Falsche Zahlen, gezielte Indiskretionen, seltsame Allianzen – die Debatte um die Renten driftet ins Absurde BVG: Sinken denn nun die Renten oder bloss die Hemmschwellen im Abstimmungskampf? Ein Vorfall im Streit um die Reform der Pensionskassen wirft unangenehme Fragen auf.
BVG: Sinken denn nun die Renten oder bloss die Hemmschwellen im Abstimmungskampf? Ein Vorfall im Streit um die Reform der Pensionskassen wirft unangenehme Fragen auf.
Je komplizierter eine Abstimmungsvorlage, desto einfacher die Irreführung: Diese Regel wird in der Debatte um die Reform der beruflichen Vorsorge (BVG) gerade eindrücklich bestätigt. Allerdings kann man es auch übertreiben und muss dann öffentlich zurückkrebsen. Anfang Juli sah sich der Schweizerische Gewerkschaftsbund auf Nachfrage hin veranlasst, eine besonders zugespitzte Aussage in seiner Kampagne gegen die Reform abzuschwächen.
Auch jetzt ist es das Nein-Lager, das argumentativ in die Zwickmühle geraten ist. Die Tragweite ist nicht zu unterschätzen, der Ablauf und die Rollenverteilung lassen tief blicken. Dank SRF und den CH-Media-Zeitungen ist die Sache letzte Woche aufgeflogen, rechtzeitig vor dem Urnengang am 22. September.
Noch ist nicht alles klar, aber die vorliegenden Informationen und Hintergrundgespräche lassen die Umrisse erkennen: Eine sonderbare Allianz aus Gewerkschaftern, kritischen Gewerblern und Verantwortlichen einer grossen Pensionskasse scheint dafür gesorgt oder zumindest zugelassen zu haben, dass Falschinformationen prominent in Umlauf gesetzt werden.
Der Paukenschlag
Die Geschichte fängt mit grossen Buchstaben an: «Weniger Geld für Metzger, Gärtnerinnen und Coiffeure bei Ja zur Rentenreform». Der «Tages-Anzeiger» berichtete am 22. Juni, «mittelständische Angestellte» wären die Verlierer der Vorlage. Dies habe «die Vorsorgestiftung des Gewerbes» errechnet. Gemeint war Proparis, eine Sammelstiftung für KMU mit 71 000 Versicherten, die dem Gewerbeverband nahesteht.
Der Bericht schlug hohe Wellen. Gestützt auf interne Zahlen der Stiftung prophezeite das Blatt, «für viele Menschen in gewerbenahen Berufen» werde das Leistungsniveau abnehmen. Bei 58 Prozent aller Proparis-Versicherten führe die Reform zu einer tieferen Rente. Vor allem für Ältere sei die Bilanz schlecht. In der Gruppe über 60 müssten sogar 63 Prozent mit weniger Geld im Alter auskommen. Schockierende Details rundeten den Text ab, in Coiffeurbetrieben etwa betrage der Anteil der «Verlierer» fast 80 Prozent.
Das sass. Die Gegner griffen die Zahlen sofort auf, die Befürworter um SVP, FDP, Mitte und GLP gerieten in Erklärungsnot. Stets hatten sie beteuert, sie wollten das Rentenniveau erhalten. Eigens für ältere Angestellte haben sie im Parlament milliardenschwere Kompensationen beschlossen, um Einbussen zu verhindern oder zumindest abzufedern. Und nun das.
Das Stirnrunzeln
Hinter den Kulissen der BVG-Welt reagierten manche Fachleute erstaunt bis irritiert. Öffentlicher Widerspruch aber blieb aus. Eine Anfrage der NZZ bei Proparis blieb ergebnislos: Die Zahlen seien nur für den internen Gebrauch gedacht gewesen, hiess es, man wolle zurzeit nichts dazu sagen. Davon, dass etwas daran falsch sein könnte, war keine Rede.
Das ist im Nachhinein umso erstaunlicher, als die Zahlen in der Fachwelt schon länger bekannt waren und verschiedentlich zu reden gegeben haben. Proparis gehört zu den relativ wenigen Pensionskassen, auf welche die BVG-Reform direkte Auswirkungen hat. In den meisten Fällen entsprechen ihre Vorsorgepläne dem gesetzlichen Minimum oder gehen nur leicht darüber hinaus. Somit war klar, dass die Vorlage bei Proparis und ihren Versicherten Spuren hinterlässt, im Guten wie im Schlechten.
