Wenn der Bürokollege zum Aktivisten wird: Ein Verband bildet jetzt Nachhaltigkeits-Influencer aus Angestellte von Industrieunternehmen sollen in mehreren Kursen lernen, wie man uneinsichtige Kollegen zu mehr Nachhaltigkeit bewegt. Zu Missionaren sollen sie aber nicht werden.
Angestellte von Industrieunternehmen sollen in mehreren Kursen lernen, wie man uneinsichtige Kollegen zu mehr Nachhaltigkeit bewegt. Zu Missionaren sollen sie aber nicht werden.
Influencer, das sind Leute, die einem etwas verkaufen wollen: Hautcrèmes, Parfums, Schuhe oder auch einmal einen Staubsauger. Man liebt oder hasst sie, aber wenn man Instagram und andere soziale Netzwerke verwendet, kommt man nicht an ihnen vorbei.
Geht es nach dem Arbeitnehmerverband Angestellte Schweiz, soll es in Schweizer Unternehmen bald auch Influencer geben. Und zwar nicht für neue Produkte, sondern für Umweltthemen. Ab dieser Woche bildet Angestellte Schweiz in Zusammenarbeit mit Siemens sogenannte Nachhaltigkeits-Influencer aus. Diese sollen laut Kursprogramm eine «aktive Rolle» einnehmen «bei der Reise ihrer Firma zu mehr Nachhaltigkeit».
Kollegen sollen zum Mitmachen motiviert werden
«Wir hatten uns auch überlegt, eine Bezeichnung wie etwa Botschafter zu wählen», sagt der Projektleiter Pierre Derivaz. «Aber ich finde, man braucht für diese Tätigkeit, wie auch als Influencer, die Fähigkeit, kreativ zu kommunizieren. Und wie ein Influencer sollte man die Werte auch persönlich teilen.»
Viele Unternehmen, so Derivaz, hätten sich selbst eine Nachhaltigkeitsstrategie gegeben und müssten Vorgaben zur CO2-Einsparung einhalten. «Aber sie haben Probleme, diese Strategie an ihre Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen zu kommunizieren und sie zum Mitmachen zu bewegen.» Dabei sollen die Nachhaltigkeits-Influencer helfen. Die Ausbildung findet zunächst in einmaliger Durchführung als Pilotprojekt statt, dessen Erfolg hinterher evaluiert werden soll.
Unter den Teilnehmenden sind Angestellte von den Unternehmen Siemens, MAN und Griesser. In sechs Kurstagen lernen sie, wie man andere motiviert, «Pläne in Taten umzusetzen», und wie man mit «divergierenden Interessen» umgeht. Hinzu kommen Kursinhalte zu Grundlagen der Klimawissenschaft und Handlungsfeldern nachhaltigen Wirtschaftens. Auch Kommunikationsfähigkeiten sind Teil der Ausbildung.
«Es gibt in jedem Unternehmen Angestellte mit viel Tatendrang», sagt Pierre Derivaz. «Aber gerade in der Industrie gibt es viele, die sich von der Energiewende eher bedroht fühlen. Auch die muss man mitnehmen.» Dort sollen die Influencer ansetzen: Sie sollen Teammitgliedern zeigen, warum die Nachhaltigkeitsstrategie des Unternehmens für alle sinnvoll ist, und dafür sorgen, dass beschlossene Massnahmen auf Teamebene vorangebracht werden.
Zwischen Wichtigem und Unwichtigem unterscheiden
Ein Bürokollege, der zum Aktivisten wird und alle ständig ermahnt, sich klimaschonend zu verhalten? Gegen diesen Eindruck wehrt sich Derivaz: «In der Ausbildung sollen die Leute auch lernen, welche Massnahmen eine grosse Wirkung haben – wie etwa die Beschaffung neuer Batterien – und welche weniger bringen – etwa, ob die Kollegin auf ihr Salamisandwich verzichtet.»
