Deutsche Expats in der Schweiz: Finden sie hier eine Heimat? Kerstin und Josua Steinhauser sind im vergangenen Jahr wegen eines Führungsjobs von Düsseldorf nach Zug gezogen. Dem Paar fehlt es an nichts, ausser an einem vertrauten Umfeld. Die beidem erlebten einen einsamen Winter.

Kerstin und Josua Steinhauser sind im vergangenen Jahr wegen eines Führungsjobs von Düsseldorf nach Zug gezogen. Dem Paar fehlt es an nichts, ausser an einem vertrauten Umfeld. Die beidem erlebten einen einsamen Winter.

Josua und Kerstin Steinhauser spielen mit ihrem Sohn Sammy auf einem ­Spielplatz in ihrer neuen Nachbarschaft in Zug.

Es ist früh an einem Donnerstagnachmittag im Februar 2023, der Nebel hängt tief über dem Städtchen, und Kerstin Steinhauser betritt den Krabbeltreff neben der katholischen Kirchgemeinde Zug. Sie zieht ihre Hände aus den Wärmern am Kinderwagen, die ihr Mann ihr zum 35. Geburtstag geschenkt hat. Zwei Frauen sind schon da, Kerstin hebt ihren einjährigen Sohn aus dem Wagen und zieht ihm die Jacke aus, er tappt vorsichtig in den Raum. Ein Mädchen stürmt auf ihn zu, «Elif, vorsichtig!» mahnt ihre Mutter. Samuel klammert sich an die Beine von Kerstin. Eine der Betreuerinnen sagt: «Wau, jetzt chan är scho loufe.» Kerstin Steinhauser blickt ein bisschen verdutzt, sie muss genau zuhören, damit sie den Dialekt versteht, und selbst dann bleibt ihr oft ein Rätsel, was die Schweizer ­meinen.

Sammy geht voran, und Kerstin läuft ihm hinterher und setzt sich auf den Boden. In der Mitte des Raumes liegen überall Spielsachen. Jeden Satz, den Kerstin an eine Erwachsene richtet, unterbricht sie wieder. Sammy fällt um, Sammy ruft, Sammy will auf das Schaukelpferd steigen, aber er kann seine Beine noch nicht heben. Als Kerstin den Krabbeltreff wieder verlässt, sind ein Grossvater und fünf andere Mütter da. Mit einer einzigen von ihnen hat sie in diesen zwei Stunden länger gesprochen.

 

Inzwischen drückt die Sonne hinter dem weissen Schleier am Himmel, Kerstin steuert den Kinderwagen Richtung See. Sie will ans Licht, bevor es wieder dunkel wird. Dieser Winter fühlt sich für sie lang und einsam an. «Ich mag neue Bekanntschaften, aber je älter ich werde, desto schwieriger finde ich es, Gleichgesinnte zu treffen.» Nur, weil eine auch Mutti sei, heisse das ja noch nicht, dass man einander möge.

Ihre neue Rolle als Mutter beschäftigt Kerstin. In ihrem alten Leben in Deutschland war die Betriebswirtin Customer Journey Specialist bei einem grossen deutschen Automobilkonzern. Mittlerweile ist sie einfach «s Mami vom Sammy». Das sei sie sehr gerne, aber es gebe eben auch noch andere Teile ihrer Persönlichkeit. Ihr Sohn kam im Dezember 2021 zur Welt, seither ist Kerstin in Elternzeit.

Ein halbes Jahr nach der Geburt, im Sommer 2022, zogen Kerstin und ihr Mann Josua von Düsseldorf nach Zug. Josua ist 36jährig und wie Kerstin Betriebswirt. Er leitet den strategischen Einkauf beim deutschen Modeunternehmen Peek & Cloppenburg und ist für die neue Schwesterfirma mit Sitz in Zug verantwortlich. Die Steinhausers gehören zu den 23000 Deutschen, die im vergangenen Jahr in die Schweiz kamen. Hinter den Italienern bilden sie die zweitgrösste ausländische Bevölkerungsgruppe.

Die Deutschen mögen die Schweiz, und die Schweizer brauchen die Deutschen: Sie leben in der Nähe, sprechen dieselbe Sprache, sind hochqualifiziert. Firmen rufen Fachkräfte, und es kommen Menschen wie Kerstin und Josua. Aber finden sie hier auch eine Heimat? Kerstin weiss, neue Beziehungen brauchen Zeit, sich an ein neues Land und ein neues Leben zu gewöhnen, auch. Jeder Winter endet irgendwann.

