Die Schweiz verliert den Anschluss beim Wasserstoff Europa setzt für Stromversorgung und Industrie auf den Energieträger Wasserstoff – die Schweiz droht in Rückstand zu geraten.
Europa setzt für Stromversorgung und Industrie auf den Energieträger Wasserstoff – die Schweiz droht in Rückstand zu geraten.
Die Energiediskussion bewegt die Gemüter: Brauchen wir viel mehr Solaranlagen, gerade auch in den Alpen, und mehr Windräder? Oder sollen wir das erst 2017 erlassene Verbot für den Bau neuer Atomkraftwerke wieder aufheben, wie das eine Initiative fordert, für die zurzeit Unterschriften gesammelt werden?
Ein Thema geht in dieser Diskussion bis anhin unter: die bedeutende Rolle, die Wasserstoff künftig spielen soll. Eine kürzlich publizierte Studie des Verbands Schweizerischer Elektrizitätsunternehmen (VSE) spricht hier eine deutliche Sprache. Sie hat ein Szenario berechnet, in dem die Schweiz die erneuerbaren Energien stark ausbaut und gleichzeitig in den europäischen Energiemarkt integriert bleibt. Das Resultat: Wasserstoff könnte im Jahr 2050 insgesamt 20 Prozent unseres Winterstrombedarfs abdecken.
Viel mehr Strom benötigt
Das ist viel, wie ein Vergleich zeigt. Heute verbraucht die Schweiz rund 60 Terawattstunden (TWh) Strom. Im Jahr 2050 könnten es wegen der Elektrifizierung des Verkehrs und des Heizens 80 bis 90 TWh sein, also bis zur Hälfte mehr. Um diesen Bedarf zu decken, werden wir laut dem Szenario des VSE 13 TWh Strom aus Wasserstoff benötigen. Davon rund 9 TWh im Winter – das ist fast so viel, wie das Kernkraftwerk Leibstadt pro Jahr produziert.
Der Wasserstoff wird in Gasturbinen zu Strom umgewandelt. Das unsichtbare und ungiftige Gas könne damit «zu einer tragenden Säule der Energieversorgung im Winter werden», heisst es in der Studie.
Allerdings muss der Wasserstoff mit klimafreundlichen Energien hergestellt werden, hauptsächlich mit Wind- und Solarenergie. Es wäre viel zu teuer, die benötigten Mengen in der Schweiz zu produzieren, wie der für die Studie mitverantwortliche Empa-Energieforscher Matthias Sulzer erklärt. Der grüne Wasserstoff müsse darum zum grössten Teil importiert werden.
Doch da liegt der Haken. Um den wertvollen Stoff künftig einzuführen, müssen bestehende grosse Gasleitungen umgerüstet oder neue Wasserstoffrohre gebaut werden. Europa plant derzeit fünf Korridore, um den Wasserstoff nach Europa zu bringen und zu verteilen. Ein Korridor versorgt Italien mit Wasserstoff aus dem sonnigen Süden des Landes sowie aus Nordafrika – und lässt danach die Schweiz aus.
«Die Gefahr besteht, dass die EU ihr künftiges Versorgungsnetz für Wasserstoff um die Schweiz herumführt», sagt der Energieforscher Sulzer warnend. Er steht mit dieser Befürchtung nicht allein. «Die bisherigen Studien und Strategien des Bundes vernachlässigen die Bedeutung des Wasserstoffs», schreibt der Verband der Schweizerischen Gasindustrie in einem diese Woche veröffentlichten Papier. Europa definiere bereits eifrig Transportkorridore – doch die Verbindung durch die Schweiz fehle bislang, mahnt der Verband.
Laut Matthias Sulzer muss die Schweiz nun klar definieren, wie viel Wasserstoff sie künftig importieren will, und dann mit Europa verhandeln. «Wir müssen uns fragen, wie wir nicht nur beim Strom zum valablen Partner Europas werden können, sondern auch beim Wasserstoff.»
Das Bundesamt für Energie (BfE) entgegnet auf Anfrage, es gebe beim Wasserstoff zwar «einen Hype und viele Pläne, aber noch ganz wenig Konkretes», so die Sprecherin Marianne Zünd. Es sei darum «etwas gar früh», bereits jetzt Bedenken zu äussern, dass die Schweiz wasserstoffmässig umschifft werde.
Hoher Bedarf aus der Industrie
Tatsächlich stellt sich die Frage: Wie realistisch sind der Bau eines europäischen Wasserstoffnetzes und die Produktion von grossen Mengen an grünem Wasserstoff überhaupt? «Sehr realistisch», entgegnet der Energieforscher Sulzer. Denn Wasserstoff soll nicht nur in der Energieversorgung eine bedeutende Rolle spielen. Die entscheidende Nachfrage kommt aus einem anderen Sektor: aus Europas Industrie.
Um klimaneutral zu werden, muss der Industriesektor in seinen Produktionsprozessen schrittweise auf die Nutzung von Öl und Gas verzichten. 2050 soll gemäss Planung der EU die Hälfte des dannzumal verbrauchten Wasserstoffs zu diesem Zweck verwendet werden. 25 Prozent des Wasserstoffs wird die Industrie für Produktionsschritte einsetzen, die sehr hohe Temperaturen benötigen, zum Beispiel die Herstellung von Stahl oder Glas. Weitere 25 Prozent ersetzen Öl als Ausgangsmaterial, um beispielsweise Kunststoffe oder Dünger herzustellen. Die übrigen 50 Prozent des Wasserstoffs sollen für die Stromerzeugung und für die Mobilität genutzt werden, etwa für Schwerverkehr, Schiff- und Luftfahrt.
