Arbeiten bis 70? – Wie es gelingt, den Job über das Pensionsalter hinaus auszuüben Firmen bieten vermehrt die Möglichkeit, bis zum Alter von 70 Jahren zu arbeiten. Doch es braucht viel mehr, damit Arbeitnehmer länger berufstätig sind. Neuorientierungen spielen dabei eine wichtige Rolle.

Firmen bieten vermehrt die Möglichkeit, bis zum Alter von 70 Jahren zu arbeiten. Doch es braucht viel mehr, damit Arbeitnehmer länger berufstätig sind. Neuorientierungen spielen dabei eine wichtige Rolle.

 

Angestellte arbeiten nur selten über das Pensionsalter hinaus weiter – das hat seine Gründe. Bild: pexels

Verena Probst hat in ihrer Laufbahn verschiedene Rollen ausgeübt. Nachdem sie mehrere Jahre als Gemeindeschreiberin tätig gewesen war, übernahm sie die Leitung eines Standorts der Berner Kantonalbank (BEKB), führte später das Privatkundengeschäft der BEKB in Biel, trug die Fachverantwortung für das Marktgebiet Seeland und stieg anschliessend zur Regionenleiterin auf.

«Ich habe mich regelmässig gefragt, ob mir meine Tätigkeit noch immer Freude bereitet, und dann den nächsten beruflichen Schritt geplant», sagt Probst. Wichtig seien dabei auch die Gespräche mit den Vorgesetzten zur beruflichen Standortbestimmung gewesen sowie die Möglichkeit, sich durch Aus- und Weiterbildungen auf die neuen Positionen vorzubereiten.

«Es braucht Vorbilder», sagt Verena Probst, die als Gemeindeschreiberin zur Berner Kantonalbank wechselte, dort zur Regionenleiterin aufstieg und heute bei der Bank als Agile Coach arbeitet. Bild: PD

Seit vergangenem Jahr arbeitet die 64-Jährige als Agile Coach in der Bank. Sie ist in einem Arbeitspensum von 50 Prozent (unbefristet) tätig und teilpensioniert. «Ich wollte vermehrt meine Erfahrung an andere weitergeben», sagt Probst. In ihrer jetzigen Rolle unterstützt sie Mitarbeitende und Teams dabei, mit den veränderten Herausforderungen am Arbeitsplatz umzugehen, besser zusammenzuarbeiten und agiler zu werden. Laut internem Reglement könnte sie bis im Alter von 70 Jahren bei der Bank beschäftigt sein.

Angebote werden selten genutzt

Auch andere Schweizer Arbeitgeber wie beispielsweise Roche, Raiffeisen und der Kanton Basel-Landschaft bieten ihren Angestellten grundsätzlich die Möglichkeit, bis zum 70. Lebensjahr weiterzuarbeiten. Die Angebote werden allerdings wenig ausgeschöpft. Bei Roche heisst es zwar, das Angebot werde «immer beliebter», bei Raiffeisen werden die Möglichkeiten «vereinzelt» und bei der BEKB «wenig» genutzt. Im Kanton Basel-Landschaft arbeitet rund ein Prozent der Mitarbeitenden in der kantonalen Verwaltung, den kantonalen und den kommunalen Schulen über das ordentliche Rentenalter hinaus. Am häufigsten sind Lehrpersonen im AHV-Alter beschäftigt.

Schweizweit gingen im Jahr 2020 18 Prozent der 65–74-Jährigen einer Erwerbstätigkeit nach, wie eine Erhebung des Bundesamts für Statistik (BfS) zeigt. Besonders häufig arbeiten Selbständige wie Landwirte, Architektinnen, Juristen und Ärztinnen über das gesetzliche Rentenalter hinaus. Mehr als die Hälfte der Berufstätigen arbeiten laut BfS länger, weil sie es gerne tun, während rund ein Fünftel aus finanziellen Gründen weiterarbeitet.

