Die Hälfte der Mitarbeitenden ist schon weg – Szenen vom letzten Weihnachtsverkauf bei Jelmoli Die Angestellten wollen dem Einkaufstempel ein würdiges Ende bereiten.
Die Angestellten wollen dem Einkaufstempel ein würdiges Ende bereiten.
Im Erdgeschoss von Jemoli steht Mirjam Saxer und schaut zwei jungen Männern in teuren Mänteln zu. Die beiden hantieren unbeholfen mit zerknittertem Geschenkpapier in Jelmoli-Grün und mit farbigen Bändern. Saxer verdreht amüsiert die Augen. Sie kann kaum zuschauen.
Doch dieses Jahr gibt es den Service nicht – das Unternehmen liess sich diesen jeweils viel Geld kosten, jetzt muss es Prioritäten setzen. Für die Kunden heisst das: «Do it yourself.» Denn dieses Jahr ist alles anders. Jelmoli wird bald Geschichte sein, das Warenhaus ist nur noch bis Ende Februar offen.
Über die Lautsprecher läuft «Last Christmas». Saxer könnte melancholisch werden. Sie hat so etwas schon einmal erlebt, als das traditionsreiche Herrenmodegeschäft Fein-Kaller an der Bahnhofstrasse geschlossen wurde, wo sie die ersten dreissig Jahre ihres Berufslebens verbrachte.
Aber Saxer ist nicht der Typ für Wehmut. Sie hat auch gar keine Zeit dafür.
Am Tresen des Kundendiensts, hinter der Kofferabteilung, herrscht Dauerbetrieb. Saxers lebhafte Augen sind überall gleichzeitig, sie geht auf jeden zu, der sich hilfesuchend umsieht. Und das tun viele. Saxer ist den ganzen Tag in Bewegung, in Ferragamo-Pumps. «The show must go on.» Draussen drängen die Massen an den weihnächtlichen Schaufenstern vorbei, beim Eingang ist ein Glühwein-Stand aufgestellt.
Die Schaufenster, die leer bleiben
Vier Stockwerke höher, im Dachgeschoss von Jelmoli, bekommt man von dieser Hektik nichts mit. Eugenio Donno legt in einem Sitzungszimmer ausgedruckte Tabellen vor sich auf einem Tisch aus. An der Wand hat er die Grundrisse der einzelnen Etagen aufgehängt.
Der 35-Jährige ist als Leiter Ladenbau für die Warenpräsentation zuständig. Seine Aufgabe besteht im Wesentlichen darin, Jelmoli in seinen letzten Wochen so aussehen zu lassen, als würde das Warenhaus nicht bald schliessen.
Er erinnert sich an die letzten Tage von Manor an der Bahnhofstrasse, als das Warenhaus die grosse Rabattschlacht eröffnete. «Wir wollen keine Ramschstimmung», sagt Donno. Er weiss, dass sich dies nicht ganz vermeiden lässt. Aber er will Jelmoli ein würdiges Ende bereiten.
Dazu gehört auch die opulente Weihnachtsdekoration, für die das Warenhaus berühmt ist. Sie wurde dieses Jahr unter dem Motto «Merry Memories» gestaltet, fröhliche Erinnerungen. Es sind auch Erinnerungen an vergangene, an bessere Zeiten. Die Schaufenster von Jelmoli mit den bewegten Puppen waren zur Adventszeit für Generationen eine Attraktion. Im Januar und Februar werden sie leer sein. Dann beginnt der grosse Ausverkauf. Alles muss raus.
Im Februar 2023 hat die Immobiliengesellschaft Swiss Prime Site (SPS) bekanntgegeben, dass sie kein Warenhaus mehr betreiben wolle. Ihr gehört nicht nur das Gebäude, sondern auch das operative Geschäft. Und Jelmoli ist seit Jahren nicht mehr profitabel genug.
Das Warenhaus mit einer Verkaufsfläche von 24 000 Quadratmetern – viermal so gross wie der benachbarte Globus – ist schlicht aus der Zeit gefallen. Mit dem Angebot und den Preisen aus dem Onlinehandel kann es nicht mithalten.
Die Etagen ohne Waren
Eugenio Donno muss zur Hochform auflaufen, wenn das Jahr 2024 zu Ende geht und bei den meisten Leuten die Feiertagsmüdigkeit einsetzt. Er und sein Team haben einen logistischen Hosenlupf vor sich. Denn im Januar und Februar bleiben nur noch das Untergeschoss mit der Lebensmittelabteilung, das Erdgeschoss und der erste Stock offen. Das Warenangebot wird zu klein sein, um bis zum Schluss sechs Etagen zu bespielen.
Vier Tage müssen reichen, um das Warenhaus komplett umzugestalten. Am 30. und 31. Dezember werden fast alle Mieter im Erdgeschoss und im ersten Stock ihre Flächen verlassen. Nur die Beauty-Abteilung bleibt. Donno hat einen getakteten Plan erstellt und jedem Einzelmieter im Warenhaus einen Zeitslot zugeteilt, um über die Rampe ins Verteilzentrum im Untergeschoss zu gelangen.