14. November 2022 – Aufbruchstimmung

Es ist November 2022, drei Monate bevor Kerstin den Krabbeltreff neben der Kirchgemeinde besucht. Die Steinhausers sitzen gutgelaunt am Esstisch ihres «Traumobjekts», das sie seit dem Sommer bewohnen: frisch saniert, 5½ Zimmer, eine offene Küche, ein Balkon mit Seeblick. Ein Abenteuer in Aussicht.

Der erste und für viele Zuzüger aufreibendste Schritt, um in der Schweiz anzukommen, war für Kerstin und Josua überraschend einfach: eine Wohnung zu finden. Zum ersten Mal betrat Kerstin ihr Zuhause in Zug am 20. Juli. Sie reiste aus Luzern an, wo das Paar zunächst ein möbliertes Appartement gemietet hatte. «Zuvor hatten wir Visualisierungen gesehen.» Ihr habe die Wohnung auch in echt gefallen. Die Vermieterin sagte, das Objekt sei für sie reserviert und werde nicht ausgeschrieben, sie brauche bloss zuzusagen. «Ich war total perplex und erfreut, damit hatte ich gar nicht gerechnet», sagt Kerstin.

Die Steinhausers konnten beim Umzug in die Schweiz die Dienste einer sogenannten Relocation Agency in Anspruch nehmen. Diesen Service stellte Josuas Arbeitgeber ihm zur Verfügung. Die Mitarbeiterinnen der Agentur organisierten Besichtigungstermine, halfen dem Paar beim Eröffnen eines Kontos für die Mietkaution und erklärten, welche Versicherungen die beiden brauchen. «Weil die Schweiz nicht in der EU ist, mussten wir alles künden und neu abschliessen», sagt Josua.

 

Zug kommt der Familie Steinhauser manchmal ein bisschen vor wie Amerika.

Ihr Nachbarland war Kerstin und Josua vollkommen fremd, bevor sie hierhergezogen waren. Einmal fuhren sie durch die Schweiz, auf der Heimreise aus den Ferien in Italien nach Düsseldorf. Dass sein Bereich bald nach Zug verlegt würde, erfuhr Josua im Herbst 2021. Zunächst habe sie den Umzug verdrängt, sagt Kerstin, «dann dachte ich: Wieder näher zur Familie, zurück in den Süden, ist ja auch gut, vor allem mit unserem Kind». Kerstin und Josua wohnten lange in Stuttgart, aufgewachsen sind sie auf dem Land, nahe Ingolstadt in Oberbayern und dem Allgäu.

Die beiden beschreiben sich als Familienmenschen. Josuas Vater, Pastor einer Freikirche, hat das Paar getraut. Josuas fünf Geschwister leben in Süddeutschland, Kerstins Schwester im Dorf, wo sie ihre Kindheit verbrachten und ihre Eltern wohnen. Kerstin und Josua fühlen sich ihren Verwandten stark verbunden – und sie wünschten sich immer eine eigene Familie.

Globale Nomaden sind Kerstin und Josua vom Typ her keine, und doch wurden sie Teil einer internationalen Kaste gebildeter Arbeitsmigranten. Josua lebte schon in den USA und in Japan, kennengelernt haben sich die beiden beim Studieren in Nürnberg, ein Paar wurden sie während eines Auslandpraktikums in Schanghai. Sie hätten sich gut vorstellen können, einige Jahre in Amerika zu wohnen. Jetzt sind Kerstin und Josua in Zug gelandet. Das Städtchen mit seinen 30 000 Einwohnern kommt ihnen manchmal auch ein bisschen vor wie Amerika: Jede zehnte hier spricht Englisch, und die Regierung denkt gross. Wer will, kann seine (tiefen) Steuern in Bitcoin bezahlen.

Die Steinhausers sind schon zufrieden, dass sie kein Bargeld mehr brauchen, «selbst an der Chilbi hängt über jeder Bude eine Nummer für Twint», sagt Josua. «So was wäre in Deutschland undenkbar.» Kerstin erzählt, sie habe sich in der Ludothek angemeldet, einer Art Bibliothek, wo Kinder Spielsachen ausleihen können, «sogar da gibt es Twint». Was Kerstin auch positiv überrascht, sind die gut organisierten Termine beim Kinderarzt: «Ich mache eine Uhrzeit ab und komme dann tatsächlich dran.»

Nur etwas fehlt dem Paar in der Schweiz: das vertraute Umfeld. Es ist der Preis, den die beiden für die Karriere und den hohen Lebensstandard bezahlen. Steinhausers sind in einem Dilemma, das viele kennen, die immer wieder weiterziehen. Manchmal ist die Fremde aufregend, manchmal anstrengend. Manchmal hört man gern eine andere Sprache, manchmal möchte man lieber seine eigene sprechen. Manchmal freut man sich über neue Leute, manchmal fehlen die alten Freunde.

