Fach- und Führungskräftemangel bereits an vielen Orten schmerzhaft spürbar Neben dem demografischen Wandel werden dafür wahlweise die Jungen verantwortlich gemacht, die nicht mehr vollen Einsatz leisten würden und die Frauen, die die Verantwortung scheuten. Die wahren Gründe analysiert der Gender Intelligence Report 2022.
Neben dem demografischen Wandel werden dafür wahlweise die Jungen verantwortlich gemacht, die nicht mehr vollen Einsatz leisten würden und die Frauen, die die Verantwortung scheuten. Die wahren Gründe analysiert der Gender Intelligence Report 2022.
Die Jungen, die Frauen – auf Seiten der Arbeitnehmenden wird vorwurfsvoll mit Fingern auf Arbeitgeber gezeigt, die die erfahrene Generation nach 50 nicht mehr haben wolle. Gängige Unterstellungen gibt es hüben wie drüben. So einfach die Erklärungen, so irreführend sind sie oft, denn es ist eben nur ein Körnchen Wahrheit dran. Nicht mehr.
Vielfalt-Vorbild Industrie
Der Mensch liebt eingängliche Interpretationen für komplexe Phänomene. Und dabei bewahrheitet sich einmal mehr das Sprichwort: Für jedes schwierige Problem gibt es eine einfache Lösung, die falsch ist. Mythen haften wie Pech an unseren Wahrnehmungen und bilden blinde Flecken, wenn wir nach wirklich guten Lösungen suchen.
Die Talente sind nämlich da: gut ausgebildet und arbeitsfähig. Jung und Alt – Männer und Frauen. Der gefühlte Mangel wird auch vom Management selbst verschuldet, das die geeigneten Talente zu wenig klar erkennt und anzieht bzw. befördert. Das ist eine wesentliche Erkenntnis aus dem neusten Gender Intelligence Report 2022 von ADVANCE und der HSG.
Zum ersten Mal seit Erscheinen der jährlichen Studie werden die Resultate der Untersuchung nach Branchen aufgeschlüsselt. Und siehe da, welche Überraschung tritt zu Tage: jene Branchen mit traditionell geringem Frauenanteil und schon lange währendem Fachkräftemangel sind deutlich besser darin, ihre weiblichen Talente zu erkennen und zu befördern. Sie tun dies aus Not so scheint es.
Eine zweite Erkenntnis aus der Studie regt zum Grübeln an. Frauen mit internationaler Herkunft erklimmen die Karriereleitern wesentlich einfacher als Schweizer Frauen. Die Differenz beträgt Faktor 3.5! Diese Zahl gibt keine Auskunft darüber, ob es vor allem die Schweizer Frauen selbst sind, die sich vor Karrieren scheuen oder ob es eher äussere Faktoren sind, die dazu beitragen. Die internationale Verhaltensforschung und Vereinbarkeitserfahrung lässt Letzteres vermuten. Die Individualbesteuerung gilt als grosser Erwerbsanreiz für beide Elternteile, ebenso die gleiche Elternzeit und das Vorhandensein von guten und bezahlbaren Tagesstrukturen von 0 bis 15 Jahren. All das fehlt in der Schweiz, im Gegensatz zum Ausland. In der Schweiz ist immer noch das Prinzip spürbar «Du musst Dich entscheiden: Familie oder Karriere – beides geht nicht». Da hat uns das Ausland viel voraus. Aus Not so scheint es, weil ein einzelner Lohn nicht mehr für die Familie zum Leben reicht.
Vielfalt-Vorbild: SMI-Unternehmen
Das dürften mitunter Gründe gewesen sein, weshalb die andere im September erschienene Studie, der Diversity Report Schweiz 2022, unser Land als international berüchtigte Vereinbarkeits-Hölle bezeichnet. Entgegen anderen optimistischeren Publikationen zeichnet die Vollerhebung von GetDiversity ein durchaus ernüchterndes Bild der Durchmischung in Verwaltungsräten und Geschäftsleitungen der Schweizer Aktiengesellschaften auf. Es sind weiterhin 35% aller börsenkotierten Unternehmen, die völlig ohne Frauen im Verwaltungsrat auskommen und gar 58%, die keine einzige Frau in der Geschäftsleitung aufführen.
Die vorbildlichen Firmen finden sich hauptsächlich unter den zwanzig Unternehmen des SMI, die bezüglich Durchmischung schon länger und international unter Beobachtung stehen. Rating-Agenturen und Stimmrechts-Beratungsfirmen lassen die Geschlechterdurchmischung in ihre Beurteilungen und Empfehlungen einfliessen und das zeigt Wirkung.
In den Verwaltungsräten der über 8’000 Schweizer Aktiengesellschaften mit über 50 Mitarbeitenden finden sich weiterhin 85% Männer. 63% aller mittleren und grossen Firmen der Schweiz verzichten ganz auf die Mitwirkung von Frauen in der strategischen Führung. Wenn man sich vor Augen führt, dass die Geschlechter-Durchmischung nachweislich zu mehr Unternehmenserfolg führt, stimmt es bedenklich, welch grosses Wohlstandspotenzial in der Schweiz einfach ungenutzt brach liegt.
Zur Expertin
Esther-Mirjam de Boer ist Unternehmerin, Verwaltungsrätin, Politikerin und CEO von GetDiversity in Zürich. Das Kredo ihrer Firma: Vielfalt bringt grössere unternehmerische Erfolge. Seit 2007 setzt sich GetDiversity systematisch fürDurchmischung ein. Kernkompetenz ist dabei, Vakanzen in Verwaltungsräten und Geschäftsleitungen vermehrt mit qualifizierten Frauen zu besetzen. Die Firma erhebt jährlich den «Diversity Report Schweiz».
Bild: Remo Neuhaus