Gleichzeitig scheidet aber auch ein beträchtlicher Teil der Erwerbstätigen früher aus dem Arbeitsmarkt aus. Ein Jahr vor dem ordentlichen Rentenalter sind noch etwas mehr als die Hälfte der Menschen berufstätig. Selbständige sind zu diesem Zeitpunkt viel seltener in Frühpension (15 Prozent) als Arbeitnehmer (40 Prozent).

Ein gutes Arbeitsklima und Wertschätzung

Eine Mehrheit der Berufstätigen ab dem Alter von 55 Jahren würde laut einer Befragung von Swiss Life zwar am liebsten vor dem ordentlichen Rentenalter aufhören oder zumindest das Pensum reduzieren, wenn es keine Sachzwänge gäbe. Knapp die Hälfte wäre grundsätzlich aber auch bereit, länger zu arbeiten, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt wären. Zu den wichtigsten Voraussetzungen zählen sie eine gute Gesundheit, ein gutes Arbeitsklima und die Wertschätzung des Arbeitgebers. Häufig genannt werden auch weniger Stress, die Möglichkeit zur Reduktion des Pensums sowie finanzielle Anreize wie Steuervorteile oder mehr Lohn.

Die finanziellen Rahmenbedingungen für das Weiterarbeiten nach der Pensionierung sind nicht attraktiv. Wer über das ordentliche Rentenalter hinaus berufstätig ist, zahlt weiterhin Beiträge für die Sozialversicherungen von AHV, IV und EO, sofern das jährliche Einkommen den Freibetrag von 16 800 Franken übersteigt. Ausserdem kann die Erwerbstätigkeit wegen der Steuerprogression mit steuerlichen Nachteilen verbunden sein, wenn zusätzlich das Renteneinkommen zu versteuern ist.

Ab Mitte 50 im Sinkflug

«Es sind aber selten finanzielle Gründe, weshalb viele Menschen nicht über das Pensionsalter hinaus arbeiten», sagt Elisabeth Michel-Alder, Unternehmensberaterin und Expertin zum Thema Arbeiten im Alter. Vielmehr hätten die meisten Unternehmen kein Konzept für die Entwicklung der Mitarbeitenden, die sich in der zweiten Hälfte ihres Berufslebens befänden. «In vielen Firmen wird bereits ab 45 Jahren nicht mehr in Aus- und Weiterbildung investiert, und ab Mitte 50 befinden sich viele Angestellte im Sinkflug», sagt die studierte Sozialwissenschafterin.

«Man sollte sich beruflich mindestens zweimal neu orientieren», sagt die Unternehmensberaterin Elisabeth Michel-Alder. Sie hat Biografien von Menschen erforscht, die weit über das Pensionsalter hinaus arbeiten. Bild: PD

Das Vorurteil sei verbreitet, dass Ältere nicht mehr so agil und leistungsfähig seien. «Sie erhalten keine interessanten, herausfordernden und verantwortungsvollen Aufgaben mehr», sagt Michel-Alder. Viele Angestellte fühlten sich in ihren Routinen gefangen, mit der Zeit abgelöscht und abgewertet im Vergleich zu Jungen: «Wenn man lange Zeit immer im gleichen Trott stecken bleibt, hat man es irgendwann mit 60 Jahren gesehen.»

Man müsse seine Tätigkeit als sinnvoll und befriedigend erleben, um engagiert länger arbeiten zu können, sagt Michel-Alder. Im Rahmen ihres Citizen-Science-Forschungsprojekts, das von der ETH und der Universität unterstützt wurde, haben Freiwillige Biografien von 50 berufstätigen Frauen und Männern im Alter von über 70 Jahren dokumentiert, um zu erforschen, wie eine Tätigkeit über das Pensionsalter hinaus zustande kommt.

