Hoher Strompreis killt die Schweizer Stahlindustrie und gefährdet Zukunftsbranchen wie KI Stahl Gerlafingen droht das Aus, weil der Strom zu teuer ist. Das Problem betrifft auch energieintensive Zukunftstechnologien – Strom ist die Schlüsselressource der Zukunft.
Stahl Gerlafingen droht das Aus, weil der Strom zu teuer ist. Das Problem betrifft auch energieintensive Zukunftstechnologien – Strom ist die Schlüsselressource der Zukunft.
Es ist ein Sterben auf Raten. Im Frühling musste Stahl Gerlafingen eine ganze Produktionsstrasse schliessen. Im August führte das Werk Kurzarbeit ein. Und jetzt schon die nächste Hiobsbotschaft: Am Freitag wurde bekannt, dass die Beltrame-Gruppe aus Italien erneut rund einen Viertel der Belegschaft abbauen wird. Damit verlieren nochmals 120 Angestellte ihre Stelle.
Dabei ist das Werk ein Stück Industriegeschichte. Es ist die älteste Stahlschmelze des Landes. In den besten Zeiten arbeiteten hier über 3000 Menschen. Doch jetzt droht der Produktion sogar das totale Aus. «Wir verlieren mit jeder produzierten Tonne Stahl Geld», klagt Antonio Beltrame im Interview (nächste Seite). Der Strompreis sei im Vergleich zum Ausland viel zu hoch, so der Verwaltungsratspräsident der italienischen Gruppe. Die Rahmenbedingungen seien nicht mehr tragbar.
Strom ist für die Stahlproduktion die entscheidende Ressource. Das Werk in Gerlafingen verbraucht so viel Elektrizität wie 70 000 Haushalte. Die hohen Kosten sind bei diesen Dimensionen ein Killer. Und nicht nur Stahl Gerlafingen steht das Wasser bis zum Hals: Die ganze Industrie leidet. Die Interessengemeinschaft der energieintensiven Branchen spricht von einer «existenziellen Bedrohung» für die produzierenden Firmen des Landes.
Damit ist die Schweiz nicht allein. In Deutschland greift gerade die Angst vor der Deindustrialisierung um sich. Die Autohersteller rutschen immer tiefer in die Krise, und die seit dem Atomausstieg stark angestiegenen Stromkosten ruinieren die einstige Werkbank Europas. Bundeskanzler Scholz hat in einer Notfallübung versprochen, die Stromkosten der Industrie zu senken – derart gross ist die Angst vor einer massenhaften Abwanderung ins Ausland.
Das Gespenst der Deindustrialisierung
Droht das auch der Schweiz? Ist Gerlafingen nur der Anfang, und wir sind unterwegs Richtung Industriebrache? Der oberste Gewerkschafter des Landes schlägt auf jeden Fall Alarm. «Auch in der Schweiz besteht die reale Gefahr der Deindustrialisierung», sagt Pierre Yves Maillard. Der Präsident des Gewerkschaftsbundes warnt: «Wenn wir so weitermachen, haben wir in der Schweiz bald nur noch die öffentlichen Dienste, Versicherungen und Einkaufszentren.» Die USA, China und einige EU-Länder hätten die Gefahr erkannt und würden aktive Industriepolitik betreiben. In der Schweiz gebe es offensichtlich keinen Plan, um die produzierenden Firmen zu stützen.
Besonders hart geht Maillard mit den beiden zuständigen SVP-Bundesräten ins Gericht. «Herr Rösti und Herr Parmelin müssen jetzt handeln.» Sonst sei die SVP immer für die Souveränität und Unabhängigkeit des Landes. «Doch einheimische Industrie lässt man einfach sterben und schaut tatenlos zu.» Die Schweiz müsse jetzt strategisch wichtige Industrien identifizieren und diese unterstützen, so der Gewerkschafter. Grossverbraucher wie Stahl Gerlafingen möchte Maillard mit einem «regulierten Strompreis» vor dem freien Markt schützen. Damit steht der linke Gewerkschafter keineswegs allein da. Selbst aus bürgerlichen Kreisen tönt es ähnlich. Während der Bundesrat die Subventionierung einzelner Firmen strikt ablehnt, zeigt sich das Parlament interventionistischer. Im September hat der Nationalrat einen Vorstoss von Christian Imark (SVP) angenommen, der die Rettung von Stahl Gerlafingen mit Sofortmassnahmen fordert. Schlimmstenfalls soll der Staat dem Werk per Notrecht unter die Arme greifen.
Unterstützt wird die Forderung sogar von Unternehmer und FDP-Nationalrat Simon Michel. «Ich bin aus tiefer Überzeugung gegen Subventionen und eine staatliche Industriepolitik», sagt der wirtschaftsliberale Solothurner. «Aber Gerlafingen ist das schweizweit einzige Werk, das Recyclingstahl herstellt.» Wenn es schliesse, müsse man Tausende Tonnen Stahl für die Wiederaufbereitung ins Ausland karren. «Mit einer katastrophalen CO2-Bilanz», so Michel. Deshalb könne man das Werk durchaus als «systemrelevant für die Schweiz» bezeichnen und müsse eine zeitlich begrenzte Unterstützung prüfen, so der FDP-Nationalrat.