Vielleicht, meint Kerstin, werde es im Frühling einfacher, Kontakte zu knüpfen, wenn die Zuger ihre Freizeit am See verbringen. Sie sei ja jetzt schon oft auf dem Spielplatz, wo es ihr an der Schaukel vorkomme wie «Mütterspeeddating».

Josua fehlt gerade die Zeit, um neue Freunde zu suchen. Ausserdem steht er in seiner Firma zuoberst in der Hierarchie. «Da entstehen nicht so leicht private Beziehungen.» Aber alle würden ihnen versichern: «Wenn ihr mal drei Jahre in der Schweiz seid, wollt ihr gar nicht mehr weg.»

1. April 2023 – Frühlingserwachen

Zehn Monate leben die Steinhausers nun in der Schweiz, der Frühling ist gekommen, doch die Sonne und die Freunde verbergen sich noch. Das Paar sitzt zu zweit am Esszimmertisch. Eigentlich würden sie lieber öfter raus, nur ist es zu kalt, Sammy ist regelmässig krank und braucht seinen Schlaf. Kerstin sagt: «Natürlich dachten wir: Wir werden coole Eltern, wir leben unser Leben weiter.» Natürlich sei das nicht passiert, das Kind habe alles verändert. «Und das ist auch gut so.»

Kerstin ist glücklich, wenn sie mit ihrem Sohn und ihrem Mann zusammen ist, aber sie sagt auch: «Ich fühle mich tagsüber isoliert, ich vermisse die Arbeit, die Gespräche mit Erwachsenen, Freunde und Cocktails.» Kerstin hat inzwischen die App «Momunity» getestet, ein Forum, wo sich Mütter austauschen und andere Mütter in der Nähe kennenlernen können. Ein paar Mal habe sie eine Frau angeschrieben, sagt Kerstin, aber oft keine Antwort erhalten. «Dann kommt es vor, dass eine Mutti zwei Wochen vorher abmachen will. Das ist auf dem Dorf schon anders: Da gehst du einfach schnell vorbei, wenn du Zeit hast.»

Gerade ist Kerstin aus Deutschland zurückgekehrt, es gab einen Todesfall in der Familie. Der Besuch zu Hause erinnerte sie daran, wie weit weg sie lebt, obwohl es doch nur 400 Kilometer sind. Bereits in Stuttgart habe sie bemerkt, wie sehr sie die Distanz zu ihrer Familie in gewissen Situationen herausfordere. «Als der Freund meiner Schwester ihr einen Antrag gemacht hatte, standen die Verwandten spontan zum Gratulieren vor der Tür. Ich konnte nicht dabei sein. Das hat mich total beschäftigt.»

Seit Kerstin von zu Hause auszog, treibt sie das Fremdsein um, etwa nach dem Umzug nach Stuttgart. «Ich sprach Bayrisch und die anderen Schwäbisch, da merkst du einfach, du gehörst nicht dazu.» Sie habe sich immer wieder gefragt: Wer bin ich? Und wie sehr muss ich mich anpassen?

Auch Josua hat eher schwierige Wochen hinter sich. Sein Arbeitgeber, Peek & Cloppenburg, musste in Deutschland Insolvenz anmelden. Die Geschäftsleitung hat nach der Pandemie zu stark auf den Onlinehandel gesetzt, und so stauten sich Lagerbestände an. Das Unternehmen kann seinen Betrieb zwar weiterführen, aber mit grossen Einschnitten. Josua muss sparen und Leute entlassen – anstatt sich nach der Arbeit auf einen Drink mit seinen Kollegen zu treffen. «Die Situation ist belastend, ich mache mir viele Gedanken», sagt Josua.

Und doch wollen Kerstin und Josua zuversichtlich bleiben, manchmal gebe es eben schwierige Zeiten. Sie wissen: Jeder Winter endet irgendwann.

Die beiden haben noch immer dasselbe Ziel: ankommen. «Sonst ist man immer auf der Suche», sagt Kerstin. Nur wo? Josua schweigt zuerst und fügt dann an: «Im Moment hier, in Zug. Aber klar, wenn Sammy älter wird, müssen wir uns noch einmal Gedanken machen. Vielleicht bauen wir dann ein Haus in der Nähe von Kerstins Eltern?»

11. Juni 2023 – Hollywoodsommer

Josua stellt Gemüse auf den Tisch, eine Salatschüssel, grillierten Mais, Auberginen, Fleisch. Heute Vormittag haben er und Kerstin die Gartenmöbel aus dem Keller geholt und den Balkon eingerichtet: mit einem kleinen Sofa, einem Sessel, einem Tisch. Das grössere Sofa hatte keinen Platz. «Irgendwann wäre ein Garten schön», sagt Kerstin. Sie blickt auf die Fontäne auf dem Zugersee. Im Hintergrund erheben sich die Alpen, das Wasser glitzert einladend. Sammy schiebt einen Pilz nach dem anderen in den Mund. Es ist Sommer geworden.