Werberin wird Ladenbesitzerin

Beschrieben wird etwa der Berufsweg der 85-jährigen Rosmarin Ruesch, die als kaufmännische Angestellte in die Werbebranche wechselte und sich zur Marketingplanerin weiterbildete, dann aber im Alter von 53 Jahren entlassen wurde. Nachdem sie 360 Bewerbungen verschickt hatte, ohne eine neue Anstellung zu finden, wagte sie einen Neuanfang und eröffnete in Zürich einen Antiquitätenladen. Rückblickend bezeichnet sie die Kündigung als Glücksfall, denn die Arbeit im Laden bereitet ihr heute noch viel Freude. Sie würde nicht zu Hause herumsitzen wollen.

Der 87-jährige Markus Knoblauch war über 20 Jahre seines Berufslebens als Chefarzt am Spital in Männedorf tätig. Nach seiner Pensionierung sprang er bald in verschiedenen Spitälern und Arztpraxen als Vertretung ein – so dass er bis zu seinem 80. Lebensjahr rund sechs Monate im Jahr arbeitete. Von 2016 bis 2019 war er als Konsiliararzt in einem Spital in Ägypten tätig, wo er seine ersten Lebensjahre verbracht hatte. Heute engagiert er sich freiwillig für Menschen, die unter erheblichen psychischen Belastungen leiden.

Viele der Porträtierten sind selbständig, manche mussten sich in ihrem Berufsleben neu orientieren, und etliche von ihnen haben ihre Rollen bis in ihre Sechziger hinein immer wieder gewechselt.

Einen Neuanfang wagen

Umorientierungen im Laufe der Karriere haben laut Michel-Alder verschiedene positive Effekte: Die Menschen entwickelten sich weiter, könnten sich nochmals in neue Aufgaben vertiefen und machten die Erfahrung, dass sie der Herausforderung gewachsen seien.

«Man sollte sich beruflich mindestens zweimal neu orientieren oder gar neu erfinden», resümiert die 70-jährige Beraterin, die in ihrem Berufsleben in den unterschiedlichsten Gebieten tätig war, unter anderem im Hochschulbereich und im Journalismus. Im mittleren Alter eine Bilanz zu ziehen und sich umzuorientieren, sorge für eine neue Lernkurve sowie die Motivation und Energie, länger zu arbeiten.

Viele Personen wählten ihre neue Tätigkeit auch passender, weil sie sich selbst besser kennten. Es stünden Fragen im Zentrum wie «Was kann ich besonders gut?», «Wofür will ich mich einsetzen?», «Mit wem möchte ich zusammenarbeiten?». Manche entschieden sich auch bewusst dafür, so weiterzuarbeiten wie bisher, vielleicht mit einer zusätzlichen Vertiefung, was ebenfalls neue Ressourcen freisetzen könne.

Eine «zweite Lehre»

In den nächsten zehn Jahren erreichen im Zuge der Pensionierung der Babyboomer-Generation rund eine halbe Million mehr Arbeitnehmer das Rentenalter, als junge Berufseinsteiger nachrücken. Die demografische Entwicklung verschärft den Fachkräftemangel und belastet die Vorsorgesysteme erheblich. Gleichzeitig werden die Menschen im Durchschnitt immer älter und bleiben länger gesund. Die Phase des Ruhestands macht bereits rund ein Viertel der Lebenszeit aus.

Vor diesem Hintergrund fordern Politiker und Wirtschaftsvertreter, dass Arbeitnehmer länger arbeiten. Aus Sicht von Michel-Alder sollte das Rentenalter nicht generell erhöht werden, es brauche vielmehr individuelle und berufsgruppenspezifische Lösungen. Sie plädiert dabei für eine Abschaffung des ordentlichen Rentenalters. Das Arbeitsverhältnis würde damit nicht mehr beim Erreichen einer bestimmten Altersgrenze aufgelöst, sondern der Jahrgang wäre nur noch für die Berechnung des Rentenanspruchs der Versicherten relevant: «Wir können ein Leben lang lernen und uns bewähren – das ist völlig unabhängig davon, wann wir Rente beziehen.»

