Locken schicke Coworking-Spaces Mitarbeitende aus der Behaglichkeit der eigenen vier Wände zurück ins Büro? Immer mehr Firmen ziehen in Coworking-Spaces mit Yoga und Brunch. Bedeutet das einen echten Kulturwandel – oder nur eine neue Verpackung für die alte Kontrolle?

Immer mehr Firmen ziehen in Coworking-Spaces mit Yoga und Brunch. Bedeutet das einen echten Kulturwandel – oder nur eine neue Verpackung für die alte Kontrolle?

Man muss sich die Coworking-Spaces von Headsquarter in der Zürcher Innenstadt vorstellen wie eine Fusion von Hotel und Büro. (Foto: PD)

Der Arbeitstag beginnt in liegender Position. Erst einmal tief Luft holen – dann: weiteratmen. E-Mails und To-do-Listen sollen warten. Im Zürcher Coworking-Space Headsquarter startet der Morgen mit «Breath­work». Mit drei Minuten Verspätung trifft die letzte Teilnehmerin ein – ausser Atem und gestresst, weil der «kurze» Call doch nicht so kurz war. Jeans und T-Shirt behält sie an. Atmen und Liegen geht auch ohne Yoga-Leggings. Sie schliesst die Augen. Einatmen. Ausatmen. Vielleicht ist das der einzige Moment heute, in dem nichts von ihr verlangt wird. Danach geht es direkt weiter – zum Community-Brunch.

Jeden Mittwoch wird hier aufgefahren wie im Boutique-Hotel: Croissants, Brot, Käse, Birchermüesli und Kuchen. «Rechtzeitig kommen lohnt sich», sagt die Rezeptionistin, hier «Workspace Host» genannt. Um halb zehn eröffnet das Buffet, die Sofa-Lounge füllt sich. Ein paar haben den Laptop dabei, die meisten aber geniessen Pause und Networking. Noch ein Glas Orangensaft?

Man muss sich die Coworking-Spaces von Headsquarter in der Zürcher Innenstadt vorstellen wie eine Fusion von Hotel und Büro. Ein Arbeitsplatz, der mehr Business-Club ist. Dieses Phänomen nennt sich Work-Life-Blending – und meint, dass die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit verwischen. Denn wer mittwochs beim Firmen-Brunch Orangensaft ausschenkt, arbeitet schon – nur fühlt es sich nicht so an.

Neu ist, dass jetzt auch die Corporate-Welt die Coworking-Spaces entdeckt. Ganze Firmen mieten sich ein, rücken mit riesigen Teams an. Früher waren Coworking-Spaces die Spielwiesen von Freelancern, die Labore für digitale Nomaden, Orte der Ideen, mit Latte-Art-Cappuccino und gelegentlich zu lauter Elektro-Playlist. Hier wurde gearbeitet, aber auch inszeniert: Freiheit statt Stechuhr, Brainstorming statt Vorstandssitzung. Eine Kultur, die Phantasie stimulieren, Hierarchien aufbrechen und das Individuum in den Mittelpunkt rücken sollte.

Bald bemerkten die Anzugträger: Das könnte auch uns ganz gut stehen. Versicherungen, Steuerberatungen, IT-Firmen – Bastionen der Excel-Tabellen und Geschäftsberichte – haben Coworking-Spaces neuerdings als effizientes Rebranding entdeckt. Sie geben ihre Räumlichkeiten auf und ziehen in Coworking-Spaces. Statt nach Spannteppich riecht die Firma plötzlich nach Innovation. Statt Kantinen-Einheitsbrei gibt es Barista-Kaffee. Und statt Trennwänden: viel, viel Glas.

Die Idee von der Selbstverwirklichung wird zum Marketinginstrument der Konzerne. Auch weil sich der Arbeitsmarkt wandelt: Junge Talente wollen keine Schreibtischkäfige, sondern Orte, die nach Freiheit aussehen. Wobei – ist das hier wirklich neues Arbeiten, oder ist es nur eine teure Verpackung der alten Kontrolle? Läutet das schicke Ambiente einen Kulturwandel ein, oder ist es einfach ein Köder, um die Belegschaft subtil zurück in die Präsenzarbeit zu locken?

Letztlich geht es um eine uralte Frage: Wie viel Freiheit kann ein Büro bieten, bevor es doch wieder um Produktivitätskurven geht? Und: Bleibt das Home-Office am Ende nicht doch die attraktivere Option – weniger chic, aber mit echter Selbstbestimmung?

