Der Schreinermeister Markus Bosshard hat Hunderte von Lehrlingen ausgebildet. Nun droht seinem Betrieb das Aus – mitten im Fachkräftemangel Der grösste Ausbildungsbetrieb von Zürich hat finanzielle Probleme. Helfen soll der Kanton, doch er will nicht. Ein Besuch in der Werkhalle.
Der grösste Ausbildungsbetrieb von Zürich hat finanzielle Probleme. Helfen soll der Kanton, doch er will nicht. Ein Besuch in der Werkhalle.
Der Schreinerlehrling Len hat einen Traum. Er ist 16, lernt gerade die ersten Handgriffe seines Handwerks – und hat doch schon Grosses vor. Er will dereinst seinen VW-Van – «mein Hippie-Büsschen» – selbst zum Wohnmobil ausbauen. Kleine Küche, Einbauschränke und Bettgestell inklusive. «Das soll das Abschlussprojekt meiner Lehre werden», sagt er. Danach will er ab an die Atlantikküste zum Surfen.
Doch der Traum des Lehrlings Len ist in Gefahr. Seinem Lehrbetrieb – dem grössten im Kanton Zürich – droht das Aus, und das ausgerechnet in Zeiten des Fachkräftemangels. Von Aufgeben will im Betrieb zwar niemand sprechen. Doch das Loch in der Kasse wird grösser, und das bereitet den Verantwortlichen schlaflose Nächte.
Der Lehrling Len ist einer von rund vierzig Lernenden im Schreiner-Ausbildungszentrum Zürich, der Nachfolgeorganisation der kantonalen Lehrwerkstätte für Möbelschreiner (LWZ). Das Zentrum ist eine Mischung aus Schule und Betrieb: Es versorgt das Gewerbe mit Nachwuchs, muss sich seit kurzem aber vornehmlich selbst finanzieren.
Gerade werden in der Werkhalle neue Schiebetüren für ein Nobelhotel dunkel gefärbt – «schade um das Holz», sagt ein Schreiner, «aber die wollen das halt so». Ein Zimmer weiter versehen die Schreiner hölzerne Zierdeckel für das Sprüngli-Weihnachtskonfekt mit Gravuren.
An einer altmodischen Werkbank steht der Lehrling Len. Er ist damit die Ausnahme: Die meisten im Betrieb arbeiten an modernen Hebebühnen, monströsen Maschinen oder gleich am Computer. Doch Len steht im ersten von vier Lehrjahren, und da lernt man erst einmal das klassische Handwerk mit Hobel und Handsäge. Gerade gibt er seinem derzeitigen Projekt – einem Holzschlitten – den letzten Schliff. Davor hat er ein Schneidbrettchen gefertigt. Bis zum Innenausbau seines VW-Busses dauert es also noch eine Weile, doch das stört ihn nicht.
«Mit den eigenen Händen etwas zu schaffen, ist einfach schön», sagt er. «Darum will ich Schreiner werden.»
Der neue Kampf der alten Schreiner
Damit wird Len beim Lehrabschluss voraussichtlich ein gefragter Mann sein. Denn obwohl der Schreinerberuf bei vielen ein altmodisches Image hat, wird er gebraucht. Die Zürcher Schreinermeister klagen über fehlende Fachkräfte, verzweifelt wird qualifiziertes Personal gesucht. Andreas Derrer, der Präsident des kantonalen Schreinermeisterverbands, sagt: «Der Beruf ist gefragt, die Nachfrage ist gross. Wir sind froh um jeden Ausbildungsplatz.»
Plätze wie jene im Zürcher Ausbildungszentrum, das jährlich 10 der gut 150 Lehrstellen im Kanton ausschreibt. «Wir waren schon immer die Kaderschmiede für die Schreiner im Kanton», sagt Markus Bosshard, der langjährige Leiter der Lehrwerkstätte. «Und das wollen wir auch weiterhin sein. Unsere Leute haben nie Mühe, gute Stellen zu finden.»
