Erfahrene Vorsorgeberater verzweifelt gesucht: perfekte Einstiegschancen für Quereinsteiger ab 50? Immer wieder ist zu hören, dass die Schweiz den Fachkräftemangel mit inländischen, reiferen Arbeitskräften decken sollte. Konkrete Massnahmen treffen bis jetzt aber nur wenige Lebensversicherer.

Immer wieder ist zu hören, dass die Schweiz den Fachkräftemangel mit inländischen, reiferen Arbeitskräften decken sollte. Konkrete Massnahmen treffen bis jetzt aber nur wenige Lebensversicherer.

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Die Situation dürfte sich so oder ähnlich fast täglich abspielen: Ein 60-jähriger Familienvater möchte mit seiner Versicherung über seine Pensionierung sprechen. Als Vorsorgeberater erscheint ein Jungspund Mitte zwanzig, hochmotiviert, der jedes Produkt in- und auswendig kennt. Den Kunden aber und dessen Bedürfnisse versteht er letztlich nicht genau, da er sich vom Alter und von der Erfahrung her in einer völlig anderen Lebensphase befindet. Reifere Kunden berichten der NZZ von solchen Gesprächen und davon, diese oft als unbefriedigend empfunden zu haben, auch weil die Berater «meine Lebenswelt nicht verstehen».

Tatsächlich werden «erfahrene Vorsorgeberater in der ganzen Branche händeringend gesucht», bestätigt Reto Spring. Der Präsident des Finanzplaner-Verbands Schweiz hat einen guten Überblick über den Sektor. Solche, auch Finanzplaner, Finanzberater oder Versicherungsberater genannt, beraten Privatkunden bei der Planung ihrer finanziellen Zukunft, auch nach der Pensionierung.

Auf Anfrage bestätigen Lebensversicherer wie Swiss Life Schweiz, Baloise Schweiz, Zurich Schweiz und die Helvetia, erfahrenes Personal zu suchen, sehr gerne auch Quereinsteiger.

Laut Mathias Zingg, Leiter Marketing und Vertrieb Baloise Schweiz, hat sich der Fachkräftemangel akzentuiert. Weiterhin gehen viele Vorsorgeberater in den nächsten fünf Jahren in Pension. Zudem hätten Studien noch vor fünfzehn Jahren prognostiziert, dass die Nachfrage nach persönlicher Beratung markant abnehmen werde, weil die Kunden der Zukunft Vorsorgelösungen online bezögen. «Diese Annahmen traten nicht ein. Der Grossteil der Kunden will weiterhin eine persönliche Beratung vor Ort, auch die jüngeren», sagt Zingg.

Jeder Wechsel geht nicht

Seit Corona habe sich zudem die Situation am Arbeitsmarkt verschärft. Der Fachkräftemangel in Branchen wie der Pflege oder bei den Handwerkern habe dort die Löhne steigen lassen. «Für uns ist es deshalb schwieriger geworden, Personal zu rekrutieren», folgert er.

Allerdings läge die Lösung für das Problem der Knappheit auf der Hand. So trifft der Überhang an Nachfrage nach erfahrenen Vorsorgeberatern auf einen Angebotsüberhang bei erfahreneren Arbeitnehmern, die weiterhin deutlich länger nach neuen Jobs suchen als jüngere. Das wäre doch eigentlich der perfekte Match. Schliesslich befassen sich immer wieder Studien mit dem Thema des schweizweit brachliegenden Arbeitskräftepotenzials von Personen zwischen 55 und 70. Jüngst folgerte Swiss Life selber, dass schon gut ein Fünftel des Potenzials auf diese Alterskategorie falle.

Nun kann natürlich nicht jeder reifere Arbeitnehmer in jeden Job quereinsteigen. Ein 55-jähriger Autoverkäufer wird für die von Google inserierte Stelle «Senior Staff Software Engineer, Cloud Specialized Generative AI» nicht rekrutiert. Ebenso wenig wird Novartis die 52-jährige Bankberaterin, die seit Jahren Kunden zu Hypotheken berät, als «Clinical Scientific Expert» anstellen. Die Gemeinsamkeiten in den Jobprofilen sind zu klein.

Niemand über 50?

Anders aber sieht das aus beim Vorsorgeberater. Hier sucht Swiss Life explizit Quereinsteiger mit «ausgeprägtem Verkaufs- und Beratungsflair», «hoher Einsatzbereitschaft», «ziel- und leistungsorientierter Arbeitsweise», zudem sollen diese «unternehmerisch denkend, belastbar und kontaktfreudig» sein. Über die meisten dieser «Stärken» muss doch auch ein guter Autoverkäufer oder eine erfolgreiche Bankberaterin verfügen.

Gerade Finanzfirmen betonen gern, dass ihre Mitarbeitenden mit Kundenkontakt ein Spiegelbild der Gesellschaft sein sollten. Kunden mit Bedarf an Vorsorgeberatungen sind tendenziell reifer und dürften sich von jemandem mit ähnlichem Erfahrungsschatz besser verstanden fühlen. Auch ist der Job, der aus Gesprächen und administrativen Arbeiten besteht, körperlich wenig anstrengend. Zudem könne man sich das Fachwissen aneignen, sagen Befragte, wichtig seien vor allem auch Sozialkompetenzen wie Empathie und das Erkennen von Kundenbedürfnissen.

