Die Maschine am Matterhorn: Zermatt fährt den Tourismus hoch wie einen Motor Das Bergdorf könnte sich im Schatten der Viertausender ausruhen. Doch Zermatt investiert immer mehr in modernste Technik. Nichts soll den Strom der Gäste stocken lassen.

Das Bergdorf könnte sich im Schatten der Viertausender ausruhen. Doch Zermatt investiert immer mehr in modernste Technik. Nichts soll den Strom der Gäste stocken lassen.

(Bild: Young Shih auf Unsplash)

Die Zermatter leben von den Bergen. Jetzt haben sie die Berge besiegt. In fünf Jahren Bauzeit sprengten die Walliser, was die Natur im Sinn hatte, als sie den berühmten Gebirgsort mit einer Kette von Viertausendern umgab: Statt eine Sackgasse, in die nur ein Weg hinein oder hinaus führt, ist Zermatt jetzt eine Durchgangsstation.

Auf der schmalen Spitze des Klein Matterhorns, fast 3900 Meter über dem Meer, rammten die Zermatter Bergbahnen die höchste Bergstation Europas in den Fels. Sie erschlossen den Gipfel von zwei Seiten mit dem komfortabelsten Seilbahntyp, der für Geld zu kaufen ist. Es ist der Zenit einer Seilbahnkette von Zermatt hinauf ins Reich von Schnee und Eis und dann hinunter nach Cervinia in Italien.

Alle Wege führen über Zermatt

Alles für die Touristen. Weil eine Seilbahn fehlte, konnten zuvor nur Skifahrer mit einer Abfahrt zwischen den beiden Ländern wechseln. Seit vergangenem Sommer ist diese Reise auch für Fussgänger möglich. Damit zielt Zermatt auf Gäste aus dem fernen Ausland, gerne aus Asien, die auf ihrer Europatour am weltberühmten Matterhorn vorbeischweben wollen. Wenn der Reiseweg einer chinesischen Gruppe von Rom nach Paris führt, kann er jetzt direkt über Zermatt gehen. Dank dem sogenannten Alpine Crossing ist der bekannteste Berg der Alpen kein Abstecher mehr.

120 Millionen Franken hat es die Zermatter Bergbahnen gekostet, die Berge aus dem Weg zu räumen. Ist das nicht riskant? «Wir wissen es nicht», sagt Kurt Guntli, Vizechef der Bergbahnen. «Aber wir haben sehr gute Rückmeldungen von den Reiseveranstaltern. Viele sagen, das sei eine gute Sache.» Seit diesem Sommer wird auch ein Gepäcktransport angeboten. Steigt der Gast in Zermatt oder Cervinia aus der Talstation, sind seine Koffer nicht weit.

Der Gipfelsturm ist symptomatisch: Zermatt könnte sich im Schatten des Matterhorns ausruhen. Stattdessen rüstet der Ort immer weiter auf, um mit diesem und anderen Projekten den Touristen die Berge mit modernster Technik und viel Komfort näher zu bringen. Für den Erfolg will Zermatt nichts dem Zufall überlassen. Gebraucht wird industrielle Qualität.

Die Berge sind Zermatts Kapital – und es rentiert: Rekordhohe fast 2,7 Millionen Logiernächte zählte die Gegend im Jahr 2023. Über die Hälfte der Gäste kam aus dem Ausland, fast die Hälfte der Übernachtungen fand im Sommerhalbjahr statt.

Die Seilbahnen in Zermatt sind die grössten der Schweiz. Im Geschäftsjahr per Ende Juni 2023 erwirtschafteten sie einen rekordhohen Umsatz von 88 Millionen Franken. Die Bergbahnen finanzierten das Alpine Crossing fast vollständig aus eigener Kraft.

Hohe Preise für grosse Höhe

Angerichtet wurde mit grosser Kelle: Kernstück sind zwei aufwendige Gondelbahnen, die in enger Taktfolge komfortable Grossraumkabinen mit Sitzheizung bieten, manche sogar mit Glasboden. Ausserdem ist dieser Seilbahntyp sehr windstabil. Der Zeitplan des Gastes auf Europatour darf nicht gefährdet werden.

In nur zehn bis zwölf Jahren wollen die Bergbahnen die Kosten für das Alpine Crossing wieder einspielen. Ein Fussgänger bezahlt für eine einfache Fahrt 142 Franken. Aussteigen ist erwünscht: Auf knapp 3900 Metern wartet ein an jedem Tag im Jahr geöffnetes Restaurant mit beeindruckender Fernsicht. Der Toilettenbesuch kostet 2 Franken.

