Der fehlende Strommarkt schädigt Private und KMU Die gestoppte Liberalisierung verzerrt die Strompreise. Vielen Versorgern fehlt es an Professionalität.

Die gestoppte Liberalisierung verzerrt die Strompreise. Vielen Versorgern fehlt es an Professionalität.

 

Die Staumauer am Gelmersee im Berner Oberland. Bild: unsplash

Die Energiekrise hat ein erstes Opfer gefordert: die seit Jahren diskutierte vollständige Öffnung des Schweizer Strommarktes. Sie ist vom Parlament in Bern gekippt und auf die lange Bank geschoben worden. So bleibt es dabei: Inder Schweiz können nur 32 500 Grossverbraucher den Lieferanten wechseln. Private und die meisten KMU hingegen – sie machen den grössten Teil der über5 Mio. Endverbraucher aus – bleiben an ihren Versorger gefesselt.

In der Politik herrscht Schulterzucken. Die Marktöffnung sei politisch umstritten und in der Bevölkerung ohnehin unbeliebt, heisst es etwa. Es bleibe gar nichts anderes übrig, als sie zu stoppen. Sonst gefährde man den Ausbau der erneuerbaren Energien. Dieser wird gerade im Parlament mit einer Reihe von Gesetzesanpassungen vorangetrieben.

Doch das bedeutet: Neben den Privaten sind auch die 600 000 KMU in der Schweiz «vollständig abhängig davon, dass ihr lokales Elektrizitätswerk kompetent ist in der Strombeschaffung und keine zu hohen Risiken eingeht», sagt René Baggenstos vom Energiedienstleister Enerprice. Der Grund: 70% der Schweizer Versorger produzieren selber gar keinen Strom, weil sie keine Kraftwerke besitzen. Sie beschaffen die Energie vielmehr auf dem europäischen Markt.

Manche Versorger beherrschen diesen Prozess gut. Andere jedoch wurden auf dem falschen Fuss erwischt, als die Preise auf den Energiemärkten nach dem Angriffs Russlands auf die Ukraine durch die Decke gingen (siehe Grafik).

Das zeigt sich bei den Strompreisen, welche die Schweizer Versorger im kommenden Jahr ihren Kunden in der Grundversorgung verrechnen: Sie unterscheiden sich so stark wie noch nie. Die Kosten für die gelieferte Energie reichen laut Baggenstos von 8,5 Rp. pro Kilowattstunde bis zu über 70 Rp. Felix Lossin vom Beratungsunternehmen BEN Energy bestätigt: «Die Situation für Stromkundinnen und -kunden ist so ungerecht wie niemals zuvor.»

Der Wohnort entscheidet

Wegen der fehlenden Marktöffnung entscheidet schlicht und einfach der Wohnort darüber, wie hoch die Stromrechnung ausfällt. Gerade für KMU – also für Firmen mit weniger als 250 Mitarbeitenden – sei das ein unhaltbarer Zustand, sagt René Baggenstos.

Dies gilt insbesondere für all die Unternehmen, die zwar einen hohen Stromverbrauch haben, die aber trotzdem nicht die Schwelle erreichen, bei der sie in den freien Markt wechseln können. Es handelt sich hierbei etwa um Hotels, Schreinereien oder Bäcker. «Im Extremfall kann es sein, dass bei der einen Firma die Geschäfte florieren, während die Konkurrentin in der Nachbargemeinde wegen der hohen Strompreise schliessen muss», sagt Baggenstos.

2023 wird für KMU der Gesamtpreis für Strom – also inklusive aller Abgaben und Netzgebühren – im Median um 24% steigen. In einem geöffneten Markt könnten die Kunden nun einen Versorger wählen, der entweder günstiger ist oder «dessen Strategie zur Strombeschaffung sie vertrauen», erklärt Baggenstos. Das wiederum würde alle Stromversorger zwingen, ihren Stromeinkauf zu professionalisieren – denn sonst laufen ihnen die Kunden davon.

Viele Politiker sehen das genau umgekehrt: Sie schlagen eine sogenannte Rückkehr in die Grundversorgung für all die Unternehmen vor, die sich am freien Markt die Finger verbrannt haben. «Die Grundversorgung ist aber überhaupt keine Garantie dafür, dass Stromkunden tiefe Preise haben», warnt Baggenstos.