Doch er weiss: Mit Chaos ist zu rechnen. Einige Mieter werden sich verspäten, andere die Rampe für die Lieferanten nicht finden oder den Termin schlicht vergessen. Gleichzeitig ist das Warenhaus normal geöffnet.
Am 1. und 2. Januar wird Donno dann zusammen mit 40 Kolleginnen und Kollegen die obersten drei Etagen räumen. Vier Teams arbeiten in Schichten, von früh bis spät. Es ist eine Zügelaktion für Tausende von Waren. Am Abend des 2. Januar muss jede Tasse, jedes Paar Socken umgeräumt und neu arrangiert sein, denn einen Tag später geht das Warenhaus wieder auf.
Mirjam Saxer wird zu dem Rumpfteam gehören, das auch die letzten zwei Monate von Jelmoli noch mitmacht. Sie gehört zu dem Typ von Angestellten, die ein Unternehmen im Inneren zusammenhalten, weil sie überall einspringen, wo die Rädchen nicht von selbst ineinandergreifen.
Da ist der Herr mit der weissen Mähne, der wissen will, welche Grösse der blaue Morgenmantel im Schaufenster hat. Saxer lässt das Teil von einer Kollegin aus der Auslage holen und hilft beim Anprobieren. Dann kommt ein Vater, der verzweifelt ist, weil die Tickets fürs Märlitram immer ausverkauft sind. Saxer gibt ihm einen Tipp.
Dann die Amerikanerin mit den vielen Taschen, die sie nicht mehr tragen kann. Die Inderin mit der riesigen Sonnenbrille, die die Mehrwertsteuer für ihre Einkäufe zurückverlangt – und einen meterlangen Ausdruck erhält.
Plötzlich treten drei Männer durch einen Seiteneingang und stellen sich vor den Tresen. Niemand sagt ein Wort, man nickt sich bloss zu. Saxer tippt einen Betrag in die Kasse, einer bezahlt. Als sie weg sind, folgt die Erklärung: Das waren einer der Ladendetektive und ein Polizist in Zivil. Der dritte Mann, perfekt frisierte blonde Haare und ein gut sitzendes Hemd, hätte ein Immobilienmakler sein können. Er war aber ein frisch ertappter Dieb, der die Umtriebsentschädigung zahlte.
All diese kleinen, alltäglichen Dramen und Triumphe werden bald der Welt von gestern angehören.
Das Warenhaus, das Zürich mondän macht
Die Geschichte des grössten Zürcher Warenhauses beginnt am 16. September 1899. An diesem Tag eröffnet ein Mann namens Franz Anton Jelmoli, Enkel eingewanderter Stoffhändler aus Italien, wenige Schritte von der Bahnhofstrasse entfernt, einen mondänen Glaspalast nach dem Konzept der Grands Magasins in Paris. Waren aus aller Welt mit einem fixen Preisschild, die auf mehreren Etagen angeboten werden: Dieses Konzept ist um die Jahrhundertwende neu. Einkaufen wird zum Erlebnis.
Die NZZ bezeichnet Jelmoli beeindruckt als «grösstes und reichhaltigstes Geschäftshaus in unserer werdenden Grossstadt Zürich» und schreibt über die Damenabteilung im ersten Stock: «Modesachen in Seidenband, Damenkleiderstoffe sind da vorhanden in so grosser Auswahl, dass wir einem Ehemann nicht anraten könnten, mit seiner Ehegemahlin diese Räume zu betreten.»
Rasch hat Jelmoli eine Ausstrahlung, die über Zürich hinausgeht, auch wegen seines zweimal jährlich erscheinenden Katalogs.
Die Entwicklung des Warenhauses spiegelt auch die Rolle der Frau in der Gesellschaft. Anfang des 20. Jahrhunderts ist es unüblich, dass Damen ohne Herrenbegleitung unterwegs sind. Jelmoli wird zu einem der wenigen Orte, an denen sich Frauen allein aufhalten können. Andere finden bei Jelmoli Arbeit und ein Stück Unabhängigkeit. So schildert es Sabine Gisiger in einem gerade erschienenen Dokumentarfilm über das Warenhaus.
Bei Jelmoli zu arbeiten, gilt jahrzehntelang als eine Art Statussymbol, und die Arbeitsbedingungen sind fortschrittlich. Die Verkäuferinnen bezeichnen sich stolz als «Jelmolianerinnen». Wer tüchtig ist, wird belohnt. Im Film zeigt eine pensionierte Mitarbeiterin ihr Namensschild, das mit einem Brillanten versehen ist. Der damalige Direktor hat ihr das Steinchen geschenkt.
