Erst arbeitslos, dann ausgesteuert: «Ich hätte nie gedacht, dass es mich treffen würde» 25'000 Personen werden jährlich ausgesteuert. Zwar sind zwei Drittel nach fünf Jahren wieder erwerbstätig, viele von ihnen aber unfreiwillig nur in Teilzeitpensen. Wegen des Fachkräftemangels und der hohen Zuwanderung aus dem Ausland ist das umso ärgerlicher.
25'000 Personen werden jährlich ausgesteuert. Zwar sind zwei Drittel nach fünf Jahren wieder erwerbstätig, viele von ihnen aber unfreiwillig nur in Teilzeitpensen. Wegen des Fachkräftemangels und der hohen Zuwanderung aus dem Ausland ist das umso ärgerlicher.
«Mit dem, was ich mitbringe, sollte es kein Problem sein, eine andere Stelle zu finden», hatte sich Andrea Sommer (Name geändert) gedacht, als sie Mitte 2022 ihren Job als IT-Projektleiterin bei einer Bank kündigte. Nach einigen Jahren in der gleichen Rolle wollte sie «etwas Frisches für den Kopf». Sie hatte das Gefühl, in ihrer Karriere zu stagnieren. Sie wollte Erfahrung in neuen Projekten sammeln, mehr Verantwortung. Doch ihr Arbeitgeber hatte dafür wenig Verständnis. «Dafür ist das Leben zu kurz», sagte sie sich schliesslich.
Nach ihrer Kündigung arbeitete sie bei einem Startup auf Projektbasis. Gleichzeitig suchte sie eine neue Vollzeitstelle. Damals hätte sich die Projektleiterin niemals vorgestellt, einmal ausgesteuert zu werden. Doch genau das ist ihr passiert.
Wer wird ausgesteuert?
Sommer ist Mitte vierzig und hat eine vielseitige Biografie: einen Bachelor in Architektur und einen MBA mit Fokus Innovation und Unternehmensführung. Zehn Jahre lebte sie in den USA . Nach ihrer Rückkehr leitete sie mehrere Jahre digitale Projekte bei einer Wirtschaftsberatung und in der Finanzbranche.
Einige Leute hätten ihr gesagt, ihr Lebenslauf habe keinen roten Faden. Sie findet: «Meine Spezialität ist die Leitung digitaler Grossprojekte.» Und: «In neue Themen arbeite ich mich gerne und gut ein.» Doch das ist bei vielen Arbeitgebern trotz ständiger Betonung von Fähigkeiten wie Lernbereitschaft, Agilität und internationaler Erfahrung offenbar nicht das, was gesucht und geschätzt wird.
Die Arbeitsstelle verlieren oder kündigen, in den darauffolgenden zwei Jahren nichts Passendes finden und gleichzeitig in einem Regionalen Arbeitsvermittlungszentrum (RAV) registriert sein – so lässt sich die klassische Situation einer aus der Arbeitslosenversicherung (ALV) ausgesteuerten Person zusammenfassen. Doch mit einer Biografie wie der von Andrea Sommer verbindet man eine Aussteuerung nicht.
Von 2019 bis 2023 wurden jährlich durchschnittlich 25 000 Personen von der Arbeitslosenversicherung ausgesteuert, wie eine neue Auswertung vom Bundesamt für Statistik (BfS) zeigt.
Wie kommt man in eine solch unerfreuliche Situation?
«Ausgesteuert werden sehr verschiedene Gruppen von Menschen. Am schwierigsten ist es für ältere Arbeitslose, die bis zu zwei Jahre Taggelder beziehen können und in dieser Zeit keine neue Stelle gefunden haben. Sie bringen häufig den Bildungsstand nicht mit, den der Arbeitsmarkt verlangt, beispielsweise bei der Digitalisierung», sagt Dieter P. Wirth, Bereichsleiter Arbeitslosenversicherung im Amt für Wirtschaft und Arbeit des Kantons Basel-Stadt.
Im Fall von Andrea Sommer gilt das definitiv nicht. Individuell kann Pech im Spiel sein oder ein schlechtes Timing. «Ja, solche Fälle gibt es auch», bestätigt Wirth, «jeder Fall ist anders.»
Tatsächlich trifft es nicht nur Geringqualifizierte, wie zuweilen angenommen wird. «Auch Hochqualifizierte sind entsprechend ihrem Anteil an der Erwerbsbevölkerung vertreten», sagt Hans Rupp, Leiter des Zürcher Amtes für Arbeit.
Gleichzeitig relativiert Rupp die weitverbreitete Annahme, dass Ausgesteuerte automatisch auf dem Sozialamt landen. Etwa die Hälfte beziehe danach eine vorgezogene AHV-Rente, eine IV-Rente oder besuche, im Fall von Lehrabsolventen, ein Motivationssemester.