In Europa hat sich allerdings gezeigt, dass ein vollständig liberalisierter Strommarkt ebenfalls seine Tücken hat. So liessen sich Kunden in Deutschland und Österreich von Billiganbietern dazu überreden, vollständig auf dem Spotmarkt einzukaufen. Auf diesem wird Strom kurzfristig gehandelt. Lange Jahre war dieser Markt extrem billig – doch als mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine die Preise explodierten, mussten die Stromdiscounter reihenweise Konkurs anmelden.

Solche Probleme sind aber lösbar, wie Baggenstos betont. Zum Beispiel könnten Stromversorger unterschiedliche Produkte anbieten für Bezüger, die ein hohes, ein mittleres oder ein minimales Risiko eingehen wollen. Es entstände eine Situation, die ähnlich ist wie bei den Hypotheken: Wer dort risikofreudig ist, wählt eine günstige, kurzfristige Hypothek. Wer Sicherheit will, setzt auf eine teurere, langfristige Variante.

Aus Sicht von Baggenstos wird sich das Problem noch verschärfen. So gibt es Versorger, die beim Stromeinkauf Dreijahresverträge abschlossen, welche nächstes Jahr auslaufen. Sie werden den gesamten Strom für ihre Kunden neu einkaufen müssen. «Das kann zu grossen Preissprüngen in Gegenden führen, die heute noch günstige Tarife haben», sagt Baggenstos. Insbesondere auf KMU dürften noch einige böse Überraschungen warten.

Auch der Wirtschaftsdachverband Economiesuisse hat kein Verständnis für die erneute Verschiebung der Marktöffnung. Der Grund: Dieser Schritt belastet die Versorgungssicherheit, wie Alexander Keberle, Leiter Infrastruktur, Energie & Umwelt, erklärt.

Keberle rechnet damit, dass es mindestens in den nächsten fünf bis sieben Jahren im Winter immer wieder zu schwierigen Situationen kommt. Die Schweiz könne auf die Schnelle wenig dagegen tun, denn der Ausbau der erneuerbaren Energien brauche Zeit. Kurzfristig gibt es neben der Schaffung von Energiereserven nur ein Gegenmittel: «Ein Stromabkommen mit der EU würde unsere Versorgung deutlich robuster machen», sagt er. Zwar sei die Verhandlungssituation mit der EU derzeit verfahren. Eines sei aber klar: «Ohne eine vollständige Öffnung des Schweizer Strommarktes ist ein Abschluss eines solchen Abkommens ohnehin nicht möglich.»

Nutzlose Smart Meter

Der Stopp der vollständigen Marktöffnung führt laut Felix Lossin vom Beratungsunternehmen BEN Energy zudem dazu, dass es weiterhin keinen Innovationsschub auf dem Strommarkt geben wird – obwohl ein solcher «dringend nötig wäre», wie er sagt. So sei etwa die Dienstleistungsqualität in der Branche äusserst unterschiedlich. «Die einen Elektrizitätswerke haben komplett digitalisierte Angebote, bei anderen gibt es nicht einmal ein elektronisches Kundenportal.»

Besonders stossend sind die Unterschiede bei der Energieberatung – einem Angebot, das in Zeiten der Stromknappheit so wichtig ist wie nie zuvor. Während die einen Versorger diese laut Lossin kostenlos anbieten, gibt es bei anderen fast keine Hilfestellung für Sparwillige.

Ein weiteres Beispiel für die Folgen der fehlenden Innovationskraft sind die neuartigen, digitalen Stromzähler, auch Smart Meter genannt. Solche Geräte sind bereits in 20% der Schweizer Haushalte installiert. Sie können den Stromverbrauch detailliert messen und in Zeiten von Stromknappheit sogar gewisse Geräte abschalten, wenn die Verbraucher das möchten. «Doch kaum ein Haushalte kann auf die Smart-Meter-Daten zugreifen», kritisiert Lossin. Die von den Geräten gesammelten Informationen bleiben in der grössten Energiekrise der letzten Jahrzehnte somit fast vollkommen wirkungslos.

Jürg Meier, «NZZ am Sonntag»

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