Allerdings wunderten sich Fachleute, wie es sein kann, dass gerade ältere Versicherte von Kürzungen betroffen sein sollen. Eigens für Personen über 50 mit relativ tiefen Guthaben hat das Parlament lebenslange Rentenzuschläge beschlossen. Tatsächlich umfasst die Dokumentation von Proparis eine Auswertung, die hätte stutzig machen können: Demnach erhalten fast 97 Prozent dieser Altersgruppe einen vollen oder teilweisen Rentenzuschlag. Ist es da plausibel, dass trotzdem eine grosse Mehrheit schlechter fährt?
Das Eingeständnis
Erst nach wochenlangem Schweigen haben die Zuständigen von Proparis eingeräumt, dass da etwas nicht stimmt: Die Zahlen sollen zwar richtig berechnet sein, aber die Schlussfolgerungen daraus sind nicht nur fragwürdig oder irreführend, sondern schlicht und einfach falsch. Die Auswertung sagt nicht, wie viele Personen mehr oder weniger Rente erhalten. Stattdessen liefert sie eine Art Vollkostenrechnung für Proparis als Ganzes. Sie zeigt, wie sich die einzelnen Renten verändern, und vergleicht dies mit den Kosten, die im Gegenzug bei den Versicherten, den Arbeitgebern und der Pensionskasse anfallen (primär höhere Lohnbeiträge sowie Finanzierung der Zuschläge).
Somit zeigen die Zahlen vor allem eines: Kassen wie Proparis müssen einen beträchtlichen Teil der Rentenzuschläge aus eigener Kraft finanzieren. So hat es das Parlament beschlossen. Das bedeutet aber nicht, dass die einzelnen Versicherten – schon gar nicht die Älteren – deswegen eine tiefere Rente erhalten als ohne Reform.
Unglücklicher Irrtum oder finstere Motive
Dass der «Tages-Anzeiger» die Zahlen falsch interpretierte, erscheint nachvollziehbar. Die Grafiken in der Dokumentation sind tatsächlich irreführend bis falsch beschriftet. Von «kleineren Renten» ist da die Rede; von einem Anteil Versicherten, die eine «tiefere Rente» erhalten werden, obwohl die Zahlen gerade dies nicht abbilden. Lassen sich die unpräzisen Formulierungen damit erklären, dass die Zahlen nur für den internen Gebrauch gedacht waren?
Damit verbunden ist die Frage, wer die Zahlen an den «Tages-Anzeiger» weitergereicht hat. Im Stiftungsrat sitzen mehrere erklärte Gegner der Reform, allen voran der Präsident und dessen Vize, der ehemalige Gewerbedirektor Hans-Ulrich Bigler und der Unia-Gewerkschafter Aldo Ferrari. Sie mussten gewusst haben, was die Zahlen aussagen und was nicht. Hätte es auch der Gewerkschaftsbund wissen müssen, der die Zahlen nach der Publikation sofort freudig aufnahm und seither damit Stimmung machte? Und vor allem: Wieso hat Proparis so lange geschwiegen?
Was bleibt?
Die Episode illustriert die verwirrenden Konfliktlinien, die diese Debatte prägen. Die Gewerkschaften kämpfen gemeinsam mit einem Teil des Gewerbes gegen die Reform. Insbesondere Tieflohnbranchen lehnen die Vorlage ab, weil sie höhere Kosten für die Altersvorsorge ihres Personals abwenden wollen. Während der Gewerbeverband als Ganzes die Vorlage unterstützt, sind zum Beispiel die Gastrobranche, Tankstellenshops, Coiffeursalons sowie Teile der Landwirtschaft dagegen. Ebenfalls gespalten ist die BVG-Fachwelt.
Umfassende Zahlen zu den Auswirkungen der Vorlage gibt es nicht, zu gross sind die Unterschiede zwischen den Pensionskassen. Und was gilt denn nun für Proparis? Gegenüber SRF hat die Stiftung neue Zahlen angekündigt, am Montag liess sie aber weiterhin offen, wann diese vorliegen sollen, und wollte auch sonst keine Fragen beantworten.