Der Lohnanstieg 2023 reicht nicht zum vollen Teuerungsausgleich – doch mittelfristig dürfte die Kaufkraft weiter steigen Die Lohnrunde 2023 hat laut Gewerkschaftern ungewohnt hohe nominale Erhöhungen von durchschnittlich etwa 2,5 Prozent gebracht. Das reicht aber nicht für einen vollen Teuerungsausgleich. Wie schlimm ist das?

Die Lohnrunde 2023 hat laut Gewerkschaftern ungewohnt hohe nominale Erhöhungen von durchschnittlich etwa 2,5 Prozent gebracht. Das reicht aber nicht für einen vollen Teuerungsausgleich. Wie schlimm ist das?

 

Die Lohnrunde 2023 stand unter ungewöhnlichen Vorzeichen. Die Inflation ist heuer mit voraussichtlich knapp 3 Prozent so hoch wie seit fast dreissig Jahren nicht mehr, und viele Arbeitgeber beklagten sich über einen Arbeitskräftemangel. Beides deutete auf relativ hohe nominale Lohnsteigerungen. In die Gegenrichtung deuteten die grossen Unsicherheiten als Folge von Krieg und Energiekrise in Europa.

Gemessen an zwei anderen Elementen verlief die Lohnrunde 2023 wie meistens: Die Gewerkschaften starteten mit forschen Forderungen, und am Ende dürften diese im Mittel etwa zur Hälfte erfüllt sein. Im vergangenen Herbst forderten Gewerkschaften nominale Lohnerhöhungen von durchschnittlich 4 bis 5 Prozent. Effektiv dürfte die Lohnsteigerung 2023 im Mittel etwa 2,5 Prozent ausmachen. Diese Schätzung legte die Gewerkschaft Travail Suisse am Montag in ihrer Bilanz der Lohnrunde vor. Auch der Arbeitgeberverband erachtet dies als plausible Grössenordnung. Diese Schätzung deckt sich ziemlich genau mit der Prognose der Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich (KOF) von vergangener Woche: Die ETH-Forscher rechnen für 2023 mit einer Zunahme der nominalen Löhne gemäss Lohnindex der Bundesstatistiker von 2,4 Prozent. Die Anfang November publizierte Umfrage der UBS bei den Arbeitgebern hatte auf ein durchschnittliches Lohnplus von 2,2 Prozent gedeutet.

Vier Fünftel ausgeglichen

Die Gewerkschaft Travail Suisse zog am Montag ein durchwachsenes Fazit. Sie sprach einerseits von den höchsten Lohnerhöhungen in zwanzig Jahren, doch weil auch die Teuerung ungewöhnlich hoch war, ist per saldo mit einem Kaufkraftverlust zu rechnen; die Lohnerhöhungen 2023 gleichen «nur» etwa vier Fünftel der Inflation von 2022 aus. Im Jahresdurchschnitt rechnen die Nationalbank und die Bundesökonomen heuer mit einer Teuerungsrate von 2,9 Prozent.

In fast allen Verhandlungen schauten laut Travail Suisse generelle Lohnerhöhungen heraus. In gut 40 Prozent der Fälle habe es nebst generellen auch individuelle Lohnzuwächse gegeben. Hinter Durchschnittswerten stecken wie immer grosse Unterschiede zwischen den Branchen beziehungsweise den einzelnen Betrieben. Hier einige Beispiele der von Travail Suisse genannten und sonstigen bekannten Lohnabschlüsse:

Bundespersonal und ETH: 2,5 Prozent generell. SBB: 1,8 Prozent generell, 1 Prozent individuell und 0,5 Prozent Einmalprämie. Migros: 2,2 Prozent generell, 0,8 Prozent individuell. Gastgewerbe: voller Teuerungsausgleich auf allen Lohnstufen. Uhrenindustrie: generell 3,5 Prozent oder pauschal 191 Franken pro Monat. Bauhauptgewerbe: generell 150 Franken pro Monat. Reinigungsgewerbe Deutschschweiz: generell 3 Prozent. Bäckereien: 2 bis 4 Prozent. Diverse Spitäler: 2 bis 3 Prozent. Novartis, Roche: Erhöhung der Lohnsumme in der Schweiz um 2,2 beziehungsweise 2,3 Prozent.

