Mit einer Blutanalyse zur ultimativen Gesundheit Die Selbstoptimierung erreicht eine neue Dimension: Schweizer Firmen bieten den Kunden an, ihre Gesundheit anhand von Biomarkern im Blut zu überwachen. Und mit Coaching laufend zu verbessern
Die Selbstoptimierung erreicht eine neue Dimension: Schweizer Firmen bieten den Kunden an, ihre Gesundheit anhand von Biomarkern im Blut zu überwachen. Und mit Coaching laufend zu verbessern
Serienunternehmer Ertan Wittwer hat es wieder getan: Nach früheren Firmengründungen wie Bestsmile (Zahnkorrekturen) oder Hair & Skin (Haartransplantationen) ist er mit einer weiteren Firma am Start: Care. Für einmal geht es aber nicht um kosmetische Eingriffe.
Im Zentrum des neuen Geschäftsmodells stehen sozusagen die inneren Werte. Kundinnen und Kunden können dank der Analyse von Biomarkern im Blut eine detaillierte Bestandesaufnahme ihrer Gesundheit machen lassen. Um sich nach personalisierten Verbesserungsanstrengungen erneut vermessen zu lassen – so dass ihr gesundheitliches Fortkommen in einer Zeitreihe sichtbar wird. Care bietet also Selbstoptimierung im Abonnement an.
Damit erreicht der Trend des «Biohacking» – der Gesundheitsmaximierung mit wissenschaftlichen Methoden – die Schweiz. Vertreter dieser Szene wie der amerikanische Neurologe Andrew Huberman haben auch hierzulande eine Fangemeinde gefunden, nicht zuletzt dank Tiktok.
Auch andere Jungfirmen und einige etablierte medizinische Labors haben gemerkt, dass hier gerade ein neuer Markt entsteht. Sie bieten gesunden Menschen, die noch fitter werden wollen, ebenfalls Blutanalysen an. Doch keiner dieser Akteure ist so ambitioniert wie Care, das gegenüber des Zürcher Hauptbahnhofs Räume an bester Lage bezogen hat.
Store in New York
Im Mai wollen die Care-Gründer eine Reise nach New York unternehmen, um auch dort geeignete Lokalitäten zu finden. Dann ist geplant, das Angebot in weiteren grossen Schweizer Städten auszurollen.
Der Journalist vereinbart einen Termin zur Blutentnahme. Seine Probe soll auf 45 Biomarker untersucht werden. Er erhofft sich Auskunft darüber, wie es um seine strapazierte Leber, die Nieren oder seine Bauchspeicheldrüse bestellt ist. Die gewonnenen Daten geben auch Aufschluss über das Blutbild, den Stoffwechsel, mögliche Entzündungen oder den Versorgungsgrad mit Eisen, Vitaminen, Elektrolyten und Co.
Der Besucher wird von einer jungen Empfangsdame im Care-T-Shirt begrüsst, die ihn auf Anhieb duzt. Alle duzen sich hier, das ist Teil des Konzepts von Care, dessen futuristisches Interieur mehr an einen Apple-Laden erinnert als an eine Arztpraxis. Darum auch die Selbstbezeichnung «Store».
Geschäftsführer und Mitgründer Ion Haab ist ganz offensichtlich fit. Der Absolvent der Universität St. Gallen hat muskulöse und tätowierte Arme. Er informiert darüber, wie Care funktioniert, und führt ein «Assessment» durch, eine Bestandesaufnahme der Gewohnheiten, Erwartungen und gesundheitlichen Ziele des neuen Kunden.
Dann geht es zur Sache. Eine junge, aber routinierte medizinische Praxisassistentin misst Körperzusammensetzung, EKG und Blutdruck und nimmt zwei Röhrchen Blut. Alles ist durchdesignt, effizient, ja sogar angenehm in Anbetracht dessen, dass man gerade zur Ader gelassen wird.
