Ein spanisches Startup sammelt Plastik aus dem Meer – und macht daraus stylische Möbel Gravity Wave verwandelt kaputte Fischernetze aus Plastik in Tische, Stühle und vieles mehr. Die Gründerin Amaia Rodríguez wird bereits von 5000 Fischern in drei Ländern unterstützt. Was steckt hinter der Erfolgsgeschichte?
Gravity Wave verwandelt kaputte Fischernetze aus Plastik in Tische, Stühle und vieles mehr. Die Gründerin Amaia Rodríguez wird bereits von 5000 Fischern in drei Ländern unterstützt. Was steckt hinter der Erfolgsgeschichte?
Schon als Kind lief Amaia Rodríguez Sola in den Abendstunden gerne zum Hafen des valencianischen Städtchens Calpe und beobachtete die Fischer beim Entladen ihres täglichen Fangs. Nie hätte sie geglaubt, dass diese Männer eines Tages ihre Kollegen sein würden. Doch Tatsache ist, dass die Spanierin ohne die tatkräftige Hilfe der Fischer ihr Unternehmen nie hätte gründen können. Denn jeden Tag laden sie nicht nur Fisch aus, sondern auch grosse Mengen an Plastikmüll, die in ihren Netzen landen.
Und um den kümmert sich die junge Frau. «Jeder Spanier verbraucht im Schnitt 30 Kilogramm Plastik im Jahr, doch nur etwa 15 Prozent werden rezykliert, der Rest landet auf einer der 1500 illegalen Müllhalden hierzulande oder im Meer», so Rodríguez , die zur Bewegung Plastic Free Oceans gehört. Vom renommierten Wirtschaftsmagazin «Forbes» wurde sie zu Jahresbeginn zu einem der 23 sogenannten «changemakers» des Landes gekürt, das sind Personen, die mit innovativen Konzepten gesellschaftliche Probleme anpacken.
Plastik auf unbewohnten Inseln
Genau vor drei Jahren hatte die 30-Jährige das Startup Gravity Wave in Calpe gegründet, dem Ferienort ihrer Kindheit. Die junge Unternehmerin stammt eigentlich aus dem Baskenland, aus Pamplona. Die Geschäftsidee kam ihr bei einer Reise durch Südostasien am Ende ihres Wirtschaftsstudiums. Dieses hatte sie kurz vorher auf der Eliteuniversität Zhejiang im chinesischen Hangzhou beendet.
Auf einer kleinen Insel namens Mengalum Island nördlich von Borneo hatte sie ein Schlüsselerlebnis: «Dort lebte kein Mensch. Trotzdem war der Strand übersät mit Plastikmüll. Ich kam traumatisiert zurück nach Spanien und schwor mir, etwas gegen die weltweite Plastikflut zu tun», erzählt Rodríguez.
Als Partner für ihre Idee gewann sie ihren fünf Jahre jüngeren Bruder Julen Rodríguez, der gerade mit seinem Studium Unternehmensführung und Innovation fertig geworden war. Als Standort wählten die Geschwister Calpe, weil zahlreiche Mittelmeerhäfen in nächster Umgebung liegen.
Doch ihre erste Geschäftsidee, Handyhüllen aus Plastik herzustellen, erwies sich als Flop. Zehn Monate dauerte die Entwicklung der Modelle. Deren Qualität war allerdings so schlecht, dass sie auseinanderbrachen. «Wir hatten das ganze Startkapital aufgebraucht und standen vor dem Nichts», erinnert sich Rodríguez. Abgesehen davon benötigt man für eine Handyhülle, die gerade einmal 30 Gramm wiegt, nur sehr wenig Plastik. «Wir hätten Millionen herstellen müssen und trotzdem kaum einen Beitrag für die Umwelt geleistet», sagt Rodríguez.
Industrielle Fangflotten lassen alte Netze einfach im Meer
Rodríguez kann heute schmunzeln, wenn sie an die schweren Anfangszeiten zurückdenkt, denn inzwischen ist der Kreislauf perfekt. Das Einsammeln übernehmen rund 5000 Fischer in Spanien, Italien und Griechenland. Jedes Mal, wenn sie aufs Meer hinausfahren, bringen sie Plastik zurück. Doch nicht nur Flaschen und Verpackungen, sondern vor allem Fischernetze aus Plastik, die von grossen industriellen Fangflotten stammen. Diese machen sich nicht die Mühe, Plastiknetze, die angerissen sind oder an einem Felsen festhängen, zu retten. Vielmehr kappen sie das Netz und lassen es im Meer zurück.