Doch wofür das Wettrüsten? Wer in diesen Sommerwochen durch den Ort geht, erhält nicht den Eindruck, dass es Zermatt an internationalen Besuchern mangelt – seien sie aus China, Asien oder Amerika. Aber mehr geht immer, und sei es als Durchgangsstation.


Selbst McDonald’s darf nicht fehlen

Tatsächlich möchte Zermatt für jede Klientel etwas bieten. Es ist ein Gebirgsort mit städtisch anmutender Vielfalt. Zermatt hat einen Mammut-Shop, aber auch einen Decathlon. Es hat standesgemässe Nobelrestaurants, aber auch einen McDonald’s, wie man ihn in solcher Kulisse sonst nur im österreichischen Partyort Ischgl antrifft. Vor dem McDonald’s spielt die Akkordeontruppe auf.

Wenige hundert Meter weiter spielt der traditionell gewandete Alphornbläser, gebucht für den privaten Apéro vor dem Grand-Hotel Zermatterhof. Vis-à-vis steht das traditionsreiche Hotel Monte Rosa, dessen Bau den Fremdenverkehr im Ort mitbegründete. Von hier brach 1865 der Engländer Edward Whymper zur Erstbesteigung des Matterhorns auf. Vier der sieben Mitglieder seiner Seilschaft fanden den Tod. Die Augen der Weltöffentlichkeit fielen auf Zermatt.

Mit dem Aufschwung des Tourismus hat Whymper dem einst armen Bergdorf viel mehr hinterlassen als die Anregung zur «Whymper-Stube», die den Whymper-Teller mit Trockenfleisch und Hauswurst für 29 Franken kredenzt. Immerhin: Auf das Matterhorn muss man auch heute noch selbst klettern. Aber eben das reizt viele Bergsteiger, wie der Grad der Überfüllung am hinaufführenden Hörnligrat zeigt.

Monte Rosa: mehr Hotel als Hütte

Doch Zermatt ist mehr als das Matterhorn. In einer Handvoll Berghütten mit Schlafplätzen können auch weniger versierte Berggänger den Gipfeln ganz nah sein. Eine dieser Herbergen ist die Monte-Rosa-Hütte. Wobei das Wort «Hütte» unangebracht ist: Bis zu 120 Gäste pro Nacht erhalten Bett und Drei-Gang-Menu in einem Gebäude, das wie ein glitzerndes Raumschiff im Felslabyrinth am Hang des Monte-Rosa-Massivs gelandet ist.

Das Raumschiff ist ein aus Metall und Holz konstruierter Versuch, am Fuss der Dufourspitze, des höchsten Schweizers Bergs, möglichst viel Kundschaft zu empfangen – und dabei die Umwelt möglichst wenig zu belasten. Das ist schwierig, denn Berghütten sind nicht klimafreundlich. Die Monte-Rosa-Hütte wird wie die meisten dieser Gebirgsunterkünfte mit Helikoptern versorgt, die Treibstoff verbrennen.

Zu transportieren gibt es viel: 8000 Übernachtungsgäste zählt die Hütte pro Jahr. Der Standardpreis beträgt 112 Franken pro Nacht. Der 2010 eingeweihte Neubau soll deshalb möglichst energieautark sein. Wenn zumindest die Hütte keinen fossilen Brennstoff verbraucht, hilft das der Klimabilanz.

Der Entwurf war ein Prestigevorhaben der ETH Zürich anlässlich ihres 150-Jahr-Jubiläums. Das Ergebnis ist die Hütte mit dem bei weitem höchsten Selbstversorgungsgrad in den Alpen. Mit leistungsfähigen Solarzellen und einem grossen Batteriespeicher im Keller kann sie ihren Stromverbrauch zu 90 Prozent aus eigener Kraft decken. Die fehlenden 10 Prozent entfallen auf den Dieselgenerator, wenn die Sonne zu lange nicht scheint.

«Für 120 Gäste können wir kein Holz verbrennen»

Der Neubau war geschätzt drei bis vier Mal so teuer, wie eine normale Hütte gekostet hätte. Schon nach zwei Jahren mussten mehr Solarpanels installiert werden, weil mehr Besucher kamen als erwartet. Die Gäste wollen ihre Handys laden und warm duschen. Auf dem Gletscher gibt es 5G-Empfang. Die Monte-Rosa-Hütte ist profitabel, die Annehmlichkeiten rentieren. «Für 120 Gäste pro Nacht reicht es nicht, Holz zu verbrennen», begründet der Hüttenwart Kilian Emmenegger die Investitionen.

Tourismus-Drehscheibe Zermatt

So kommt es, dass nicht Holzhändler in Zermatt als Lieferanten hoch im Kurs stehen, sondern Industriekonzerne mit Technologie-Angeboten, wie man sie sonst in Fabriken des Flachlandes erwarten würde. Etwa der Riese Siemens, der unter anderem Hard- und Software für Energiemanagement, Infrastruktur und Gebäudetechnik liefert.

