Woche von Hamburg oder von Berlin einfliegt.»
Wer sich unter der Woche weit weg von seiner Familie aufhalte, brauche zudem, fügt der Personalberater hinzu, jemanden, der ihm den Rücken freihalte. «Solche Partnerschaften sind im Zeitalter der Gleichberechtigung eher ein Auslaufmodell.»
Wie ein Vergleich der Frequenzen jeweils für den Monat Mai im Zeitraum der letzten neun Jahre zeigt, hat sich das Angebot von Flügen von Zürich nach Berlin und London deutlich vom Einbruch in den beiden ersten Jahren der Corona-Pandemie erholt. Dennoch werden beide Destinationen weiterhin seltener angeflogen, als dies zwischen 2015 und 2019 der Fall war.
Zugleich ist das Fliegen deutlich teurer geworden. Dies könnte auch den einen oder anderen gutverdienenden internationalen Wochenaufenthalter veranlassen, sein Lebensmodell zu überdenken.
Dominik Feldges, «Neue Zürcher Zeitung»