Das Bundesgericht lehnt die Annullierung der AHV-Abstimmung ab – aber in der Sache gibt es einen Geschlechtergraben Zwei Richterinnen sehen die Informationspolitik des Bundes und den Rechenfehler beim AHV-Defizit kritischer als ihre männlichen Kollegen. Trotzdem sind sich alle einig, dass Rechtssicherheit vorgeht.

Zwei Richterinnen sehen die Informationspolitik des Bundes und den Rechenfehler beim AHV-Defizit kritischer als ihre männlichen Kollegen. Trotzdem sind sich alle einig, dass Rechtssicherheit vorgeht.

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Das Bundesgericht hat die Annullierung der Volksabstimmung «AHV 21» am Donnerstag abgelehnt. Das knappe Ja im September 2022 zur Erhöhung des Rentenalters der Frauen von 64 auf 65 Jahre bleibt somit gültig, obwohl der Bund die Erhöhung mit den schlechten Finanzperspektiven der Alters- und Hinterlassenenversicherung begründete und dabei später einen Rechenfehler zugab.

Das Bundesamt für Sozialversicherungen erklärte im August 2024, dass es wegen zweier fehlerhafter Formeln das AHV-Defizit bis 2032 um 4,9 Milliarden zu hoch prognostiziert habe. Daraufhin fochten unter anderem die Grünen und die Nationalrätin und Co-Präsidentin der SP-Frauen, Tamara Funiciello, die Abstimmung an.

Direkte Demokratie brauche Verlässlichkeit

Zur Begründung erklärten die fünf Richter nun einstimmig, dass sie allein schon wegen der Prinzipien der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes die Volksabstimmung nicht aufheben könnten. Für die direkte Demokratie sei es von grosser Bedeutung, dass man sich auf einmal getroffene, vom Bundesrat für gültig erklärte Volksentscheide verlassen könne. Aufheben könne man diese nur in absoluten Ausnahmefällen.

Zudem sprächen praktische Gründe gegen eine Aufhebung. So hätten sich Behörden, Bürger und Unternehmen bereits seit zwei Jahren auf die Rentenreform eingestellt, und ab Januar trete die sukzessive Erhöhung des Rentenalters für Frauen in Kraft.

Die um 0,4 Prozent erhöhte Mehrwertsteuer, deren Mehreinnahmen ebenfalls das AHV-Defizit lindern sollen, ist bereits seit Jahresbeginn in Kraft. Eine Rückabwicklung sei unmöglich, zumal beide Massnahmen untrennbar miteinander verknüpft worden seien – würde die Erhöhung des Frauenalters fallen, müsste dies auch die Erhöhung der Mehrwertsteuer tun.

Die Sitzung des Bundesgerichts am Donnerstag war in vielerlei Hinsicht aussergewöhnlich. Vor dem Gerichtsgebäude demonstrierten bereits am Morgen Vertreterinnen mehrerer Gewerkschaften für die Annullierung der Volksabstimmung und generell gegen die Erhöhung des Frauenrentenalters. «Wir sind rot, rot aus Wut / Gegen die Totengräber unserer Renten!», skandierten sie.

Wegen der Bedeutung des Falls beriet das Bundesgericht ausnahmsweise in öffentlicher Sitzung. Es sei wichtig, dass die Öffentlichkeit wisse, auf welcher Grundlage das Bundesgericht entscheide, sagte der vorsitzende Richter Lorenz Kneubühler. Der Saal und die Zuschauertribünen waren voll.

Zwei Richterinnen ersetzen männliche Kollegen

Weil das Thema zudem Frauen besonders betraf, wurden Richter ausgetauscht. Die zuständige Erste öffentlichrechtliche Abteilung besteht derzeit nämlich aus fünf männlichen Richtern. Die beiden Amtsjüngsten wurden durch zwei nebenamtliche Richterinnen ersetzt.