Rodríguez’ Bemühungen, das Material zu rezyklieren und wieder zu verwerten, waren extrem aufwendig und mühsam, doch den Erfolg sieht man in ihrem Hauptbüro unweit des historischen Stadtkerns von Calpe. Ihre fünfzehn Mitarbeiter haben stylische grüne, türkisfarbene und blaue Bürotische, genau die Farben der Netze, welche die industriellen Flotten verwenden.
«Wir haben fast eineinhalb Jahre gebraucht, um diese Möbel herzustellen», erläutert Rodríguez. Anfangs hätten alle Recycling-Unternehmen die Fischernetze abgelehnt, weil sie befürchteten, dass die Netze beim Schreddern die Maschinen blockieren oder beschädigen könnten. Erst nach Monaten fand man eine Firma in Valencia, die bereit war, die Netze zu zerstückeln. Mit dem zerkleinerten Plastik wurden zunächst nur grosse Tischplatten hergestellt, doch mittlerweile liefert Gravity Wave auch urbanes Mobiliar, angefangen bei Sitzbänken in Parks und weiter bis hin zu Abfalleimern.
Bänke aus Fischernetzen an der Strandpromenade
Die Kunden von Gravity Wave sind Unternehmen und Institutionen, vor allem Rathäuser. So hat der Bürgermeister von Calpe auch die überdimensionalen Plastikbuchstaben mit dem Namen des Ferienorts, die an der Strandpromenade stehen, bei Rodríguez bestellt.
In Calpe startete auch die Rekrutierung der ersten spanischen Fischer für die Müllbeseitigung im Mittelmeer. Pro Kilo gesammeltes Plastik zahlt ihnen Gravity Wave 50 Cent. Einer, der von der ersten Stunde an dabei war, ist Paco Catalá, Fischer und Vorsitzender des lokalen Fischereiverbands. «Wir traditionellen Fischer mit unseren kleinen Booten sind die Ersten, die daran interessiert sind, dass unser Fanggebiet nicht verschmutzt wird. Schon mein Vater hat Plastik aus dem Meer geholt», erzählt der 60-Jährige, der allerdings kein Geld von Gravity Wave für seine Hilfe nimmt. «Die jungen Leute brauchen unsere Unterstützung», sagt er und lacht.
Er zeigt gerne die Netze vor, die er zum Teil auch im Hafenbecken gefunden hat und auf einem grossen Grundstück direkt am Hafen lagert. Die meisten sind dunkelblau und ausserordentlich robust, schätzungsweise 1000 Jahre brauchte die Natur, um sie abzubauen. «Das ist Rohstoff», sagt Catalá. Als traditioneller Fischer ist er von den Methoden der industriellen Fangflotten und der fehlenden Nachhaltigkeit entsetzt. Einer seiner Kollegen ist jeden Tag damit beschäftigt, beschädigte Fangnetze zu flicken. «Wir würden sie nie ins Meer werfen.»
Startkapital von privaten Investoren
Möglich war der Erfolg von Gravity Wave nicht zuletzt aufgrund der Unterstützung privater Investoren. In der Startphase versuchte sich die Gründerin mit Crowdfunding, allerdings ohne Erfolg. «Uns retteten Business-Angels», so Rodríguez. Die erste Finanzierungsrunde brachte 140 000 Euro von elf Investoren. Einer davon ist Pablo Fernández, ehemaliger Rekordschwimmer und Banker, der seine Plattform für gebrauchte Autos namens Clicars vor einem Jahr für über 100 Millionen Euro an den Autokonzern Stellantis verkaufte.
Gravity Wave brauchte freilich noch eine zweite Finanzierungsrunde. Im letzten Jahr sammelte das Unternehmen weitere 100 000 Euro ein und hat mit Einnahmen von 512 000 Euro die Gewinnschwelle erreicht. «Jetzt müssen wir uns nur noch dann an Kapitalgeber wenden, wenn es um Projekte im Bereich Innovation und Entwicklung geht», erläutert die Gründerin.