Fast die Hälfte des Personals ist gegangen
Viele der Kundinnen, die heute, an einem der allerletzten Tage, durch die Auslagen stöbern, suchen nach einem Erlebnis, das es bald nicht mehr gibt. Man trifft auf Frauen, die sich auch mit über 70 Jahren noch ungefragt als «Jelmoli-Kind» bezeichnen. Oder die sich hier ein letztes Mal mit den Freundinnen zum Kaffee treffen, wie sie das früher oft taten. «Unsere Art des Einkaufens verschwindet», sagt eine, «das ist schlimm.»
Mirjam Saxer hört das oft, sie ist beim Kundendienst auch als Trauerbegleiterin gefragt. Und als Trösterin, wenn wieder einmal jemand mit Gutscheinen vor dem Tresen wedelt, die zwanzig oder dreissig Jahre alt und längst verfallen sind. Das kommt mehrmals am Tag vor. Nicht alle nehmen es locker — gerade hat eine ältere Frau ihrer Enttäuschung laut Luft gemacht. «Es gibt auch solche, die schreiben wegen 20 Franken direkt dem CEO», sagt Saxer.
Der CEO heisst seit dem Frühjahr 2023 Reto Braegger. Er empfängt in einem Zimmer ganz oben im Turm des rückseitigen Erweiterungsbaus aus den 1930er Jahren. Von einem nüchternen Treppenhaus aus gelangt man wie durch ein Zeitfenster in einen Raum mit Stuckaturdecke und Leuchter, einer rot gemusterten Stofftapete und einem Kachelofen. Der Glanz vergangener Zeiten.
Braegger ist vor drei Jahren als Chief Merchandise Officer zu Jelmoli gestossen, wo er etwas aufbauen wollte. Stattdessen ist seine Rolle jetzt die des allerletzten Geschäftsführers in der 192-jährigen Unternehmensgeschichte. Er ist der Mann, der die Lichter löscht.
Nach der Schliessung wird der Inhaber SPS die Liegenschaft umbauen lassen. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass danach ausgerechnet Manor drei Stockwerke übernehmen wird. Manor musste Anfang 2020 von der Bahnhofstrasse wegziehen. Nun kann das Warenhaus am neuen Standort mit fast gleich viel Fläche wie vorher weitermachen.
Für die Jelmoli-Belegschaft sei die schwierigste Phase überstanden, sagt Braegger. Der Schock und die Trauer – die seien durch. Er habe viel Zeit «auf der Fläche» verbracht, im Verkauf, und mit seinen Leuten gesprochen. Besonders mit langjährigen Mitarbeiterinnen, die noch immer nicht hätten glauben wollen, dass es zu Ende gehe.
45 Prozent des gesamten Personals sind im Verlauf dieses Jahres schon gegangen. Für die allerletzte Phase ist es Braegger und seinem Team gelungen, kurzfristig Ersatz zu rekrutieren.
Die Umstände sind schwierig, aber Mirjam Saxer will nicht klagen. «Ich gehöre nicht zu jenen, die bis zum Schluss hofften, dass der Prinz von Dubai kommt und uns alle rettet, indem er diese Hütte kauft», sagt sie. Was vorbei ist, ist vorbei. Sie werde sich wohl früh pensionieren lassen. «Ich habe mit Jelmoli am selben Tag abgeschlossen, als die Nachricht kam. Nur die Begegnungen mit den Leuten jeden Tag – die werden mir fehlen.»
Auch Eugenio Donno ist krisenerprobt. Er war Ladenbauer bei Charles Vögele, als das Unternehmen 2016 pleiteging, von OVS übernommen wurde und zwei Jahre später definitiv nicht mehr zu retten war.
Die Umstände seien nicht zu vergleichen mit jenen von Jelmoli, sagt Donno. «Bei OVS musste ich eines Tages unsere Möbelbauer anrufen und ihnen sagen: Bitte produziert nichts mehr für uns, wir können euch nicht bezahlen.» Bei Jelmoli handle es sich um eine geordnete Ladenschliessung, und das Geld sei noch da. Deshalb kam es für ihn nicht infrage, zu kündigen.
Im Gang zu Donnos Büro sind drei Bilder mit historischen Ansichten des Warenhauses an die Wand gelehnt. Sie kamen beim Aufräumen zum Vorschein. Ein anderes hat Donno gekauft und nach Hause genommen. Letztes Jahr hat er ein Mini-Märlitram als Schmuck für den Weihnachtsbaum erstanden. Es ist eines der wenigen Erinnerungsstücke, die ihm von seiner Arbeit bei Jelmoli bleiben werden.
Donno mag nicht sentimental werden, noch nicht. Es ist zu früh dafür. Er gehört zu den wenigen Angestellten, die nach der Schliessung des Warenhauses Ende Februar für Jelmoli weiterarbeiten. Er wird in den nächsten Monaten den Rückbau der einzelnen Stockwerke begleiten. Wie es für ihn beruflich danach weitergeht, weiss Donno noch nicht.
Eine Handvoll Leute, zurückgezogen in ein Büro im obersten Stockwerk: Das ist alles, was von der stolzen Geschichte Jelmolis übrig bleibt. Und irgendwann im nächsten Sommer werden auch sie aufstehen und die Tür hinter sich schliessen.