Auf der Monte-Rosa-Hütte hat Siemens vor einigen Jahren leistungsfähigere Batterien und besondere Solarpanels installiert. Schnee, Wind und Steinschlag setzen den Solarzellen auf knapp 2900 Metern Höhe arg zu. Die verstärkten Module mit extradickem Glas kosten acht Mal so viel wie ihre weniger robusten Geschwister im Tal.

Die ganze Steuerung der Gebäudetechnik liegt in der Siemens-Cloud und ist von überall justierbar – besonders hilfreich im Winter, wenn niemand in der Hütte ist. Bei Bedarf greift die Software selbst ein: Durch die alpine Sonneneinstrahlung steigt die Temperatur an den Solarmodulen auf bis zu 140 Grad. Dann reagiert das Programm und schaltet die Zellen vorsorglich ab.

Der Computer rechnet immer – der Hüttenwart nicht

Künstliche Intelligenz berechnet aus den erwarteten Gästezahlen, dem Batteriestand und der Wettervorhersage, ob und wie stark im Voraus geheizt, Strom produziert oder Wasser erwärmt werden muss. All das könnte der Hüttenwart Emmenegger dank seiner Erfahrung auch selbst abschätzen. Aber anders als die KI kalkuliert er nicht alle 15 Minuten neu. Die Software hat den Energieverbrauch der Hütte um 7 Prozent gesenkt.

Matthias Rebellius ist Chef der Siemens-Division Smart Infrastructure, die ihren globalen Sitz in Zug hat. Der Klimawandel sei eine Herausforderung, sagt Rebellius – aber Zermatt demonstriere die Chancen, die sich bieten: «Zermatt zeigt eine Art von Zukunft, in der man gern leben will. Die Monte-Rosa-Hütte ist ein Beispiel», sagte er einer Gruppe von Journalisten, die Siemens durch das Bergdorf geführt hat, um Anwendungsfälle für neue Infrastruktur-Technologien zu zeigen.

Siemens hat auch bei der Bergstation auf dem Klein Matterhorn seine Finger im Spiel. Wieder wurde die Gebäudetechnik automatisiert und in die Cloud gepackt. Wenn starker Wind, wie er in den Zermatter Bergen häufig ist, den Betrieb einschränkt, erlaubt es die automatische Auswertung der Wetterdaten, die Seilbahn schneller wieder hochzufahren.

Den Wetterextremen in der Höhe ist mit handelsüblicher Gebäudetechnik nicht beizukommen. Viele elektronische Bauteile sind nur bis 2000 Meter zugelassen. Siemens liefert Spezialteile: In der Höhe wird zum Beispiel ausgerechnet Wärme ein Problem, obwohl es dort kälter ist. Doch wenn die Luft dünner wird, kann sie Wärme schlechter ableiten. Es braucht mehr Fläche, um die Wärme abzugeben – also müssen Sicherungen oder auch Kühlungen von Computern grösser sein.

Und jetzt noch einen Stausee

Die Berge können aber auch Energie liefern, und das will Zermatt nutzen. Unterhalb der Monte-Rosa-Hütte, wo die weissen Zungen des Gorner- und des Grenzgletschers enden, soll eine Staumauer gebaut werden: 85 Meter hoch, 245 Meter lang, 300 Millionen Franken teuer. Der Stausee «Gornerli» bringt mehr Speicherkapazität für die Wasserkraft. Das soll die Gefahr eines Strommangels im Winter senken.

Die Planung des «Gornerli» ist jetzt einfacher geworden. Im Stromgesetz, welches das Schweizervolk im Juni gutgeheissen hat, gehört dieser Stausee zu jenen 16 Projekten, denen nationales Interesse zugesprochen wird. Doch die 180 000 Kubikmeter Beton, die dafür in die Bergwelt gegossen würden, verändern die Landschaft. Nicht allen Einheimischen gefällt das; auch Umweltschützer haben Einwände.

Aber der künstliche See hat einen weiteren Nutzen: Er soll Zermatt vor Überflutungen schützen. Das ist für den Tourismus wichtiger als eine Mauer in einem Seitental, die nur die wenigsten Gäste von einer Reise zum Matterhorn abhalten würde.

Erst Mitte Juni hob sich die im Ortskern zwischen Betonwänden eingezwängte Vispa nach heftigen Regenfällen ein paar Meter in die Höhe und überschwemmte die angrenzenden Strassen. Der Schlamm war schnell weggewischt. Zurück blieb ein mulmiges Gefühl, vielleicht auch auf den Baustellen der neuen edlen Appartementhäuser, die direkt am Fluss entstehen.