Die Idee sei, dass die Teilnehmer des Pilotprojekts in ihren Unternehmen eine effektive Rolle einnähmen und auch in Entscheidungsfindungsprozesse einbezogen würden. Dafür sollen sie entsprechend Stellenprozente zugeteilt bekommen. Er vergleicht die Tätigkeit mit der einer Beauftragten für Arbeitssicherheit.
Auch Flavia Zimmermann spricht lieber von «Koordinatoren» oder «Beauftragten» als von Influencern. Zimmermann ist Sustainability Manager bei Siemens, ein Job, den es bei dem Unternehmen erst seit wenigen Jahren gibt. Etwa zehn Siemens-Mitarbeiter nähmen an dem Pilotprojekt teil, erklärt sie – ein Bruchteil derer, die sich im Unternehmen in ihrem Arbeitsalltag mit Nachhaltigkeit beschäftigen.
Ein Mehraufwand für Mitarbeiter
Die Teilnehmer, so Zimmermann, seien in den verschiedensten Abteilungen beschäftigt – etwa in der IT, im Einkauf oder im Produktmanagement. Ziel sei es, das Thema Nachhaltigkeit in allen Abteilungen im Unternehmen zu verankern.
Zimmermann gesteht ein, dass die Tätigkeit als Nachhaltigkeits-Influencer für die Mitarbeiter einen zusätzlichen Aufwand bedeuten kann, und betont, dass das Projekt sich an Leute richte, die eine intrinsische Motivation mitbrächten. Es sei Aufgabe der Führungskräfte, es den Mitarbeitern zu ermöglichen, diese Funktion zu übernehmen, und sie gegebenenfalls von anderen Aufgaben zu entlasten. An Nachfrage mangele es jedenfalls nicht, die Plätze für das Pilotprojekt seien im Nu belegt gewesen.
Neben der intrinsischen Motivation der Teilnehmenden dürfte die Aussicht auf einen möglichen Aufstieg dabei eine Rolle gespielt haben: Nachhaltigkeits-Manager werden gesucht.
Neue Karrierewege möglich
Eine Umfrage der Unternehmensberatung Deloitte unter 121 Schweizer Finanzchefs hat ergeben, dass mehr als zwei Drittel in ihren Unternehmen in diesem Bereich Handlungsbedarf sehen. Das Vorhandensein von Fähigkeiten in den Teams wurde von einem Viertel der Befragten als gering eingestuft.
Vor allem Unternehmen, die Tochtergesellschaften in der EU haben oder dort viel Umsatz erwirtschaften, kommen nicht darum herum, sich an die geltende Richtlinie zur Nachhaltigkeitsberichterstattung zu halten. Auch der Schweizer Bundesrat hat im Juni eine Vernehmlassung zur nachhaltigen Unternehmensführung lanciert. Grosse kotierte Unternehmen haben heute bereits eine Pflicht zur Berichterstattung. Der Druck, in diesem Bereich vorwärtszumachen, wächst also.
Könnten sich aus der Ausbildung zum Nachhaltigkeits-Influencer also neue Karrieremöglichkeiten ergeben? Flavia Zimmermann will das nicht ausschliessen. Zunächst einmal geht es aber darum, eine neue Funktion auf Teamebene einzunehmen – ohne allzu aktivistisch aufzutreten. «Wir können nicht Missionare ausbilden. So etwas stösst oft auf Gegenwehr.»
Gerade bei Themen wie Nachhaltigkeit muss man schliesslich auch aufpassen, dass die Grenze zwischen Beruf und Privatleben nicht verwischt. Ein gutes Beispiel ist das Pendeln: Wenn jemand mit dem Auto ins Büro fährt, hat das zwar mit der Arbeit zu tun. Wenn aber ein Unternehmen hier Vorgaben macht, mischt es sich in das Privatleben der Angestellten ein.
Privates und Berufliches zu trennen, fällt Influencern bekanntlich schwer. Bleibt zu hoffen, dass die Teilnehmer in den Kursen auch lernen, nicht übers Ziel hinauszuschiessen.