In den neuen Räumen von Headsquarter sieht man zuerst: keine Schreibtische. Stattdessen eine burgunderrote Wendeltreppe, Marmorboden, Empfang wie in einem Hotel. Dort, wo sonst Zimmerschlüssel hängen, prangen Firmenlogos. Das Interior Design? Vom Berliner Studio Aisslinger entworfen – bekannt für Hotels wie das «25 hours» an der Langstrasse in Zürich. Ein Yogastudio in Hellrosa, ein Podcastzimmer in dunkelrotem Stoff, ein Meetingraum wie eine Spielzeugwerkstatt, eine Kantine wie ein Café. Dazu Magazine mit Titeln wie «The Big Tech Issue» oder die «Harvard Business Review». Im Hintergrund läuft Ambient-Sound.

Das neue Büro als Schlüssel zur Transformation

«Eine Führungskultur über Insignien der Macht, mit Einzelbüros und geschlossenen Türen, ist nicht zukunftsfähig», sagt Roman Timm, der CEO des Schweizer Immobilienportals Newhome. «So möchten jüngere Generationen nicht mehr arbeiten.» Seit die Firma zu Headsquarter umgezogen ist, hat niemand mehr einen eigenen Schreibtisch. Auch nicht der CEO. «Ich arbeite jeden Tag an einem anderen Arbeitsplatz», sagt Timm.

Den Chefposten hatte er gerade erst übernommen, als Newhome Anfang 2021 die alten Büros in der Nähe des Zürcher Volkshauses auflöste und in den Coworking-Space einzog. Es war die Entscheidung seines Vorgängers, der die Firma aus gesundheitlichen Gründen überraschend verlassen musste. Newhome habe in finanziellen Schwierigkeiten gesteckt, und ein Umzug in neue, luxuriösere Büros sei in dieser Situation nicht sein erstes Bedürfnis gewesen, sagt Timm. Heute ist er froh über den Entscheid seines Vorgängers – und sieht den Umzug als Schlüssel zur Transformation: eine Möglichkeit, um Ballast abzuwerfen, «vollständig digital und papierlos zu werden».

Das Podcast-Studio am neuen Standort von Headsquarter an der Stockerstrasse. (Foto: PD)

Mit jeder entsorgten Dokumentenmappe lösten sie sich von alten Mustern. Es sollte mehr Dynamik hereinkommen: «Wir arbeiteten bewusst daran, gemeinsam mehr Wertschöpfung zu generieren, als dies bei einem Team mit Einzelkämpfern der Fall ist.»

Roman Timm ist 58 Jahre alt und hier «einer der Ältesten». Er trägt ein Schlüsselband mit dem türkisgrünen Logo von Newhome um den Hals. Eine Anwesenheitspflicht gibt es bei ihm nicht. «Braucht es nicht», sagt der CEO. «Die Mitarbeitenden kommen ins Office, wenn das Bedürfnis nach Interaktion besteht.» Für das Team von 22 Leuten stehen 18 Schreibtische zur Verfügung. Sind einmal alle besetzt, weichen sie in die Gemeinschaftsräume oder in ein Sitzungszimmer aus.

Was das kostet? Timm winkt ab. «Die Frage greift zu kurz.» Ihm geht es um Teamgeist. Für ihn zählt, dass in den vier Jahren kaum jemand die Firma verlassen hat. Einige tausend Franken Miete sparen, aber dafür Talente und damit Know-how verlieren? «Nein, danke!» Für Timm steht fest: Das Büro ist die Basis für Unternehmenskultur und ein Ort, um gute Arbeitskräfte anzulocken. Im Coworking-Space kann er seinen Mitarbeitenden bieten, «was sonst nur Firmen mit 200 Mitarbeitenden können», sagt Roman Timm. Dass es in dieser pastellfarbenen Umgebung mit einladender Sofalandschaft und Samtkissen zu gemütlich werden könnte, darüber macht er sich keine Sorgen. «Wenn jemand den ganzen Tag in der Hängematte arbeiten will, dann soll er das tun.» Viel eher müsse er seine Leute auch einmal bremsen. «Wir haben viel Drive im Unternehmen», sagt er. Die Geschwindigkeit der Arbeitswelt steigt, der Coworking-Space gibt ihr eine neue Choreografie: Breathwork, Brunch, Boutique-Büro. Entspannter arbeiten, aber doch immer noch: arbeiten.