Laut Sulzer hat Italien bereits 5 Milliarden Euro und Deutschland 9 Milliarden Euro gesprochen und mit dem Bau eines Wasserstoffnetzes begonnen. Am weitesten bei der Technologie seien die Niederlande, wo erste Strecken des Wasserstoffnetzes bereits fertiggestellt seien. Wasserstoff ist auch ein wichtiger Teil von verschiedenen Förderprogrammen der EU.
Doch lassen sich die benötigten Mengen Wasserstoff überhaupt in die Schweiz bringen? Matthias Sulzer zieht dafür einen Vergleich heran. Heute importiert die Schweiz die Energiemenge von 38 TWh in Form von klimaschädlichem Erdgas. Bis 2050 brauche die Schweiz hingegen höchstens 27 TWh Wasserstoff, also knapp ein Drittel weniger. Die beiden Energieträger lassen sich laut Sulzer zwar nicht direkt vergleichen, weil sie zum Beispiel unterschiedliche Anforderungen an das Leitungssystem stellen. «Das sollten wir aber dennoch schaffen», sagt er.
Dass Wasserstoff künftig in geringeren Mengen importiert werden muss als heute Gas, hat einen Grund: Wasserstoff wird laut den Empa-Forschern eine klar definierte Rolle spielen. Das Gas wird durch grosse Leitungen importiert und entweder an die Schweizer Industrie geliefert oder im Winter in grossen Kraftwerken zu Strom umgewandelt. Es soll aber weder genutzt werden, um Häuser zu heizen, noch um Personenwagen anzutreiben. «Dafür ist Wasserstoff viel zu wertvoll und seine Feinverteilung viel zu aufwendig», erklärt Sulzer. Denn das Handling des flüchtigen Gases ist sehr anspruchsvoll. Es muss unter hohem Druck transportiert und gelagert werden.
Die Schweiz hat zudem einen Vorteil: Heute durchquert eine dicke Erdgasleitung das Land von Süden nach Norden. Die 293 Kilometer lange Transitgas-Pipeline verbindet via die Alpen die drei grossen Märkte Italien, Frankreich und Deutschland. Sie könnte ungefähr ab 2040 für Wasserstoff umgenutzt werden und eine wichtige Rolle für die Versorgung spielen.
«In diesem Zeitraum wird die Situation für die Schweizer Energieversorgung kritisch sein, weil die beiden grossen Schweizer Kernkraftwerke wohl abgestellt werden», erklärt Sulzer. Gösgen und Leibstadt werden dann eine Laufzeit von rund sechzig Jahren erreicht haben. Zwar gibt es Diskussionen, die beiden Anlagen achtzig Jahre laufen zu lassen. «Doch das würde die Frage der Versorgung im Winter nur noch einmal verschieben, aber nicht lösen», warnt Sulzer.
Ohne Wasserstoff geht es nicht
Für Sulzer ist klar: Die Schweiz wird nicht um das Thema Wasserstoff herumkommen. Denn erstens gibt es auch in unserem Land Industrien, deren Produktionsanlagen auf den klimafreundlichen und günstigen Grundstoff angewiesen sein werden. Und zweitens gibt es aus wirtschaftlicher Sicht keine Technologie, die den flexibel einsetzbaren Wasserstoff gänzlich ersetzen kann.
Das zeigt ein weiteres von der Empa berechnetes Szenario. Bei diesem würde die Schweiz kleine Kernreaktoren bauen. Diese neuartigen Anlagen stehen derzeit noch in der Entwicklungsphase. In Zukunft werden die Erzeugung von Strom und dessen Bedarf stark schwanken. Das Empa-Szenario zeigt nun: Müssen die neuartigen Kernkraftwerke zu häufig in Zeiten produzieren, in denen ihr Strom gar nicht benötigt wird, wirkt sich das negativ auf ihre Rentabilität aus. «Selbst wenn die Schweiz also neuartige Atomkraftwerke nutzen würde, müssten wir diese mit der Nutzung der Wasserstofftechnologie ergänzen, damit wir die höchsten Stromverbrauchsspitzen abdecken können», erklärt Sulzer.
Der Schluss, den Sulzer daraus zieht: Es ist wichtig, uns alle Optionen zu bewahren. «Wenn wir technologieoffen sein wollen, dann ist Wasserstoff ein notwendiger Bestandteil.» Das Gleiche gelte für die mögliche nächste Entwicklungsstufe der Kernenergie. «Wir müssen heute Optionen schaffen, damit wir künftig die Technologien zubauen können, die sich für unser Land am besten eignen», sagt Sulzer.
Das BfE ist unterdessen daran, eine Auslegeordnung zu erstellen. Sie soll laut der Sprecherin Marianne Zünd bis im Herbst vorliegen. Gegen Ende Jahr dürfte dann ein Entwurf für die nationale Wasserstoffstrategie folgen, welche das Parlament vom Bund eingefordert hat. «Wir werden also Ende Jahr eine gute Übersicht über die Ausgangslage haben, so dass die nächsten Entscheidungen erfolgen können», sagt Zünd.