Allerdings: Reto Spring betont, dass Leute über 50 fast keine Chance hätten, bei grossen Lebensversicherern eingestellt zu werden. Solche Bewerbungen würden, schon aus Kostengründen, meist in der ersten Runde von der KI ausgesiebt. Auch würden sich gewisse Firmen zwar als unabhängige Partner für Pensionsplanungen anpreisen, in der Praxis aber würden dann meist «sehr junge Berater primär ihre Anlagen verkaufen».

Auch Roland Hofmann, Dozent für Banking und Finance an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, kennt kein Unternehmen, das systematisch Vorsorgeberater über 50 einstellt. Obwohl, das sagt auch er, viele Kunden das wohl begrüssen würden.

Tiefe Grundsaläre und Verkaufsdruck

Was antworten die Firmen? Swiss Life Schweiz verweist auf ihren Anteil von Mitarbeitenden über 50 von gut 35 Prozent. Rund 35 Personen würden zudem im Innen- und Aussendienst über das ordentliche Pensionsalter hinaus arbeiten. Auch die Zurich Schweiz betont, auf Personal mit Beratungserfahrung zu setzen, die Finanzberater seien in der Regel über 40 Jahre alt. Beide Firmen haben aber keine speziellen Massnahmen zur Rekrutierung erfahrener, älterer Fachkräfte getroffen.

Wohlgemerkt sei ein Quereinstieg auch nicht ganz einfach, gibt Hofmann zu bedenken. So hätten gerade Banker oft kein gutes Bild von der Versicherungswelt. Vorsorgeberater müssten oft zum Kunden vor Ort, während der Banker diese meist in der Bank empfange. «Beide müssen Produkte und Dienstleistungen verkaufen, doch wirkt es im Bankenumfeld weniger verkaufsgetrieben», folgert Hofmann.

Der Verkaufsdruck sei zudem sehr hoch. «Niemand steht am Morgen auf und denkt: Ich will eine Lebensversicherung kaufen», sagt Hofmann. Berater müssten unternehmerisch agieren und meist den Kundenstamm selber aufbauen. Wer nicht gerne auf Kunden zugehe, der mache diesen Job, der oft Kundenbesuche am Abend umfasse, nicht lange, folgert Hofmann.

Ein Knackpunkt ist das Salär. Offenbar gibt es Firmen, die ihren Beratern nur gerade wenige tausend Franken Fixgehalt bezahlen. Ein Grundsalär von 4500 bis 6500 pro Monat, das eine Versicherung bezahlt, die hier nicht genannt werden will, gilt dem Vernehmen nach bereits als sehr hoch in der Branche. Für einige über 50-Jährige mit Familie dürfte das ein tiefer Lohn sein.

Allerdings verweisen die Befragten auf die guten Pensionskassenleistungen bei den Versicherern und darauf, dass der Job krisenfest sei. Sei der Kundenstamm aufgebaut, könne mit Provisionen sehr anständig verdient werden, heisst es und weiter, dass es einige wenige Vorsorgeberater im Land gebe, die jährlich gar mehrere hunderttausend Franken verdienten.

Jedes Dossier wird von einem Menschen gesichtet

Dass die Rekrutierung von älteren Arbeitnehmern trotzdem funktionieren kann, zeigt die Helvetia. Ilse Hasler verantwortet hier die schweizweite Vertriebsrekrutierung. Sie ist für das Thema affin, da sie sich ehrenamtlich für den Verein Tandem 50 plus, ein Mentoringprogramm für arbeitslose Menschen ab 50, engagiert.

«Wir rekrutieren weit über 50 Prozent Quereinsteiger, die neu in die Versicherungsbranche kommen», sagt Hasler. Mit Personen über 50 mache sie sehr gute Erfahrungen, gerade hat sie einen Garagisten als Vorsorgeberater eingestellt, der mit 53 etwas Neues machen wollte. Entscheidend sei, dass bei Helvetia jedes Dossier von einem Rekrutierer persönlich gesichtet werde. «Wir haben keine KI, die Bewerber aufgrund irgendwelcher Eigenschaften aussortiert. Das Rekrutieren ist unser Kerngeschäft, jedes Dossier wird von einem Menschen angeschaut», sagt Hasler.

Bei Bewerbern seien das Engagement und die Motivation entscheidend, die Ausbildung übernimmt dann die Helvetia. Diese dauert bis zu eineinhalb Jahren und umfasst Produkte- und Verkaufsschulungen und die erforderlichen Zertifizierungen. Dafür beschäftigt Helvetia ein Team von Coachs und Fachspezialisten.

Jeder frischgebackene Vorsorgeberater erhält zudem einen eigenen Kundenstamm. Und ein laut Hasler für die Branche hohes Grundsalär, das unabhängig von der Leistung bezahlt wird, plus Spesen. Zahlen will sie nicht nennen. «Wir glauben, dass Leute mit zu tiefem Grundsalär nervös werden könnten und wir Gefahr laufen, dass statt der passenden Kundenberatung der Verkauf im Zentrum steht. Quereinsteigern wollen wir den Verkaufsdruck nehmen und bieten ein Grundsalär, das Sicherheit und Planbarkeit auch für eine Familie bietet», erklärt Hasler.

Für Zingg von der Baloise ist derzeit der sehr tiefe Frauenanteil bei den Vorsorgeberatern das grössere Thema. Doch betont er, dass Alter bei der Baloise kein Kriterium sei, sondern ein Diversifikationsmerkmal – neben dem Geschlecht und dem beruflichen Hintergru

Zoé Baches, Neue Zürcher Zeitung

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