Damit dieses Gemeinschaftsgefühl am Arbeitsplatz entsteht, müssen die Mitarbeitenden vor Ort sein. Unternehmen wie Amazon, JP Morgan oder Sulzer kehren dafür zurück zum alten Diktat: Bürozwang. Ob das funktioniert? Laut einer Studie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften ist die Möglichkeit, hybrid zu arbeiten, für 87 Prozent der Arbeitnehmenden Bedingung. Die Home-Office-Frage wird zur zweiten Lohnfrage. HR-Fachleute berichten, sie gleich zu Beginn eines Bewerbungsgesprächs zu stellen, je nach Antwort könne dieses gleich wieder beendet werden.

Wie also bringt man die Leute freiwillig zurück ins Büro? Der erste Schritt ist offenbar, nicht mehr von einem Büro zu sprechen. Das deutsche Wort, abgeleitet vom französischen Wort bureau, einst mit Amtsstube übersetzt, klingt noch immer zu sehr nach Verwaltungsapparat und vergilbten Dokumentenmappen. Neu ist die Rede von «Hub», «Campus» oder «Business-Club». Headsquarter sagt, man biete «Shared Workspaces» an – Firmenbüros im Coworking-Space. Weil man sich in der Schweiz schwertue mit dem Begriff Coworking.

2019 gab es laut der Immobilienberatungsfirma Jones Lang La Salle (JLL) in Zürich 19 solcher «Flex-Spaces» auf insgesamt 28 000 Quadratmetern. Fünf Jahre später hatte sich die Fläche fast verdreifacht. Headsquarter, 2018 gegründet, eröffnete seither fünf Standorte und zog Mieter wie Birkenstock, das Softwareunternehmen Salesforce oder die Neobank Revolut an. Die Teams, in der Grösse von 2 bis 160 Leuten, arbeiten Scheibe an Scheibe, teilen sich Sitzungszimmer und rollen mittags nebeneinander die Yogamatte aus. Konzentration und Entspannung, Tür an Tür.

In der Mittagspause ist Loslassen angesagt. «Lunch Flow» im Yogastudio. Die Lehrerin sagt, wir alle seien innerlich ständig viel zu angespannt, so können sich die Muskeln nicht mehr lösen, es entstehen Rückenschmerzen –auch mit Stehpult. Die Yoga-Übungen fokussieren fast alle auf Brustöffnung, die Anti-Bewegung zur nach vorne gebeugten Laptop-Haltung.

Danach stehen in der Küche frische Zitronen und Ingwer für den Tee bereit. Eine Frau streicht sich einen Avocado-Toast, während sie mit der Kollegin, die nicht im Yoga war, aber trotzdem Leggings und Kapuzenpullover trägt, über diese eine wirklich gute Adresse für Schönheitseingriffe plaudert. Nicht nur unterschiedliche Branchen treffen bei Headsquarter aufeinander, sondern auch verschiedene Dresscodes und Generationen. An der Garderobe hän­gen frisch gewaschene Hemden aus der Reinigung. Eine Erinnerung daran, dass es immer noch eine Grenze gibt – zwischen Beruf und Leben, zwischen Performance und Persönlichkeit. Auch wenn sie nur aus Stoff besteht.

Das Geschäftsmodell? All-inclusive

Man merkt Anil Varghese an, dass er aus der Hotelbranche kommt. Wenn der CEO von Headsquarter durch die Gänge geht, begrüsst er die hier Arbeitenden mit Namen, schüttelt Hände, fragt, ob alles gut sei. Er bewegt sich durch das Haus wie ein Hoteldirektor durch die Lobby – immer präsent, aber nie aufdringlich. Ein Gastgeber, kein Chef. Wäre der 39-Jährige nicht an die École hôtelière de Lausanne gegangen, hätte er Architektur studiert. Jetzt kombiniert er bei Headsquarter beides. Seine Abschlussarbeit an der Universität St. Gallen schrieb er über «Workspaces as a Service».