Für Donnerstag ist der nächste Termin anberaumt, dem der Journalist mit einer gewissen Nervosität entgegenblickt. Ion Haab sagt, dass bei 30% der bisher rund 120 Kunden, die Care gewinnen konnte, medizinisch ernste Befunde wie beispielsweise Vorstufen von Diabetes aufgetaucht seien.
Beim Coaching-Gespräch vom nächsten Donnerstag wird es auch konkrete Handlungsanweisungen geben, wie der neue Kunde seine Gesundheit verbessern kann. Beziehungsweise seinen Health-Score. Denn Care verdichtet die vielen Gesundheitsparameter, die in einer App einsehbar sind, auf eine einzige Kennzahl. Mit der Aussicht darauf, diesen Score über die Zeit nach oben zu schrauben. Einen Eisen- oder Vitaminmangel kann man gleich vor Ort mit einer Infusion beheben lassen.
Beratung durch ETH-Professor
Die Firma, die Ärzte und Wissenschafter beschäftigt und sich von einem ETH-Professor beraten lässt, will über die App auch eine Community aufbauen. Gruppenaktivitäten wie Lauftrainings oder das Baden im eiskalten See sollen zu einem höheren Health-Score verhelfen.
Diese unternehmerische Initiative ist auch aus gesellschaftlicher Sicht interessant – denn unser exorbitant teures Gesundheitssystem stösst an seine Grenzen. Flurin Maron arbeitet beim Konkurrenzunternehmen Rikai. Im Unterschied zu Care arbeitet diese Firma bei der Blutentnahme mit Partnern wie etwa Apotheken zusammen. Maron sagt es so: «Unser Gesundheitssystem ist sehr reaktiv. Man wartet, bis ein Mensch krank wird, und versucht dann, einen Schaden zu beheben, den man in vielen Fällen hätte kommen sehen können.» Was auch viel billiger wäre. Der Präventionsgedanke sei in der Schweiz noch kaum verankert, und da wolle Rikai mit seinem Angebot etwas anstossen.
Ab einem gewissen Niveau gibt es keinen Zusammenhang mehr zwischen klassischen Gesundheitsausgaben und der Volksgesundheit. Nirgends zeigt sich das besser als in den USA, das über das teuerste Gesundheitssystem der Welt verfügt. Gleichzeitig haben die Amerikaner die tiefste Lebenserwartung der entwickelten Welt. Tendenz sinkend
Care, Rikai und Co. sprechen Kunden an, die ihre Gesundheit selbst in die Hand nehmen wollen und an Daten glauben. Auf diese möchten sie jederzeit mit ihrem Handy zugreifen können. Care plant, auch die Gesundheitsdaten von Apple-Watch und Co. in ihre App zu integrieren.
Schlechte Erfahrungen mit dem Gesundheitswesen
Eigentlich wäre das elektronische Patientendossier prädestiniert dafür, solche Bedürfnisse abdecken. Aber dieses Projekt hat die Schweiz gründlich an die Wand gefahren. Die meisten Menschen kennen nicht einmal ihre Blutgruppe.
Ertan Wittwer sagt, ihm sei die Idee für das neue Unternehmen gekommen, nachdem er sich für seine eigene Gesundheit zu interessieren begonnen habe. Er merkte, dass sein Hausarzt gar keine Zeit hat, um auf seine Fragen einzugehen. Bei einigen «Gesundheitshacks» auf Social Media äussern Nutzer sogar offenes Misstrauen gegenüber dem medizinischen Establishment. Die Beiträge beginnen dann zum Beispiel mit den einleitenden Worten: «Was dir dein Arzt nicht sagt.»
«Was passiert, wenn jemand zum Arzt geht und einen Untersuch macht, bei dem auch Blut genommen wird? Der Arzt ruft hinterher an und sagt, es sei alles gut oder es brauche weitere Konsultationen», sagt Flurin Maron. Man bekomme nur in den seltensten Fällen Unterlagen, und das sei sehr bevormundend. «Wir finden, der Kunde hat ein Anrecht auf seine detaillierten Gesundheitsdaten. Er soll auch nachvollziehen können, wie sich seine Werte langfristig entwickeln, um sein Verhalten anpassen zu können.»