Das Gericht bestand also aus drei Männern und zwei Frauen. Bei der Ablehnung der Klage zur Wahrung der Rechtssicherheit waren sich zwar alle einig, aber bei der ausführlichen Begründung gingen die Meinungen teilweise weit auseinander. Es ging erstens darum, wie transparent der Bundesrat das Stimmvolk zu den AHV-Perspektiven informiert hatte, und zweitens, wie gravierend der Rechenfehler tatsächlich war. Und damit drittens, ob die Informationspolitik und der Rechenfehler das Abstimmungsresultat massgeblich beeinflusst hatten.

Ausgerechnet die beiden nachnominierten Richterinnen übten die schärfste Kritik am Bundesrat. Die Landesregierung sei ihrer Transparenzpflicht nicht nachgekommen, argumentierten Marie-Claire Pont Veuthey von der Partei Die Mitte und Tanja Petrik-Haltiner von der SP. Beide verwiesen darauf, dass das Abstimmungsbüchlein nirgendwo erwähnte, dass es sich beim AHV-Finanzierungsbedarf von «rund 18,5 Milliarden» über den Zeitraum 2022 bis 2032 um eine Prognose oder Schätzung handelte, nicht um eine feststehende Zahl.

Weiter erinnerte Pont Veuthey daran, dass der Bundesrat mit dieser – wie sich später herausstellen sollte – zu hohen Zahl für die schnelle Umsetzung der AHV-Reform warb. Und dass laut einer Umfrage für 30 Prozent der Stimmenden die drohenden Defizite bei der ersten Säule das wichtigste Argument für ihren Entscheid waren. Somit habe der «schwerwiegende Verstoss» des Bundesrates das Abstimmungsresultat beeinflussen können. Lediglich 50,5 Prozent hatten 2022 Ja zur «AHV 21» gesagt, die Differenz zum Nein betrug nur gut 31 000 Stimmen.

Ein Richter sieht kaum ein Problem

Ganz anders sah das der Richter Stephan Haag von den Grünliberalen. Er beantragte erfolglos, auf die Beschwerden nicht einzutreten. Haag verwies darauf, dass die Klägerinnen überhaupt nur dank der sogenannten ausserordentlichen Stimmrechtsbeschwerde klagen konnten. Dieses Rechtsmittel hat der Gesetzgeber nicht vorgesehen, es wurde erst 2011 durch das Bundesgericht selbst eingeführt.

Für die ausserordentliche Stimmrechtsbeschwerde, argumentierte Haag, gälten strenge Prüfkriterien: Es müsse im Nachhinein eine massive Beeinflussung einer Volksabstimmung zutage treten, etwa weil der Bundesrat gelogen oder er ihm vorliegende Informationen verschwiegen habe. Doch tatsächlich habe sich der Bundesrat einfach geirrt. Zudem liege der Finanzierungsbedarf von 18,5 Milliarden zwischen jenen 10 und 20 Milliarden, welche die aktualisierten Rechenmodelle ergeben hätten.

Ob die falschen Zahlen im Abstimmungsbüchlein eine relevante Fehlinformation des Stimmvolks waren und sie somit zu einer Verletzung der politischen Rechte führten, darüber war sich das Richtergremium letztlich uneins. Es hätte abstimmen können, aber liess diese Frage bewusst offen.

Der vorsitzende Richter Kneubühler argumentierte durchaus mit den Richterinnen, sah aber auch gute Gründe dafür, dass die Mängel letztlich nicht so gravierend seien. Denn Prognosen seien von Natur aus unsicher, und die Grundaussage des Bundesrates treffe weiterhin zu: «Die Finanzlage der AHV ist schlecht und verschlechtert sich weiter.»

Einen Rüffel für den Bund hatte Kneubühler trotzdem in seinen grundsätzlichen Erwägungen. Für die Demokratie und den politischen Diskurs sei es «extrem wichtig», dass man sich auf Behördeninformationen verlassen könne, sagte er. «Sonst sind wir dort, wo vielleicht die Vereinigten Staaten heute sind, wo Informationen der Behörden nicht mehr geglaubt werden und man stattdessen alternative Fakten präsentiert.»

Matthias Sander, Neue Zürcher Zeitung

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