Wirtschaft, Bildungssystem und Arbeitsbehörden sollten die Arbeitnehmenden bei Neuorientierungen unterstützen. Michel-Alder schwebt eine Art «zweite Lehre» vor. Demnach würden Arbeitnehmende im Alter zwischen Mitte 40 und Mitte 50 während zweier Jahre einen Fünftel ihrer Arbeitszeit einsetzen, um sich weiterzubilden, sich in anderen Tätigkeitsfeldern auszuprobieren, in neuen Projekten mitzuarbeiten und im Rahmen von firmenübergreifenden Austauschprogrammen Erfahrungen in anderen Unternehmen zu sammeln.

Ähnlich wie die Ausbildung zu Beginn des Berufswegs könnte sich ein solcher «Mid-Career-Booster» als übliche Phase der Neuorientierung etablieren. Der Blick würde damit auf die Potenziale und Entwicklungsmöglichkeiten der Menschen in dieser Alterskategorie gelenkt und der Grundstein dafür gelegt, dass Arbeitnehmer ihre Tätigkeit länger mit Freude ausübten, sagt Michel-Alder.

Es braucht Vorbilder

In den Kantonen gibt es Beratungsangebote für über 40-Jährige. Die kostenlose berufliche Standortbestimmung («Viamia») hat zum Ziel, die Berufschancen für ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu erhöhen. Wenn die Unternehmen ihre Mitarbeitenden länger beschäftigen wollen, reicht es längst nicht, nur das maximale Pensionsalter zu erhöhen. Es geht darum, unabhängig vom Alter auf das Potenzial der Mitarbeitenden zu fokussieren, Neuorientierungen zu unterstützen und Rotationen in andere Aufgabengebiete zu ermöglichen. Bei Roche beispielsweise können Mitarbeitende einen temporären Einblick in andere Unternehmensbereiche erhalten.

Zudem sollte das Arbeiten über das Pensionsalter hinaus von den Vorgesetzten frühzeitig thematisiert werden, um mögliche Weichen für eine berufliche Veränderung zu stellen. Bei Raiffeisen oder beim Kanton Basel-Landschaft etwa sprechen Vorgesetzte mit ihren Mitarbeitenden üblicherweise etwa im Alter von 55 über deren Pläne.

Die BEKB hat die 50-jährigen Mitarbeitenden an eine Informationsveranstaltung eingeladen. Damit will sie ihren Angestellten bewusst Denkanstösse dafür liefern, sich frühzeitig mit den eigenen Wünschen für die Berufslaufbahn auseinanderzusetzen und mit der Frage, welche Pläne sie in ihrem Leben noch realisieren wollen. Am Anlass aufgetreten sind auch Personen, die einen komplett anderen Berufsweg eingeschlagen haben, unter ihnen etwa eine Bankerin, die Naturheilpraktikerin geworden ist, oder ein Marketingspezialist, der ins Kerngeschäft der Bank gewechselt ist.

Mentalitätswandel in der Arbeitswelt

«Vorbilder sind wichtig», sagt Probst. Es brauche viel Mut, nochmals etwas Neues anzupacken. Ausserdem sollten Firmen bei den Informationen zur Pensionierung nicht einzig die Aspekte der finanziellen Absicherung beleuchten.

Gleichzeitig stellt sie auch einen Wandel fest, wie berufliche Veränderungen in der Arbeitswelt wahrgenommen werden: Vor 20 Jahren hätten es noch die wenigsten Leute verstanden, wenn man eine prestigeträchtige Leitungsfunktion freiwillig abgegeben hätte und in eine andere Rolle gewechselt wäre. Sie selbst habe für ihren jüngsten Schritt viele Komplimente erhalten.

Wie lange sie als Agile Coach arbeiten wird und welche Aufgaben sie künftig anpacken will, hat sie noch nicht entschieden. Klar ist für sie aber, dass sie – in welcher Form auch immer – weiterhin tätig und sozial integriert sein will. Durch die Reduktion ihres Arbeitspensums hat sie nun auch mehr Zeit, sich lange gehegte Träume zu erfüllen. Erst vor kurzem hat sie angefangen, Saxofon zu spielen.

Natalie Gratwohl, «Neue Zürcher Zeitung»

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