Das ist unbescheidene Eigenwerbung – gewiss. Doch auch der Kanton nannte die Werkstätte noch vor wenigen Jahren ein «Vorzeigeobjekt des dualen Berufsbildungssystems». Der Leiter der Baugewerblichen Berufsschule Zürich sprach von einem «Leuchtturm» der Berufsbildung. Und als 2016 schon einmal die Schliessung der Ausbildungsstätte drohte, lehnte sich die kantonale Schreinerschaft geschlossen dagegen auf.
Noch heute ist ein Treffen mit der Führungsriege des Zentrums auch eines mit der lokalen Schreiner-Prominenz: Bosshard, der langjährige Geschäftsführer, war bis vor kurzem der Verantwortliche für die Berufsbildung im Kanton. Martin Brägger, der Präsident des Verwaltungsrats, organisiert seit 35 Jahren sämtliche Zürcher Lehrabschlussprüfungen der holzgewerblichen Berufe. Er sagt: «Es gibt wohl wenige Schreiner im Kanton, deren Abschlusszeugnis nicht von mir unterschrieben ist.»
Die altgedienten Schreinermeister Bosshard und Brägger sind es, die seit Jahren um das Überleben dieses Betriebs und seiner 40 Ausbildungsstellen kämpfen. Beide sind über 60, eigentlich pensioniert – doch beide haben in dieser Werkstätte auch einst ihre Lehre gemacht, ihre Karriere gestartet. Bosshard war ein «mittelprächtiger Realschüler», wie er sagt, bevor ihm hier «der Knopf aufging». Brägger kam als Arbeitersohn hierher, um etwas aus sich zu machen. Am Ende hatte er eine Produktionsgenossenschaft mit 30 Angestellten.
«Hier hat alles angefangen», sagt Bosshard. «Da kann man doch nicht einfach aufgeben, wenn es einmal schwierig ist und man in Pension gehen könnte. Ich lebe für meinen Beruf, für diesen Betrieb.»
Das Problem des Ausbildungszentrums ist schnell erklärt: Ihm fehlt das Geld. Bis vor fünf Jahren bezahlte der Kanton den Betrieb. Dann wurden die Mittel dafür sukzessive gekürzt. Das Gewerbe sprang für einen Teil davon ein, doch hauptsächlich muss sich das Zentrum heute über Aufträge finanzieren – und über die Lehrlinge, die in höheren Lehrjahren neuerdings als Arbeitskraft an Betriebe ausgeliehen werden.
Beides sei während der Pandemiejahre schwierig gewesen, sagen die Schreinermeister Bosshard und Brägger. Weil der neu als private Genossenschaft organisierte Betrieb noch jung und im Aufbau begriffen war, erhielt er zudem keine Corona-Nothilfe. «Wir haben Dutzende von Anträgen gestellt und fast nichts bekommen», sagt Brägger. «Wir sind zwischen Stuhl und Bank gefallen.»
«Als hätte man mir ein Kind weggenommen»
Nun ist der Fortbestand des Zentrums in Gefahr. Und mit ihm auch ein Stück Zürcher Schreinergeschichte. Der Betrieb – gelegen in einer ehemaligen Polizeikaserne in Zürich Selnau – steht nämlich auch für den Wandel des Gewerbes in der Stadt.
Vor 134 Jahren wurde die Zürcher Lehrwerkstätte für Möbelschreiner gegründet. «Endlich», schrieb damals die NZZ. Denn die Ausbildung für Schreiner galt davor als lausig, die Qualität ihrer Arbeit als unbefriedigend. Mit der Werkstätte wurde die nötige Professionalisierung eingeleitet. Das Schreinergewerbe in der Stadt boomte. 1984 wechselte der Betrieb – wie auch die Zuständigkeit für die Berufsschulen – zum Kanton. Und 2016 fiel das Zentrum schliesslich einem Sparprogramm zum Opfer. Eine Schreinerei mitten in der Stadt, und erst noch vom Staat geführt, schien aus der Zeit gefallen.
«Es war, als hätte man mir ein Kind weggenommen», sagt der damalige Leiter Markus Bosshard. «Doch ich sagte damals zum kantonalen Amtschef: ‹Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen!›»
Daraufhin bauten Bosshard und seine Mitstreiter jene private Genossenschaft auf, die während fünf Jahren sukzessive den Betrieb vom Kanton übernahm. Ende 2021 wurden die staatlichen Lehrwerkstätten schliesslich offiziell aufgelöst.