 

Die Wintermonate waren hart, im Juni aber hat sich die Stimmung der Steinhausers verändert.

Kerstin ist müde und voller Vorfreude, sie ist wieder schwanger. Im Herbst kommt ihr zweites Kind zur Welt. Seit ein paar Tagen weiss sie, es wird ein Mädchen. Nun suchen Kerstin und Josua einen passenden Namen. «Wir haben schon eine Liste gemacht», sagt Josua. Hanna wäre schön, aber so heisst schon seine Nichte. «Hanna», sagt Sammy. «Wo ist das Baby?» fragt Josua. Sammy zeigt auf Kerstins Bauch.

Ein Jahr wohnt das Paar nun in der Schweiz, die sich ihnen gerade mit all ihren Vorzügen präsentiert: die Termine beim Arzt sind entspannt, eine Hebamme zu finden war unkompliziert, der Zugerberg lädt Josua zum Biken ein, Zeit in der Seebadi zu verbringen empfindet Kerstin «wie Urlaub, da hast du die grössten Glücksgefühle».

Gestern fuhren Kerstin und Josua auf die Rigi. Dort war es zwar neblig, und der Spielplatz, den sie sich zuvor rausgesucht hatten, wird gerade umgebaut. Sammy war das egal. «Er hat sich so gefreut über die Ziegen und Kühe, es war ein schöner Ausflug», sagt Josua. Überhaupt habe er in den vergangenen Wochen Energie tanken können: während ein paar Freitagen und Familienferien in Kroatien.

Die Wochen zuvor waren aufreibend für Josua. Ende Mai musste er vielen seiner Mitarbeiter, die er erst vor ein paar Monaten eingestellt hatte, wieder kündigen. «Es ist mir sehr schwer gefallen», sagt er. «Aber nach dem ersten Schock haben sich die meisten rasch erholt.» Auf dem Arbeitsmarkt hätten sie derzeit glücklicherweise gute Chancen, eine Stelle zu finden.

Josua ist froh, ist die Zeit der Unsicherheit vorbei. Zwar habe sich das Büro geleert, aber jene, die noch da seien, hätten nun Gewissheit. «Wir können zusammen wieder starten.» Bald würden die neuen Strukturen kommuniziert, die Firma habe ein Sommerfest organisiert. Man will nach vorne blicken.

Wenn Josua zurückschaut auf das Abenteuer im fremden Nachbarland, kommen verschiedene Gefühle hoch. «Am Anfang bist du voller Euphorie, dann zieht der Alltag ein. Irgendwann kennt man die Strecke dem See entlang.» Die Wintermonate seien zäh gewesen, sagt Kerstin. Nun empfinde sie eine andere Stimmung. Kontakte hat Kerstin inzwischen einige geknüpft, etwa mit Julia von «Momunity», einer Deutschen, die in Zug wohnt. Gerade habe ihr noch eine andere Mutter geschrieben. Auch eine echte Schweizerin lernten Kerstin und Josua kennen, bei einer Kinderveranstaltung in der Bibliothek. «Die spricht immer Dialekt mit uns und passt sich gar nicht an, das ist super», sagt Kerstin. Sie tauschten Nummern und wollen sich bald einmal verabreden.

Als Kerstin und Josua im Frühling zusammen in Deutschland waren, trafen sie einen Architekten. Gemeinsam entwickelten sie erste Skizzen für ihr Haus, das auf dem Bauplatz im Dorf von Kerstins Eltern entstehen könnte. «Mit einem grossen Garten, dann müsste ich nie mehr raus.» Kerstin lacht über sich.

Sie blickt in die untergehende Sonne. Bald erwartet sie Besuch «von den Mädels» aus dem Dorf, auch andere Freunde haben sich angekündigt und Josuas Brüder. Die Pläne für das Haus liegen seit ein paar Wochen wieder in der Schublade. Im September wird Kerstin eine Freundin in Paris besuchen, bevor sie ihre Tochter im Kantonsspital Zug zur Welt bringt. «Wenn ich mir vorstelle, dass meine Kinder Schwyzerdütsch sprechen werden, das ist schon lustig.»

Dieser Artikel stammt aus dem NZZ-Folio zum Thema «Ankommen» (erscheint am 3. Juli 2023). Sie können diese Ausgabe einzeln bestellen oder NZZ Folio abonnieren.

Aline Wanner (Text), Beat Schweizer (Bilder), Neue Zürcher Zeitung

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