Auch sein Basler Kollege Wirth betont: «Ausgesteuert zu werden, bedeutet nicht unbedingt, aus dem Arbeitsmarkt herauszufallen.»
Wer auf dem RAV ist, muss eine zumutbare Arbeit annehmen, die der Stelle vor der Arbeitslosigkeit in Pensum und Anforderungen ungefähr entspricht. Nach der Aussteuerung hingegen wird das Geld knapper. Der Druck, den erstbesten Job anzunehmen, auch wenn er nicht den Qualifikationen und dem bisherigen Pensum entspricht, wird grösser. Immerhin hilft auch eine Übergangslösung, im Arbeitsmarkt wieder Fuss zu fassen.
Zwei Drittel sind nach fünf Jahren wieder erwerbstätig
Wie das BfS am Montag mitteilte, findet mehr als die Hälfte der ausgesteuerten Personen im ersten Jahr nach der Aussteuerung wieder in das Erwerbsleben zurück. Bis zum fünften Jahr erhöht sich dieser Anteil auf 66 Prozent. 15 Prozent suchen auch dann noch weiter nach einer Stelle. Und 19 Prozent haben sich bis dann ganz aus dem Arbeitsmarkt zurückgezogen.
Verglichen mit ihrem Anteil an der Erwerbsbevölkerung sind Ausländerinnen und Ausländer dem Risiko der Aussteuerung stärker ausgesetzt. Sie machen 46 Prozent der Ausgesteuerten aus, während ihr Anteil an der Erwerbsbevölkerung bei 29 Prozent liegt. Grundsätzlich fällt es älteren Arbeitnehmern schwerer, nach einer Kündigung eine neue Stelle zu finden. So umfasst die Gruppe der 45- bis 64-Jährigen 51 Prozent der Ausgesteuerten, während sie lediglich 42 Prozent der Erwerbsbevölkerung ausmachen.
Häufig weniger Lohn und ein zu tiefes Pensum
Der Wiedereinstieg sei gerade bei Älteren häufig keine «goldene Lösung», sagt Wirth aus Basel. «Oft ist die Arbeit prekärer, der Lohn geringer oder das Pensum kleiner als gewünscht.»
Viele der ehemalig Ausgesteuerten, die wieder eine Beschäftigung gefunden haben, sind unterbeschäftigt. Sie würden gerne mehr und in einem höheren Pensum arbeiten. Ihr Anteil unter den Teilzeitarbeitenden ist mit 51 Prozent 2,4 Mal so hoch wie bei den Teilzeiterwerbstätigen ohne Aussteuerung. Zudem ist die Teilzeitquote an sich höher. 42 Prozent der Männer, die wieder eine Arbeit gefunden haben, arbeiten Teilzeit, während dieser Anteil bei den männlichen Erwerbstätigen insgesamt nur 17 Prozent ausmacht.
Was das Bundesamt für Statistik neutral analysiert, ist für die Betroffenen nicht nur finanziell, sondern auch sozial schwierig. Ökonomisch ausgedrückt handelt es sich um Verschwendung von Humankapital. Schliesslich wird in der Wirtschaft immer noch über Fachkräftemangel geklagt, weshalb auch die Zuwanderung aus dem Ausland hoch ist.
Erst unlängst haben der Schweizerische Arbeitgeberverband und Economiesuisse zusammen Vorschläge zur Ausschöpfung des inländischen Arbeitskräftepotenzials vorgelegt. Bei Erwerbslosen und Unterbeschäftigten wäre ein solches definitiv vorhanden, selbst wenn die Erwerbslosenquote mit derzeit 4,7 Prozent bzw. die Arbeitslosenquote mit 2,5 Prozent tief sind.
Am Ball bleiben
Die neu veröffentlichten Zahlen des BfS lassen es noch rätselhafter erscheinen, warum jemand wie Andrea Sommer bei der Jobsuche derart Mühe hat. Es erklärt auch nicht, warum die Berater vom RAV einer sympathischen, arbeitswilligen, gut qualifizierten Mittvierzigerin bisher ebenfalls nicht zum Erfolg verhelfen konnten.
Die IT-affine Projektleiterin bleibt dennoch am Ball. Nachdem sie zu Beginn fokussiert gesucht hatte, hat sie das Spektrum an möglichen Stellen stark erweitert. So hofft sie, bald eine neue Stelle zu finden. Das wäre nicht nur gut für sie, sondern auch für die Unternehmen, die weniger über Fachkräftemangel klagen müssten, wenn sie auch für Biografien und Karrieren offen wären, die nicht dem ganz klassischen Strickmuster entsprechen.