Wenn der Chef ruft, muss man nicht immer antworten – Reformvorschlag gegen ständige Erreichbarkeit und für flexibleres Home-Office Die Wirtschaftskommission des Nationalrats hat am Dienstag ein Gesetzesprojekt für flexiblere Arbeitszeiten bei Telearbeit in die Vernehmlassung geschickt. Dieses soll aber nur für Angestellte mit grosser Arbeitsautonomie gelten.

Die Wirtschaftskommission des Nationalrats hat am Dienstag ein Gesetzesprojekt für flexiblere Arbeitszeiten bei Telearbeit in die Vernehmlassung geschickt. Dieses soll aber nur für Angestellte mit grosser Arbeitsautonomie gelten.

(Bild: Unsplash)

Lockerungen des Arbeitsgesetzes sind politisch delikat. Bei solchen Versuchen gehen die Gewerkschaften reflexartig in den rhetorischen Schützengraben und reden von einem «Frontalangriff auf die Gesundheit der Arbeitnehmer». Die Chancen für bedeutende Lockerungen in einer Referendumsabstimmung wären wohl nicht übertrieben gross.

So endete der bisher letzte Versuch im Parlament, flexiblere Arbeitszeiten für gewisse Kader und Fachkräfte zu ermöglichen, nach siebenjähriger Kontroverse 2023 mit einer Minireform. Diese brauchte keine Gesetzesänderung und ermöglichte via Verordnungsänderung einige Lockerungen nur in einzelnen Branchen.

Der geltende Gesetzesrahmen ist im Prinzip ziemlich restriktiv und kompliziert mit einem Geflecht von Regeln zu Wochenarbeitszeiten, täglichen Ruhezeiten, möglichen Überzeiten, Pausen und Mehrwochen-Vorgaben.

Doch Ausnahmebestimmungen und viele branchenspezifische Sonderregeln auf Verordnungsstufe sorgen trotz allem für eine gewisse Realitätsnähe. Und wo diese fehlt, gibt es routinemässige Verstösse gegen das Arbeitsgesetz durch Kader und Fachkräfte mit erheblicher Arbeitsautonomie.

Telearbeiter im Fokus

Aber die bürgerliche Mehrheit in der Wirtschaftskommission des Nationalrats wagt nun gegen den Widerstand der Linken eine Gesetzesänderung. Die Kommission holte heuer eine parlamentarische Initiative von 2016 aus der Versenkung. Der Vorstoss fordert flexiblere Arbeitszeiten im Heimbüro. Die Arbeit im Heimbüro erhielt durch die Pandemie einen Schub.

Die Nationalratskommission hat am Dienstag ein Gesetzesprojekt zur Umsetzung der parlamentarischen Initiative in die Vernehmlassung geschickt. Der Vorschlag ermöglicht flexiblere Arbeitszeiten für gewisse Angestellte bei der Telearbeit. Der Begriff «Telearbeit» umfasst Arbeit im Heimbüro oder an einem anderen Ort ausserhalb der Räumlichkeiten des Arbeitgebers.

Für Telearbeiter soll unter gewissen Bedingungen künftig Sonntagsarbeit an bis zu neun Sonntagen pro Jahr zu jeweils höchstens 5 Stunden ohne Bewilligung möglich sein. Zudem soll der Zeitrahmen für zulässige Arbeitszeit an Werktagen im Grundsatz von 14 auf 17 Stunden wachsen. Das heisst nicht, dass die Leute zurzeit täglich 14 Stunden und künftig 17 Stunden arbeiten. Aber Folgendes soll künftig legal sein: Man beginnt mit der Arbeit morgens um 7 Uhr, verbringt die Zeit von 16 bis 21 Uhr mit der Familie und arbeitet danach noch eine Stunde berufliche E-Mails ab.

Zudem verlangt das geltende Gesetz im Prinzip eine ununterbrochene Ruhezeit zwischen zwei Arbeitstagen von mindestens 11 Stunden. Die Angestellte im erwähnten Illustrationsbeispiel könnte damit am Folgetag erst um 9 Uhr morgens mit der Arbeit beginnen. Die Nationalratskommission will deshalb für Telearbeitstage das Minimum der täglichen Ruhezeit von 11 auf 9 Stunden reduzieren. Aber über einen Zeitraum von vier Wochen müsste die Ruhezeit im Mittel aller Arbeitstage mindestens 11 Stunden betragen.

Recht auf Nichterreichbarkeit

Die genannten Lockerungen wären nur für einen Teil der Telearbeiter möglich. Die Reformvorlage sieht drei Bedingungen für Interessenten vor: Eine Angestellte muss «über eine grosse Autonomie verfügen», ihre «Arbeitszeiten mehrheitlich selber festsetzen können» und mit dem Arbeitgeber eine schriftliche Vereinbarung zur Telearbeit treffen. Diese Vereinbarung muss namentlich Regeln zur Erreichbarkeit, Zeiterfassung und weitere Massnahmen zur Gewährleistung des Gesundheitsschutzes enthalten.

Zur Besänftigung von Kritikern enthält der Vorschlag ausdrücklich das Recht für Telearbeiter, «während der täglichen Ruhezeit und an Sonntagen nicht erreichbar zu sein». Implizit dürfte dieses Recht schon heute gelten. Das sagte auch der Bundesrat diesen Mai in seiner Stellungnahme zu einem Vorstoss aus dem Parlament. Während der Ruhezeit besteht laut der Regierung «kein Anspruch des Arbeitgebers, die Arbeitnehmenden erreichen zu können, und diese haben das Recht, nicht erreichbar zu sein».

In der Praxis dürfte dies meist ohnehin keine juristische, sondern eine kulturelle Frage sein: Was sind die Erwartungen der Chefs, und wie interpretieren die Mitarbeiter ihre Pflichten?

Für wie viele Arbeitnehmer die vorgeschlagenen Lockerungen infrage kommen könnten, ist zurzeit noch unklar. Eine Bundesschätzung dazu soll noch kommen. Gemäss Bundesstatistik arbeiteten 2023 rund 38 Prozent der Erwerbstätigen mindestens gelegentlich zu Hause. 48 Prozent hatten flexible Arbeitszeiten. Wie viele Arbeitnehmer beide Bedingungen erfüllen und zudem grosse Gestaltungsautonomie haben, wird die Frage sein.

Dies hängt auch von der Definition ab. Laut den Erläuterungen der Nationalratskommission geht es um Angestellte, die «weitgehend selber bestimmen, in welcher Art und Weise die Arbeiten ausgeführt und organisiert werden». Dies treffe tendenziell für das höhere Kader sowie für Arbeitnehmer mit einem besonderen Pflichtenheft wie etwa Projektleiter zu.

In einer Umfrage der Berner Fachhochschule und der Gewerkschaft Travail Suisse aus dem Jahr 2023 schrieben sich 14 Prozent der Arbeitnehmer einen «sehr hohen» Einfluss auf die Arbeitsmenge zu und 27 Prozent einen «hohen» Einfluss. Bei den Arbeitszeiten lagen die Anteile mit sehr hohem beziehungsweise hohem Einfluss bei je 27 bis 29 Prozent.

Hansueli Schöchli, «Neue Zürcher Zeitung»

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