Das Geschäftsmodell von Headsquarter? All-inclusive. Alle Kosten sind im Mietpreis enthalten – vom Schreibtisch über die Internetverbindung bis zur Briefmarke. «Plug and play», nennt es Varghese. Das Einzige, was ein Mieter noch selbst für seine Mitarbeitenden organisiert, sind die Laptops. Bildschirm und Bürostuhl stehen am Arbeitsplatz bereit. Der Empfang ist besetzt, die Post wird verwaltet. In der Küche hat es Tee, Kaffee und Snacks: Baumnüsse, Schokolade, Erdbeergummis und getrocknete Aprikosen. Neben dem Früchtekorb steht ein Smoothie-Mixer. Das Team von Heads­quarter sorgt dafür, dass kein dreckiges Geschirr herumsteht und kein Käsesandwich im Kühlschrank schimmelt. Statt von Miete spricht man von «Mitgliedschaft».

Was das kostet? Eine Beispielrechnung: Für ein Team von 30 Leuten fallen rund 25 000 Franken pro Monat an, inklusive 20 Schreibtischen und einem privaten Meetingraum. Die Ausga­ben mit einem konventionellen Büro zu vergleichen, ist nicht ganzeinfach. In Zürich müsste man an vergleich­barer Lage in der Innenstadt mit rund 20 000 Franken für die Miete rechnen, hinzu kämen sämtliche Nebenkosten sowie Investitionen für den Ausbau und die Raumausstattung, Ausgaben fürs Office-Management – und die Frage: Sollen Apéros, Sportunterricht und Team-Events vom Arbeitgeber übernommen werden?

Wer durch die Räumlichkeiten von Headsquarter geht, erkennt die Dichte an Tech-Companys. Führende Social-Media-Konzerne und AI-Firmen haben hier ihre Büros. Was sie reizt? Unter anderem die Skalierbarkeit: Büroflächen können dynamisch angepasst werden, ohne an Jahresverträge gebunden zu sein. Jede vierte Anfrage, die Headsquarter erreicht, stammt von einem Unternehmen, das mit künstlicher Intelligenz arbeitet. Deren Angestellte sind hochqualifiziert und begehrt – und entsprechend anspruchsvoll, was ihren Arbeitgeber angeht. Es geht nicht nur um Geld, sondern um das Gesamtpaket: Wo sie sitzen, was sie trinken, wie sich das Licht anfühlt. Denn das Büro ist nicht nur ein Ort – es ist eine Botschaft.

Vom Schreibtisch aufs Sofa oder nach draussen auf die Dachterrasse

Es war der amerikanische Architekt Frank Lloyd Wright, der 1936 für SC Johnson Wax eines der ersten Grossraumbüros der Welt entwarf. 250 Menschen arbeiteten im selben offenen Raum, was zu mehr Austausch, mehr Kreativität und mehr Produktivität führen sollte. Passiert ist das Gegenteil: Für eine Harvard-Studie begleiteten Wissenschafter 2018 zwei Firmen beim Umzug vom Einzelbüro ins Grossraumbüro. In beiden Fällen nahmen die Gespräche unter den Mitarbeitenden um rund 70 Prozent ab, während E-Mails und Slack-Nachrichten um 20 bis 50 Prozent zunahmen. Die Menschen taten, was sie immer tun, wenn sie sich beobachtet fühlen: Sie zogen sich zurück. Nicht in einen physischen Raum, sondern in den digitalen.

Werkstatt-Look: Das ausgefallenste der insgesamt 35 Sitzungszimmer von Headsquarter. (Foto: PD)

Die Erkenntnisse aus Amerika decken sich mit einer Studie der Fachhochschule Nordwestschweiz aus dem letzten Jahr: Wer ein Einzelbüro hat, ist am glücklichsten, während jene im klassischen Grossraumbüro die höchste Unzufriedenheit aufweisen. Wesentlich besser schneidet das in Zonen aufgeteilte Grossraumbüro ab (wenn auch nicht ganz so gut wie das Privatbüro). Der Schreibtisch ist hier nur noch ein Ort von vielen. Laut einer Umfrage von JLL haben vor Ausbruch der Pandemie drei Viertel der befragten Unternehmen jedem Mitarbeiter einen eigenen Arbeitsplatz angeboten. In Zukunft erwägen noch rund 40 Prozent, dies zu tun. Stichwort: Shared Desk.

Im obersten Stockwerk des Headsquarter-Gebäudes an der Stockerstrasse gibt es einen Gaming-Bereich und ein Mini-Kino. Eine Dachterrasse, die ums ganze Haus führt, und eine Bar, die auch Platz für ein DJ-Pult bietet. Alles ist schön. Es ist verspielt, ein bisschen extravagant – und genau so, wie Boutique-Hotels heute aussehen.