Die Verlockung, der Industrie mit Subventionen unter die Arme zu greifen, ist gross. Doch staatliche Finanzspritzen sind teure Pflästerlipolitik und lösen das Hauptproblem nicht: den zu hohen Strompreis. In der Schweiz ist es nicht in erster Linie die Energie, die zu teuer geworden ist. Es sind die staatlich festgelegten Netznutzungsgebühren, die stark angestiegen sind. Mit diesen Abgaben wird das Stromnetz finanziert. Doch nicht nur: Über diese Gebühren wird immer mehr bezahlt. So werden auch 2,3 Rappen pro Kilowattstunde für die Förderung von erneuerbarer Energie eingezogen. Dazu kommt noch ein Zuschlag für die Winterstrom-Reserve von 1,20 Rappen. Summa summarum kosten allein diese Gebühren hierzulande mehr als subventionierter Industriestrom im Ausland.
«Wir müssen aufpassen, dass wir nicht in die gleichen Zustände wie in Deutschland schlittern», warnt der Unternehmer Simon Michel. Im nördlichen Nachbarland sind die Netznutzungsgebühren nach dem Atomausstieg noch stärker angestiegen. Der Medtech-Unternehmer baut zurzeit in Schwerin eine neue Produktionsstätte. Diese Ypsomed-Fabrik wird eine eigene Windfarm und grosse Solaranlagen haben. Somit wird dieser Standort bis zu 70 bis 80 Prozent energieautark werden. Für den Unternehmer Michel besonders wichtig: Für den selber produzierten Strom muss er die horrend teuren Netzgebühren nicht bezahlen. «Der Atomausstieg war überhastet und führt heute zu grossen Wettbewerbsnachteilen», sagt er kritisch bezüglich der Rahmenbedingungen in Deutschland. Mit Blick auf den Standort Schweiz sagt er: «Die Wirtschaft braucht keine Energiesubventionen. Sondern bezahlbaren Strom.»
Strom ist der Schlüssel für die Zukunftstechnologien
Das Beispiel zeigt: Nicht nur die sogenannten «alten» Industrien wie Stahlschmelzen leiden unter den hohen Strompreisen. Auch für hochprofitable Branchen wie die Medtech werden diese zum Problem. Und Strom dürfte als Ressource in Zukunft noch sehr viel wichtiger werden: Rechenzentren oder künstliche Intelligenz (KI) sind enorm energieintensiv. Will die Schweiz bei diesen Technologien eine Rolle spielen, ist der Strompreis matchentscheidend.
Wie zentral Elektrizität für diese Zukunftstechnologien ist, zeigt der Blick in die USA. Bereits normale Rechenzentren benötigen viel Energie. Doch KI-Anwendungen sind noch einmal deutlich ressourcenintensiver. Der IT-Gigant Microsoft hat deshalb kürzlich einen Vertrag mit dem Kernkraftwerk Three Mile Island in Harrisburg abgeschlossen. Microsoft will sich den Strom eines 2019 vom Netz genommenen Meilers sichern. Falls die US-Nuklearaufsicht ihren Segen gibt, soll der 835-Megawatt-Reaktor wieder ans Netz gehen und die Rechenzentren von Microsoft für zwanzig Jahre mit Strom beliefern.
«Die ganze Digitalisierung wird den Strombedarf enorm in die Höhe treiben», ist Franz Grüter überzeugt. Der SVP-Nationalrat ist Verwaltungsratspräsident der IT-Firma Green und hat eine Pionierrolle beim Aufbau des hiesigen Rechenzentrenmarktes gespielt. Er baut gerade in Dielsdorf neue Anlagen für mehrere hundert Millionen Franken. «Rechenzentren sind die neuen Fabriken des digitalen Zeitalters», sagt Grüter. Die neuen, digitalen Industrien würden in den nächsten Jahren sehr viele Stellen für Hochqualifizierte schaffen. «Das ist eine grosse Chance für die Schweiz.» Doch die Rahmenbedingungen müssten stimmen. «Leider haben wir aus ideologischen Gründen den Strom künstlich verteuert», so kritisiert auch er den Atomausstieg.
Der ETH-Professor Thomas Schulthess ist Direktor des nationalen Supercomputing-Center (CSCS) in Lugano. Der Grossrechner im Tessin ist eine der leistungsfähigsten, öffentlich zugänglichen KI-Anlagen der Welt. Die Stromkosten betragen 15 bis 20 Millionen Franken pro Jahr und bereiten dem Direktor Sorge: «Der Strompreis ist für uns eine grosse Herausforderung.» Europa stehe in einem Wettbewerb mit den USA und China. «Die Verfügbarkeit von Strom und der Preis sind Schlüsselelemente für diese Technologien.» Der Professor warnt, die Entwicklung nicht zu verschlafen. KI sei nicht mehr die Zukunft, sondern die Gegenwart. Es brauche jetzt Investitionen, um den Anschluss nicht zu verpassen.
Wie entscheidend der Faktor Strom für die Ansiedlung von KI-Firmen ist, zeigt für Schulthess das Beispiel Skandinavien. «Finland und Norwegen sind zurzeit fast das Paradies für diese neuen Industrien.» Der Strompreis sei tief, und dank den niedrigen Temperaturen sei die Kühlung der riesigen Anlagen einfacher. Das habe im Norden einen Boom ausgelöst.
Vor über zweihundert Jahren hat sich die Metallindustrie im solothurnischen Städtchen Gerlafingen angesiedelt. Stahl war damals die Zukunftsbranche. Der heute hohe Strompreis könnte dazu führen, dass dieses Kapitel der Schweizer Industriegeschichte bald zu Ende geht. Dass die Grossindustrie hierzulande zu sterben droht, muss für den Standort ein Weckruf sein – ein Weckruf, sich für die neuen Zukunftsbranchen richtig aufzustellen.