Die Transformation von Plastik in Möbel ist nicht die einzige Einnahmequelle des spanischen Startups. Gravity Wave bietet anderen Firmen auch die Möglichkeit, in nachhaltige Projekte zu investieren und damit ihren ökologischen Fussabdruck zu reduzieren. Bereits 80 Firmen arbeiten mittlerweile mit dem spanischen Startup zusammen.
«Das war nicht immer so: Am Anfang waren wir es, die an die Türen dieser Unternehmen klopften», erinnert sich Rodríguez. Eine der ersten Firmen, die sich für die Arbeit der Geschwister interessierten, war das dänische Einzelhandelsunternehmen Flying Tiger, das im Rahmen einer Kampagne für saubere Strände Taschen aus rezykliertem Plastik verkaufte und einen Teil des Erlöses Gravity Wave zukommen liess.
Auch die Mini-Cooper-Sparte von BMW unterstützt das valencianische Startup. Für jeden in Spanien verkauften Mini Cooper bezahlt der Autofabrikant die Kosten (zwischen 3 Euro 50 und 12 Euro 50) für die Reinigung von einem Kilo Plastik. Letztes Jahr wurden in Spanien immerhin 10 000 Minis verkauft.
Gravity Wave fordert von den Partnern einen Vertrag mit einer Laufzeit von mindestens zwölf Monaten. Im Gegenzug können sich Unternehmen mittels der App Keep Sea Blue ihre umweltfreundlichen Initiativen zertifizieren lassen. Auch das katalanische Kosmetikunternehmen Isdin, Marktführer bei Sonnenschutzmitteln in Spanien, finanziert das Rezyklieren von Plastik. Gravity Wave profitiert davon, dass immer mehr Firmen auf nachhaltiges und soziales Engagement Wert legen, das CSR-Standbein macht bereits mehr als 50 Prozent der Einnahmen aus, Tendenz steigend.
Nächstes Ziel: Plastik im Nil
Mittlerweile ist Gravity Wave in 75 Häfen in Spanien vertreten. 3000 Fischer arbeiten am Projekt mit. An zweiter Stelle steht Griechenland, denn dort hatte Gravity Wave einst ein Pilotprojekt mit einem kleinen Hafen gestartet. Den Kontakt zu den dortigen Fischern hatten die jungen Spanier seinerzeit von einem Mitarbeiter des Nonprofitunternehmens Ashoka erhalten, nämlich von Lefteris Arapakis. Der international bekannte Klimaaktivist stammt selbst aus einer Fischerfamilie und stand den Geschwistern aus Spanien beratend zur Seite.
Mittlerweile kann Gravity Wave auch auf 1500 Fischer in Griechenland zurückgreifen und 500 in Italien. Dort ist Gravity Wave bis jetzt allerdings nur in vier Häfen präsent. Die Expansionsmöglichkeiten in Italien sind gering, denn die Beseitigung von Müll ist ein Geschäft, das an vielen Orten fest in den Händen der Mafia ist. Schon seit vielen Jahren ist die Müllabfuhr dort privatisiert, und die kriminellen Organisationen erhalten viel Geld von den Rathäusern. Wer mitmischen will, begibt sich in Gefahr.
Rodríguez plant nun, Portugal und Frankreich in ihr Projekt mit einzubeziehen. Und im Juni startet Gravity Wave mit der Hilfe von Fischern ein neues Recycling-Projekt im Hafen von Alexandria. «Wir wollen einen Beitrag zur Reinigung des Nils leisten, bevor dieser noch mehr Plastik ins Mittelmeer schwemmt.»
Rodríguez, die mehrere Preise bekommen hat und oft zu Vorträgen eingeladen wird, lehnt sich zufrieden zurück. Sie zeigt stolz ein Glas voller Plastik-Pellets vor, die man bei der Herstellung von Autos einsetzen könnte. «In dieses Geschäft wollen wir einsteigen, Plastikprodukte für die Automobilindustrie», so Rodríguez.
Ihr Telefon vibriert ununterbrochen. Längst teilt sie sich ihre Zeit ein und antwortet nicht mehr wie früher auf jede Anfrage. Was wäre ihr grösster Traum? Sie lächelt: «Dass es auf dieser Welt ein Unternehmen wie Gravity Wave erst gar nicht brauchte und ich mir einen anderen Job suchen müsste.»