«Darf ich hier telefonieren?», fragt ein Mann im Anzug, der offensichtlich noch neu ist bei Headsquarter. Er darf – ist schliesslich ein «Workspace». Die Idee des hybriden Arbeitsmodells ist nicht nur, dass man zwischen zwei Orten wechselt, sondern auch vom Schreibtisch aufs Sofa oder nach draussen auf die Dachterrasse, wo E-Mails an der Sonne beantwortet werden.

Die sogenannten «Escapist Spaces» sind aber auch als Begegnungszone angelegt. Sie soll einladen zum spontanen Gespräch über das Fussballspiel von gestern Abend, über die Arbeit und darüber, weshalb der Chef heute Morgen wieder so mies gelaunt ist. Unterhaltungen, die via Zoom oder Slack nicht zustande kommen, sind im Grossraumbüro viel seltener, als man sich ursprünglich erhofft hatte.

Wie Räume die Motivation, Leistung und Konzentration beeinflussen können

Hinter dem Zonenkonzept steckt die Erkenntnis: Jeder und jede arbeitet anders. Manche kommen ins Büro, um dem Kinderlärm zu entfliehen, sie bleiben am Schreibtisch sitzen oder buchen sich allein einen Meeting-Raum. Andere sind froh, wenn möglichst viel läuft, wenn es nicht mehr so still und einsam ist wie in der engen Stadtwohnung, und beantworten ihre ­E-Mails in der Lounge.

Die Architekturpsychologin Martina Guhl rät davon ab, «Workspaces» –auch sie will nicht mehr vom Büro sprechen – zu perfekt zu gestalten. Es dürfe nicht alles schon fertig sein. «Die Möglichkeit zu haben, in die Gestaltung eingreifen zu können, ist bedeutsam, um sich an einem Ort wohlzufühlen», sagt sie. Wie auf öffentlichen Plätzen, auf denen sich Stühle nicht bewegen lassen: «Ist alles verschraubt und verschweisst, fühlt man sich sofort eingeengt und festgenagelt auf ein bestimmtes Verhalten.»

Martina Guhl leitet den Geschäftsbereich Architekturpsychologie am Institut für angewandte Psychologie an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften.

Selbstbestimmtheit sei ein wichtiges Nutzerbedürfnis, sagt sie, daneben gebe es drei weitere:

  • Die Wahlfreiheit – entscheiden zu können, ob ich in Gesellschaft arbeiten will oder allein, ob ich am Fenster sitze oder in der Ecke, ob ich am Morgen zuerst zwei Stunden zu Hause arbeite oder nicht.
  • Das Territorium, also dass ich mir meinen eigenen Platz abstecken und genügend Platz für mich einnehmen kann.
  • Und die Aneignung, die mir erlaubt, den Tisch so einzustellen, wie ich will, meine Stifte zu platzieren oder zum Beispiel Vorhänge zuzuziehen.
 

«Aus der Forschung weiss man, dass diese vier Nutzerbedürfnisse einen enormen Einfluss auf Motivation, Leistung, Konzentration und das Commitment zu einem Unternehmen haben», sagt Martina Guhl. Doch: «Es kann anstrengend sein, sich seinen Platz immer wieder neu einzurichten.» Das werde in Coworking-Spaces oft unterschätzt. Eine Rolle spiele dabei die Affordanz: «Eigenschaften von Räumen vermitteln eine Botschaft, die den Menschen zu einem bestimmten Verhalten auffordern.» Sprich: Ein Raum sollte intuitiv dazu einladen, für das genutzt zu werden, wofür er gedacht ist – ein Sitzungszimmer sollte Diskussionen fördern, ein Kunstraum kreatives Arbeiten erleichtern.

Ein Meeting-Raum, der wie eine Werkstatt daherkommt, fordere dazu auf, Neues zu schaffen, sagt Guhl: «Einen Raum, wo man mal wieder werkeln kann, vielleicht auch ohne digitale Geräte» erachtet sie als sinnvoll. Er fördere die spontane Aneignung, die man besonders bei Kindern gut beobachten könne. «Sie nehmen Räume spielerisch für sich ein.»

Das Büro als Kita für Erwachsene. Jeder sucht sich seine Ecke zum Arbeiten – und ab und zu zum Spielen. Znüni und Zvieri stehen bereit. Immer ist etwas los. Vom Debriefing geht es direkt zum nächsten Briefing.

