Aufträge wären da, aber Arbeiter fehlen Die grösste Sorge der Schweizer Industrie ist nicht eine Rezession, sondern fehlende Arbeitskräfte. Vermehrt werben sie Arbeitskräfte im Ausland an, die Zuwanderung zieht an.
Die grösste Sorge der Schweizer Industrie ist nicht eine Rezession, sondern fehlende Arbeitskräfte. Vermehrt werben sie Arbeitskräfte im Ausland an, die Zuwanderung zieht an.
Die Schweizer Industrie hatte im dritten Quartal überraschend starken konjunkturellen Schub. Die Nachfrage bröckelt zwar da und dort, aber die Auftragsbücher sind prall gefüllt. Manche Firmen wären sogar froh, ein bisschen mehr Luft zu haben.
Siegfried etwa kommt kaum hinterher. In Zofingen fertigt das Unternehmen Generika und Impfstoffe für die Pharmaindustrie. Wenn es könnte, würde es die Produktion hochfahren. Aber die Firma findet keine Chemie- und Pharmatechnologen, der Arbeitsmarkt ist leergefegt. Ähnlich ergeht es Bucher. Personalnot hindert den Maschinenbauer gleich in mehreren Ländern daran, den Ausstoss zu erhöhen.
Schindler bezeichnet den Fachkräftemangel als eine der grössten Herausforderungen. Trotz grossen Anstrengungen sind in der Montage von Liften und Rolltreppen mehr als vierzig Stellen offen. Sie zu besetzen, bereitet dem Konzern «grosse Mühe».
Sogar Ökonomen sind überrascht, wie gut die Wirtschaft läuft. «Die Schweiz sticht im Moment heraus, aber sie wird von Europas Sorgen nicht verschont bleiben», schreibt die Banque Syz. Experten streiten gerade weniger darüber, ob die Kostenexplosion bei Strom und Gas eine Rezession auslösen wird. Die Frage ist nur noch, wie stark sich die Wirtschaft abkühlen wird.
Grossfirmen haben Vorkehrungen getroffen, um gut durch die Energiekrise zu kommen. Clariant etwa hat die Anlagen so umgebaut, dass sie zwei verschiedene Energieträger nutzen können. Den Konzernchef beschäftigt ein anderer Kostenblock viel stärker. «Die Energiepreise haben den Höhepunkt überschritten, aber bei den Löhnen kommt noch eine Welle», sagt Conrad Keijzer. In der Industrie stünden 2023 deutliche Lohnerhöhungen an.
Lohninflation in Fabriken
Wenn Arbeitskräfte knapp sind, müssen Firmen ihren Leuten mehr zahlen. Und das tun sie bereits. Die Summe der ausbezahlten Löhne hat laut der Credit Suisse (CS) im ersten Halbjahr um 6 Prozent zugenommen. Jede siebte Industriefirma habe im Lauf des Jahres ausserordentliche Lohnerhöhungen vorgenommen.
Höhere Personalausgaben sind kein Thema, über das Chefetagen den Investoren gerne berichten. Diesen Herbst kommen sie jedoch nicht darum herum. «Wir haben Lohninflation in den Fabriken», sagte Timo Ihamuotila, Finanzchef von ABB an einer Telefonkonferenz. Die Mehrausgaben für Saläre hätten sie durch Preiserhöhungen kompensieren können. Aber natürlich belasten sie den Ertrag.
Schindler kämpft ebenfalls mit Lohninflation. Diese sei auch im Schweizer Geschäft spürbar, sagt eine Sprecherin. In den nächsten Wochen will der Konzern entscheiden, wie und in welchem Umfang er darauf reagiert.
75 000 Zuzüger erwartet
Claude Maurer beobachtet in der Schweiz eine Verschiebung hin zu besser bezahlten Tätigkeiten. Die zahlreichen ausgeschriebenen Arbeitsplätze werden wieder verstärkt mit Ausländerinnen und Ausländern besetzt. «Die Zuwanderung hat sich jüngst beschleunigt», schreibt der Chefökonom Schweiz der CS.
Die Bank geht davon aus, dass dieses Jahr 75 000 Personen aus dem Ausland in die Schweiz ziehen. Der Trend zu einer höheren Immigration werde anhalten, solange die Wirtschaft in den Nachbarländern weniger stark wachse als jene der Schweiz. Und darauf deuten die Prognosen hin.
Conrad Keijzer geht sogar einen Schritt weiter. «Die Rezession in Europa hat schon begonnen», sagt der Clariant-Chef. In dieser Schärfe äussern sich Manager selten, das «R-Wort» geht den meisten schwer über die Lippen. In ihren Berichten umdribbeln sie es gerne, reden lieber vage von Abschwung.
Keijzer muss es wissen. Die Chemie gehört zu den ersten Branchen, die konjunkturelle Veränderungen spüren. Sie nimmt Entwicklungen vorweg, die der gesamten Wirtschaft bevorstehen. Vom Mobiltelefon über Jeans bis zum Auto, in fast allen Gütern des täglichen Gebrauchs steckt Chemie.
Keijzers Einschätzung klingt im ersten Moment paradox, hat Clariant doch im dritten Quartal den Umsatz um 22 Prozent gegenüber dem Vorjahr gesteigert. Der fulminante Zuwachs war allerdings hauptsächlich eine Folge der Inflation, sie hat die Preise aufgebläht. Der Absatz wuchs zwar ebenfalls, mit einem Plus von 9 Prozent entwickelte er sich aber deutlich weniger dynamisch als in den Monaten davor.
Die vollen Auftragsbücher überdecken, dass die Geschäftsaktivität nachlässt. Der Einkaufsmanager-Index lag im August weiter über der Wachstumsschwelle. Doch zeigt er, dass Industriefirmen seit April weniger Rohmaterial einkaufen (siehe Grafik).
Clariants Kunden haben im Herbst begonnen, Lager abzubauen. Es ist ein typisches Verhalten, um sich auf einen Rückgang der Bestellungen vorzubereiten. Auch Schindler spürt das. Die Nachfrage nach Liften und Rolltreppen sinkt rasch und markant. Lag der Auftragseingang Mitte Jahr noch über dem Vorjahresniveau aus, sackte er Ende September auf 9Prozent darunter ab.
Schindler-Chef Silvio Napoli spricht gar von einer der schwierigsten Zeiten, die er in zwanzig Berufsjahren erlebt habe. «Alles verändert sich so rasch», sagte er an einer Telefonkonferenz.