Zermatt braucht Schutz vor Fluten und Lawinen

Hochwasserschutz ist elementar, wenn Zermatt stets «open for business» sein soll. Das gilt auch auf der Bahnstrecke von Täsch, dem Ort vor Zermatt, nach Visp im Walliser Haupttal. Das jüngste Hochwasser hat den Schienenstrang schwer beschädigt. Auch fast zwei Monate später dauert die Reparatur noch an. Alle Züge fallen aus, nun rauschen Shuttle-Busse im Minutentakt durch das Tal.

Dabei war die Matterhorn-Gotthard-Bahn (MGB) gerade dabei, sich um eine andere Gefahr zu kümmern: Schnee und Steinschläge. Zermatt ist seit je autofrei; Lenker müssen ihre Fahrzeuge in Täsch parkieren und auf einen Zug wechseln, der nach Zermatt pendelt. Diese Strecke liegt nah am Berg und ist von Lawinen bedroht. Um Abhilfe zu schaffen, präsentierte die MGB in diesem Frühjahr nach zwei Jahren Planung das Vorhaben, zwischen Zermatt und Täsch einen vier Kilometer langen Tunnel zu bauen.

Dieser Tunnel kostet so viel wie anderthalb Staumauern – rund 464 Millionen Franken. Die Fertigstellung ist für 2035 geplant. Statt halbstündig könnten die Pendelzüge dann auch jede Viertelstunde verkehren, und die Fahrzeit halbierte sich auf sechs Minuten. Zermatt wäre für die Gäste noch bequemer und schneller angebunden.

Das ist nur konsequent. An den Komfort der Eisenbahn haben sie in Zermatt schon lange gedacht, bevor es den Komfort der Seilbahnen gab: Seit 1898 fährt die erste elektrische Zahnradbahn der Schweiz vom Ort auf den knapp 3100 Meter hoch gelegenen Gornergrat. Die Gornergratbahn (GGB), eine Schwestergesellschaft der MGB, transportierte vergangenes Jahr 841 000 Gäste auf den spektakulären Aussichtspunkt.

Mit dem Gornergrat lässt sich viel Geld verdienen

Wieder ist die Gästeflut sehr rentabel – soll heissen, das Ticket ist recht teuer. Die GGB erwirtschaftete 2023 auf 9 Kilometer Schienennetz einen Umsatz von 45 Millionen Franken. Es war das beste Ergebnis ihrer Geschichte. Die MGB betreibt ein 144 Kilometer langes Netz von Zermatt über Visp und Andermatt bis Disentis in Graubünden und bringt es damit «nur» auf 75 Millionen Franken.

Wer beständig Geld verdienen will, muss beständig Geld ausgeben: Fünf neue, laufruhige Zahnradzüge mit Niederflureinstieg hat die GGB jüngst beschafft. Das kostete je 9 Millionen Franken. Das Zugkontrollsystem für den Bahnbetrieb liegt aber nicht auf Computern der GGB in Zermatt, sondern auf Siemens-Servern in Zürich. Diese Auslagerung in die Cloud war eine Weltpremiere für ein Bahnunternehmen.

Die Züge werden aus der Wolke gesteuert

«Wenn man 120 Franken für die Fahrt von Zermatt zum Gornergrat zahlt, muss die Qualität stimmen», sagt Christoph Andereggen von der BVZ Holding, zu der die Gornergratbahn und die Matterhorn-Gotthard-Bahn gehören. Das Rollmaterial nützt wenig, wenn die Infrastruktur nicht mitspielt. Durch die Verlagerung in die Cloud läuft das System immer auf dem neusten Stand. Die GGB muss sich nicht selbst um Wartung und Aktualisierung kümmern. Das lässt sie sich 115 000 Franken pro Jahr kosten.

Derweil hat die MGB das Management ihres Zugdepots ebenfalls in die Cloud verlagert, was Funkgespräche zwischen den Arbeitern beim Rangieren überflüssig macht und Missverständnisse verhindert. Und die Zugbegleiter signalisieren dem Lokführer und der Leitstelle jetzt per Smartphone-App, wenn ein Zug abfahren kann – statt auch bei Schnee und Sturm zu dem roten Kästchen auf dem Perron hasten zu müssen, wo sie ein Knöpfchen drücken.

Das alles sind Rädchen in der Maschine, die rund um die Uhr einen Tourismusbetrieb ohne Störungen ermöglichen soll. In Zermatt darf das Panorama die Gäste überraschen. Aber sonst bitte nichts.

Benjamin Triebe, «Neue Zürcher Zeitung»

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