Das Paradox am Arbeitsmarkt: Trotz Rezessionsängsten suchen Unternehmen weiter händeringend nach Personal Die weltweiten Konjunkturperspektiven sind derzeit trüb. Am Arbeitsmarkt macht sich das allerdings kaum bemerkbar: Der Fachkräftemangel wird wohl grundsätzlich anhalten. Das Ausweichen auf Temporärkräfte stösst an seine Grenzen.

Die weltweiten Konjunkturperspektiven sind derzeit trüb. Am Arbeitsmarkt macht sich das allerdings kaum bemerkbar: Der Fachkräftemangel wird wohl grundsätzlich anhalten. Das Ausweichen auf Temporärkräfte stösst an seine Grenzen.

 

Nicht nur in Grossbritannien werden Kollegen gesucht. Der Fachkräftemangel lässt die Löhne weltweit im Schnitt im mittleren einstelligen Bereich steigen. Bild: unsplash

Die Situation ist äusserst ungewöhnlich: Weltweit trüben Konjunktursorgen und Rezessionsängste die Stimmung. Und obwohl Unternehmen mit einer schwächeren Auftragslage rechnen, suchen viele dennoch weiterhin händeringend nach neuem Personal. Die Knappheit an Talenten sei ein Trend, der bestehen bleibe – so kommentiert Denis Machuel, CEO des Personalvermittlers Adecco, die Lage anlässlich der Veröffentlichung der Ergebnisse aus dem dritten Quartal.

Das Glück der Arbeitnehmer trübt sich ein

Das Glück der Arbeitnehmer wird aber nicht ewig unangetastet bleiben. Wie stark der Fachkräftemangel in Zukunft anhalte, werde von der Wirtschaftsentwicklung beeinflusst, heisst es bei Adecco. Derzeit mehrt sich die Zahl der Unternehmen, die Entlassungen und Restrukturierungen ankündigen. Bei Adecco spiegelt sich diese Entwicklung bereits in einem leichten Rückgang des Umsatzes im Oktober gegenüber dem Vormonat.

Üblicherweise reagiert der Arbeitsmarkt mit einer Verzögerung von rund sechs Monaten auf wirtschaftliche Entwicklungen. Zieht die Konjunktur wie nach der Pandemie an, spiegelt sich das erst ein halbes Jahr später in einem angespannteren Arbeitsmarkt. Umgekehrt dürfte sich die inzwischen eingetrübte Prognose erst ab dem ersten Quartal 2023 bemerkbar machen.

Derzeit jedoch besteht in vielen Teilen der Welt immer noch ein «Arbeitnehmermarkt», in dem Arbeitnehmer gute Karten haben. Dabei ist die Situation je nach Land und Branche sehr unterschiedlich. In Asien und Lateinamerika sei das Stellenwachstum sehr stark, in Europa trotz immer noch positiven Zeichen weniger dynamisch, so der Adecco-CEO. In der Schweiz war die Nachfrage der Unternehmen immerhin so robust, dass Adecco den Umsatz hier im dritten Quartal um 13,5 Prozent steigern konnte.

In den USA zeigt sich ein gemischtes Bild. Während viele Tech-Unternehmen Entlassungen erwägen, läuft es in der Automobilbranche, der Industrie und dem Gesundheitssektor weiterhin sehr gut. Auf der anderen Seite bildet die Logistik derzeit weltweit das Schlusslicht. Lieferkettenprobleme und gestiegene Frachtraten belasten die Unternehmen. Nach dem Abklingen der Corona-Pandemie müsse die Branche noch eine neue Balance finden, so der Adecco-CEO. Allzu pessimistisch sieht er die Lage aber nicht. Die Aktivität sei immer noch über dem Vor-Corona-Niveau von 2019.

Beschränktes Reservoir an Zeit-Arbeitskräften

Angesichts der unsicheren Perspektiven könnten viele Unternehmen geneigt sein, neue Stellen vor allem mit Temporär-Arbeitskräften zu besetzten. Diese können sie bei einer Eintrübung der Geschäftslage schneller wieder abbauen. De facto ist dies aber nicht so. Das Ausweichen auf Temporär-Kräfte stösst im angespannten Arbeitsmarkt an seine Grenzen. Wer früher eine befristete Stelle angenommen hätte, hat heute häufiger die Gelegenheit, eine Festanstellung zu bekommen. Das Reservoir an Kandidaten ist somit limitiert. Unternehmen seien sowohl bei den Temporär- wie auch den Festanstellungen im dritten Quartal 2022 weiter sehr dynamisch gewesen, so Machuel.

Löhne steigen weltweit im mittleren einstelligen Bereich

Entscheiden sich die Arbeitnehmenden dennoch für eine befristete Stelle, können sie nicht selten Lohnerhöhungen durchsetzen. Die gegenwärtige Lohninflation ist ein Ausdruck des angespannten Arbeitsmarktes. Weltweit liegt sie nach Angaben von Adecco im mittleren einstelligen Bereich, wobei Asien und Lateinamerika nach oben ausschlagen und Europa tendenziell nach unten.

Neben höheren Löhnen nutzen die Arbeitnehmer die Lage aber auch dazu, andere Forderungen durchzusetzen, wie etwa die Möglichkeit zum hybriden Arbeiten, mit einer Aufteilung der Arbeitszeit zwischen dem Büro und dem Home-Office und der Möglichkeit zu flexiblen Arbeitszeiten. Es sei sehr klar, dass sich die Art und Weise, wie wir arbeiteten, dauerhaft geändert habe, so Machuel. Wenn ihnen etwas nicht passe oder sie neue Chancen sähen, bewegten sich die Leute. Der Arbeitsmarkt sei sehr dynamisch und schnell geworden.

Vor diesem Hintergrund hat Adecco den Umsatz im dritten Quartal um 16 Prozent auf 6,04 Milliarden Euro steigern können. Um Wechselkurseffekte und die unterschiedliche Anzahl Arbeitstage bereinigt, ergab sich ein organisches Wachstum von 6 Prozent. In den beiden Vorquartalen waren Werte von 5 und 4 Prozent ausgewiesen worden. Nach Investitionen in die Entwicklung neuerer Geschäftsbereiche sank der Gewinn um 19 Prozent auf 108 Millionen Euro.

Christin Severin, «Neue Zürcher Zeitung»

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