Das ist die Crux flacher Hierarchien: Alles will offener sein, es sollen mehr Menschen zu Wort kommen, und Entscheidungen sollen öfter gemeinsam ausgehandelt werden. Das erfordert mehr Sitzungen. Mehr Beisammensein.

Rückzugsorte im offenen Raum

Bei Headsquarter sieht man die Leute mit kabellosen Kopfhörern in den Ohren, Laptop in der einen, Cappuccino in der anderen Hand, durch die Gänge gehen. Was sie suchen, ist: Ruhe. Sie setzen sich in eine der Telefonboxen, die auf allen Stockwerken verteilt sind und anders als die Sitzungszimmer nicht vorab reserviert werden müssen – Glaskammern mit Noise-Cancelling und perfektem Licht für Videocalls. Ein Rückzugsort im offenen Raum.

Denn: Digitale Kommunikation hat den Arbeitsalltag lauter gemacht. Ständig blinkt irgendwo ein Chat-Symbol, poppt eine neue Nachricht auf – meist nicht eine, sondern gleich fünf. Der moderne Arbeitsplatz ist ein Meer aus Reizen. Wer hier bestehen will, braucht Strategien – oder eine Tür, die sich schliessen lässt.

Im neuen Bürokomplex Hortus bei Basel können einzelne Schreibtische, ein Teilgeschoss oder ein ganzes Stockwerk gemietet werden. (Foto: PD)

Ein ruhiges Ambiente verspricht das neue Bürogebäude Hortus in Allschwil bei Basel, das im Juni eröffnet. Der Bau der Immobilienfirma Senn besteht aus Holz, Lehm und Altpapier und soll nach rund dreissig Jahren energiepositiv sein, das heisst, die graue Bauenergie wird bis 2055 zurückgezahlt. Gestaltet wurde das Gebäude von den Stararchitekten Herzog & de Meuron. Im Innenhof errichtet der niederländische Gartenkünstler Piet Oudolf eine wild wuchernde Pflanzenwelt zur Förderung der Biodiversität. Und im Parterre zieht der angesagte Zürcher Fitnessklub Balboa zusammen mit dem veganen Gastrobetrieb Roots ein.

Das moderne Büro klingt nach einer Utopie für Wissensarbeiter. Eine, in der die Belegschaft zwischen Laptop und Latte macchiato schwebt, den Stress wegatmet und mit jedem achtsam gehobenen Gewicht eine Portion Belastung abwirft. Die Frage ist: Reicht das? Ein Hamsterrad bleibt ein Hamsterrad, auch wenn man es mit Smoothies schmiert.

Wie also schafft man es, den Kopf wirklich freizubekommen? Eine Möglichkeit wäre: die Ursachen des Stresses angreifen – Überstunden, toxische E-Mails, Meetings ohne Ende. Aber das ist eher nicht im Sinne des Kapitalismus. Dann doch lieber ein Meditationskissen im Pausenraum.

Der «Third Place», wie ihn der amerikanische Soziologe Ray Oldenburg einst in seinem Buch «The Great Good Place» (1989) als Ort des zwanglosen Beisammenseins definierte, mutiert zum Pausenraum mit Barista-Kaffee und Tischtennisplatte. Der Feierabend ist nie mehr ganz Feierabend, und der Arbeitsplatz nie mehr nur Arbeit. Klar, architektonisch ergibt das Sinn. Vor hundert Jahren, in der Moderne, wurden Wohn-, Arbeits- und Freizeiträume nach den Ideen berühmter Vertreter wie Le Corbusier säuberlich getrennt, heute verschmelzen sie. Urbanisten feiern das als neue Lebendigkeit, Unternehmen als Produktivitätsschub.

Nur: Wem nützt das am Ende? Führt, wer abends nach Feierabend auf der Bürodachterrasse ein Bier mit Kollegen trinkt, nicht einfach nur die Tagesordnung fort – informeller, aber nicht zwangloser? Die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit lösen sich nicht auf, sie zerfasern nur.

Das Büro wird gemütlicher, die Meetings werden informeller, zwischen Schreibtisch und Siebträgermaschine entstehen Freundschaften. Aber am Ende des Tages zählt wie stets, dass die Arbeit gemacht ist. Wenn unten in der Lobby abends die Lichter ausgehen, wird oben noch weitergetippt – nicht gezwungen, aber auch nicht zum Spass.

Lea Hagmann, «NZZ am Sonntag Magazin»

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