Weg mit der Altersguillotine Die AHV-Beitragspflicht macht Arbeiten nach 65 unattraktiv. Das soll sich jetzt ändern.

Die AHV-Beitragspflicht macht Arbeiten nach 65 unattraktiv. Das soll sich jetzt ändern.

 

Der Fachkräftemangel spitzt sich zu: Bis zum Ende dieses Jahrzehnts gehen 800 000 Personen in Pension. Bild: unsplash

Der «grösste Bremsklotz» für die Schweizer Wirtschaft, so klagte der Arbeitgeberverband neulich, sei der Mangel an Fachkräften. Die Zahl der offenen Stellen ist auf rekordhohe 130 000 gestiegen – das sind doppelt so viele wie vor der Pandemie. Vier von zehn Unternehmen haben Schwierigkeiten, genügend Arbeitskräfte zu rekrutieren.

Eine neue Studie, die das Gottlieb-Duttweiler-Institut (GDI) erstellt hat, warnt vor einer weiteren Verschärfung. Wenn die Wirtschaft im bisherigen Tempo weiterwachse, so könnten im Jahr 2025 bereits 340 000 Stellen nicht mehr besetzt werden, bis 2030 wären es gar 800 000. Diese Prognose gilt unter der Annahme, dass keine ausländischen Arbeitskräfte zuwandern. Doch selbst wenn das Szenario des Bundes eintritt und pro Jahr 40 000 bis 70 000 Personen zusätzlich in die Schweiz ziehen, lässt sich die Lücke bei weitem nicht schliessen.

«Der Bundesrat hat die Dynamik des Fachkräftemangels massiv unterschätzt», kritisiert der Luzerner FDP-Ständerat Damian Müller. «Umso entschlossener muss er jetzt gegensteuern. Denn wir haben in der Schweiz ein riesiges Reservoir an top ausgebildeten Erwerbstätigen, das wir kaum nutzen.» Im Visier hat Müller die über 65-Jährigen. Viele wären gewillt, in einem reduzierten Pensum weiterzuarbeiten. Effektiv aber, das zeigt die GDI-Studie, ist die Erwerbsquote bei den über 65-Jährigen rückläufig – obwohl der Anteil der gesundheitlich fitten Pensionäre gestiegen ist.

AHV-Beitrag als Steuer

«Anstatt den beruflichen Einsatz von Rentnern finanziell zu belohnen, schröpfen wir sie mit unsinnigen Abgaben», sagt Müller. Stossend sei insbesondere, dass sie weiterhin Beiträge an die AHV zahlen müssen, obwohl die Rente nicht mehr ansteigt. De facto handle es sich um eine zusätzliche Steuer. Diese Woche hat der Politiker daher eine Motion gegen diese Benachteiligung eingereicht.

Die Motion nimmt Bezug auf einen Artikel der «NZZ am Sonntag» vom letzten Dezember. Darin wurde erstmals beziffert, wie viel Geld erwerbstätige Rentner an die Sozialversicherungen AHV, IV und EO entrichten, ohne eine Gegenleistung zu erhalten: 600 Mio. Fr. pro Jahr. Die umstrittene Beitragspflicht existiert seit dem Jahr 1979.

Eigentlich, so Müller, wäre es gerecht, diese vollständig abzuschaffen. Um die politischen Chancen zu steigern, schlägt er in seiner Motion einen Mittelweg vor: Konkret will er den Freibetrag von heute 16 800 Fr. im Jahr auf 36 000 Fr. anheben. Bei einem Jahreslohn von 100 000 Fr. wären somit nur noch 64 000 Fr. AHV-pflichtig.

«Ich halte eine solche Anhebung der Freigrenze für massvoll und absolut gerechtfertigt», sagt auch der St. Galler Vorsorgeexperte und ehemalige Nationalrat Andreas Zeller. Denn seit 1996 sei dieser Betrag nicht mehr an die Teuerung angepasst worden. «Ein solcher Schritt würde den Anreiz, nach 65 zu arbeiten, deutlich erhöhen.»

Beliebte Minipensen

Eine Studie des Staatssekretariats für Wirtschaft bestätigt diese Einschätzung. Demnach arbeitet heute jeder dritte erwerbstätige Rentner in einem Minipensum von weniger als 20 Prozent. Nur eine Minderheit wählt eine Beschäftigung von über 50 Prozent. Es gebe «deutliche Hinweise», so die Analyse, dass die Freigrenze einen Einfluss auf das Arbeitspensum habe.

Mit der Reform AHV 21, welche nächstes Jahr in Kraft tritt, verspricht der Bundesrat zwar eine Besserstellung der Erwerbstätigen über 65. Neu sollen die AHV-Beiträge dieser Altersgruppe rentenbildend sein. «Allerdings sind die Kriterien so restriktiv gewählt, dass nur etwa jede zehnte Person davon profitieren kann», sagt Zeller. «Im Wesentlichen sind es jene, welche Lücken bei den Beitragszahlungen aufweisen.» Bei 90 Prozent der Schweizer Rentner sei dies nicht der Fall.

Mit seiner Motion zielt Damian Müller noch auf einen zweiten Bereich: den Vorbezug der AHV. Heute lässt sich die Rente bis zu zwei Jahre früher beziehen – als Mann folglich ab 63. Im Gegenzug wird der Betrag um 13,6 Prozent reduziert. Nun hat der Bund aber angekündigt, dass er diese Kürzung ab 2027 massiv senken will. Künftig würde die AHV trotz Vorbezug nur um 7,7 Prozent abnehmen.

«Ich halte einen solchen Schritt für absurd», sagt der FDP-Ständerat. «Trotz Fachkräftemangel will der Bund den Anreiz erhöhen, vorzeitig in Pension zu gehen. Zudem entstehen für die AHV enorme Mehrkosten.» Müller beziffert die zusätzliche Belastung auf rund 300 Mio. Fr. pro Jahr. Er verlangt daher, die heutigen Kürzungssätze zumindest unverändert zu lassen oder im Gegenteil anzuheben.

«Unsere Einstellung zur freiwilligen Weiterarbeit nach 65 muss sich dringend ändern», sagt Damian Müller. «Denn die Pensionierungswelle der Babyboomer hat erst begonnen.» Allein bis zum Ende dieses Jahrzehnts erreichen 788 000 Personen das 65. Altersjahr – und gehen damit für den Arbeitsmarkt verloren. «Die Erhöhung der AHV-Freigrenze wäre ein kleiner, aber wichtiger Schritt, um von der heutigen fixen Altersguillotine wegzukommen», betont der Luzerner Ständerat. Und ergänzt: «Leider hat die Politik die Tragweite dieser Entwicklung völlig verschlafen.»

Albert Steck, «NZZ am Sonntag»

 

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