Bei vielen Arbeitsplätzen in der Schweiz sind für die Lohnverhandlungen keine Gewerkschaften dabei. Gemäss den Bundesstatistikern decken Gesamtarbeitsverträge (GAV) mit normativen Bestimmungen wie etwa Mindestlöhnen rund 2 Millionen Arbeitnehmer ab; das sind etwa 40 Prozent aller Arbeitnehmer. Gesamtarbeitsverträge mit Gewerkschaftsbeteiligung werden oft auf Branchenebene ausgehandelt, kommen aber auch in gewissen grossen Einzelbetrieben vor. In den vielen Betrieben ohne relevanten GAV werden die jährlichen Lohnverhandlungen typischerweise zwischen Arbeitgeber und interner Personalkommission ausgehandelt. Dieses Modell kann es auch in Branchen geben, die einen GAV mit Mindestlohn haben; so ist zum Beispiel in der Maschinenindustrie die jährliche Lohnentwicklung jenseits der Mindestlöhne Gegenstand betriebsinterner Aushandlung.

Meist steigt die Kaufkraft

In den gesamtwirtschaftlichen Lohnstatistiken werden jeweils die Lohnerhöhungen und die Teuerung des gleichen Jahres einander gegenübergestellt. Laut der jüngsten KOF-Prognose dürften die Nominallöhne gemäss Lohnindex heuer etwa 1,5 Prozent höher liegen als im Vorjahr. Dies entspricht einer Kaufkrafteinbusse von etwa 1,3 Prozent. Für Jahre mit relativ hoher Teuerung sind Kaufkrafteinbussen nicht ungewöhnlich, da die vorangegangenen Lohnverhandlungen noch unter der Annahme tieferer Inflationsraten standen; so liegt die Teuerung in diesem Jahr deutlich höher, als zum Zeitpunkt der Lohnverhandlungen für 2022 zu erwarten war.

2022 war das zweite Jahr in Folge mit sinkendem Reallohnindex; die bescheidene Lohnentwicklung 2021 war geprägt durch die Corona-Krise. Im mittel- und längerfristigen Vergleich zeigt die Kaufkraft der Löhne in der Schweiz aber nach oben. Unter Berücksichtigung von 2022 und 2021 brachte seit 1950 im Mittel gemessen am Lohnindex nur etwa jedes fünfte Jahr eine Kaufkrafteinbusse. In der Periode seit 1980 kam dies öfter vor – im Mittel fast jedes dritte Jahr. Doch auch in dieser Periode stieg mittelfristig jeweils die Kaufkraft der Löhne. So liegt heuer der reale Lohnindex etwa 6 Prozent höher als 2010, knapp 14 Prozent höher als im Jahr 2000 und rund 25 Prozent über dem Niveau von 1980 (vgl. Grafik).

Ohne lange Wirtschaftskrise ist zu vermuten, dass der Rückgang des Schweizer Reallohnindexes der letzten zwei Jahre mittelfristig wieder kompensiert wird. Gemäss der jüngsten KOF-Prognose steigen die Reallöhne 2023 nur minimal, doch 2024 soll wieder einen etwas deutlicheren Anstieg bringen (0,6 Prozent).

Lohnempfänger halten die Stellung

Der Lohnindex der Bundesstatistiker, auf dem die genannten Zahlen beruhen, unterschätzt zudem tendenziell die Lohnentwicklung. Denn er beruht auf dem Lohnniveau unter Annahme unveränderter Wirtschaftsstruktur. Die Wirtschaft wandelt sich aber stetig – in der Tendenz in Richtung produktivere und besser bezahlte Tätigkeiten. Unter Berücksichtigung dieses Wirtschaftswandels sind laut den KOF-Daten die Löhne pro Vollzeitstelle von 1995 bis 2021 im Mittel etwa 0,5 Prozentpunkte pro Jahr stärker gewachsen als der Lohnindex der Bundesstatistiker. 2022 macht diese Differenz gemäss KOF-Schätzung etwa 0,3 Prozentpunkte aus.

Doch klar ist: Verteuern sich die Importe, wie dies heuer vor allem mit der Energie geschehen ist, müssen Inländer die Zeche zahlen. In der Folge geht es «nur» noch um die Verteilung dieser Zusatzkosten. Insgesamt haben die Lohnempfänger in der Schweiz ihren Anteil am Gesamtkuchen über die letzten Jahrzehnte mindestens gehalten. Typischerweise flossen seit 1995 etwa 55 bis 60 Prozent der jährlichen wirtschaftlichen Wertschöpfung (Bruttoinlandprodukt) in die Löhne. Diese Lohnquote belief sich 1995 auf 56 Prozent und dürfte heuer bei rund 60 Prozent liegen.

Hansueli Schöchli, «Neue Zürcher Zeitung»

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