Neben den finanziellen Problemen habe der Wegfall der kantonalen Finanzierung auch zu einem Innovationsschub geführt. «Im Kanton gibt es immer mehr spezialisierte Betriebe, die die Grundlehre für Schreiner gar nicht mehr anbieten», sagt Martin Brägger. «Dafür werden die mittelgrossen Betriebe weniger, die traditionell viel ausgebildet haben.»
Darauf will das Zentrum mit einem neuen, von anderen Branchen inspirierten Ausbildungsmodell reagieren: zwei Jahre Grundbildung im Haus, zwei Jahre bezahlte Einsätze in verschiedenen Spezialbetrieben. Anstelle von aus der Zeit gefallen will das Zentrum damit Innovationszentrum sein. «Wir bilden ja nicht für uns aus», sagt Bosshard, «sondern für die Zukunft der ganzen Branche.»
Doch eben, dafür braucht es Geld. Könnte da nicht das Gewerbe als Nutzniesserin des Ausbildungszentrums einspringen?
Andreas Derrer vom Schreinermeisterverband winkt ab. Man habe bereits die Überführung der kantonalen Werkstätte in eine private Genossenschaft bezahlt, inklusive rechtlicher Abklärungen und der Erstellung eines Businessplans. Viele Betriebe im Kanton hätten zudem Anteilscheine gekauft (laut dem Zentrum selbst im Umfang von 120 000 Franken). Derrer sagt: «Wir haben unseren Anteil getan.»
Dazu kommt, dass das neuartige Ausbildungsmodell nicht in der ganzen Branche so gut ankommt. Er selbst finde die Idee zwar nicht schlecht, so Derrer. Doch viele Betriebe bevorzugten noch immer das klassische Modell, bei dem die ganze Lehrzeit im selben Betrieb absolviert werde.
Das Zentrum ist «hochwillkommen» – doch Geld dafür hat der Kanton nicht
Woher soll das fehlende Geld also kommen? Die Betreiber des Ausbildungszentrums sehen den Kanton als ehemaligen Eigentümer in der Pflicht. «Jedes Jahr werden Millionen für Bildung ausgegeben», sagt Bosshard. «Warum finden sich da nicht die 200 000 Franken, die wir in der Startphase zum Überleben brauchen?»
Dafür gebe es gute Gründe, heisst es beim Kanton. Auf Anfrage der NZZ schreibt das Mittelschul- und Berufsbildungsamt: «Der Kanton kann Private nur im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben unterstützen, dies ist in diesem Fall nicht gegeben.» Das Ausbildungszentrum habe die nötigen Bedingungen für finanzielle Hilfe nicht erfüllt.
Der Kanton habe dem Zentrum ausserdem die gesamte Einrichtung und Ausrüstung der ehemaligen Lehrwerkstätte inklusive teurer Maschinen geschenkt. Überdies habe man die Verantwortlichen des Zentrums beim Verfassen von Förderanträgen unterstützt und sich bei dessen Vermieterin – der Stadt Zürich – für günstige Konditionen eingesetzt. Man bedaure die drohende Schliessung, habe aber das Mögliche für das Zentrum getan.
Ähnlich äussert sich auch Regierungsrätin Silvia Steiner (Mitte) in einem Brief an einen politischen Unterstützer des Zentrums. Im Schreiben, das der NZZ vorliegt, heisst es, die Förderung der Schreinerausbildung sei zwar «hochwillkommen», dennoch bestehe «keine weitere Unterstützungsmöglichkeit».
Im Schreiner-Ausbildungszentrum in Zürich Selnau geht die Geldsuche dennoch weiter. Die pensionierten Schreinermeister Bosshard und Brägger sind sich sicher: «Diesen Betrieb wird es auch noch geben, wenn es uns einmal nicht mehr gibt.»
Dann läutet die Pausenglocke, und alles drängt zum Getränkeautomaten. Darauf steht: «Funktioniert momentan nur mit Bargeld.» Und in Klammern darunter: «Lösung folgt.»