Gesundheits-Gütesiegel für Lebensmittel: wozu der Nutri-Score taugt – und wozu er nicht taugt Die Konsumenten sollen auf einen Blick die Ernährungsqualität von Lebensmitteln im Vergleich zu ähnlichen Produkten einschätzen können: Das ist der Zweck des Nutri-Scores auf Verpackungen. Der Bundesrat hat nun eine Informationskampagne dazu angekündigt. Der Gewerbeverband reagiert mit bissiger Kritik.
Die Konsumenten sollen auf einen Blick die Ernährungsqualität von Lebensmitteln im Vergleich zu ähnlichen Produkten einschätzen können: Das ist der Zweck des Nutri-Scores auf Verpackungen. Der Bundesrat hat nun eine Informationskampagne dazu angekündigt. Der Gewerbeverband reagiert mit bissiger Kritik.
Die Ernährung ist schon lange nicht mehr nur Privatsache. Ein Politikum sind etwa die Produktionsmethoden der Lebensmittel unter Stichworten wie Umwelt- und Tierschutz sowie die Ernährungsqualität unter dem Stichwort Gesundheitsschutz. Etwa die Hälfte aller Konsumenten in den reichen Ländern ernähre sich ungesund, hat der Länderverein OECD dieses Jahr festgestellt. Ungesunde Ernährung heisst unter anderem höhere Kosten für die Gesundheitssysteme. Nicht zuletzt deshalb betrachten Politiker und Behörden die Förderung gesundheitsbewusster Ernährung als Staatsaufgabe.
In der Schweiz hat der Bundesrat diesen Monat beschlossen, etwas für die Gesundheit der Bevölkerung zu tun und nächstes Jahr eine Informationskampagne zu starten. Er will das auf Lebensmittelverpackungen aufgedruckte Gesundheitssiegel Nutri-Score in der Bevölkerung breiter bekannt machen. In sieben europäischen Ländern wird der Nutri-Score zurzeit staatlich unterstützt. In der Schweiz ist dies seit 2019 der Fall.
Auf einen Blick
In der Schweizer Bevölkerung ist der Nutri-Score noch nicht breit verankert. Laut einer vom Bund bestellten Studie der Berner Fachhochschule nannten in einer Umfrage vom Herbst 2021 auf die Frage, auf welche Informationen man zur Auswahl von gesünderen Lebensmitteln greife, nur 2,5 Prozent spontan den Nutri-Score. Direkt auf den Nutri-Score angesprochen, erklärte etwa ein Drittel, dieses Siegel zu kennen und auch zu wissen, was es bedeute. Nach Präsentation des Logos wurde dieses von gut zwei Drittel erkannt, aber viele kannten die Bedeutung nicht.
Die Kernidee hinter dem Nutri-Score: Er soll Nährwertinformationen von der Rückseite der Verpackungen in verdichteter Form auf die Vorderseite bringen – so dass die Konsumenten auf einen Blick den Ernährungsgehalt einordnen können. Die Sache soll zudem die Hersteller motivieren, ihre Produkte gesünder zu machen. Die fünfstufige Notenskala ist mit Ampelfarben unterlegt und reicht von A bis E (vgl. Bild). Das vereinfacht die Sache für eilige Konsumenten: Sie können auch ohne das Lesen und Interpretieren des Kleingedruckten zu Zutaten, Kalorien und Inhaltsstoffen ein Urteil über die Gesundheitsgüte des Produkts erhalten. Laut einem Bericht des Bundesrats vom Dezember hat etwa die Hälfte der Konsumenten Mühe mit dem Verstehen und Interpretieren der Detailangaben auf Lebensmittelverpackungen.
Einen positiven Einfluss auf den Nutri-Score haben der Gehalt an Früchten, Gemüsen, Hülsenfrüchten, Nüssen, gewissen Ölen, Nahrungsfasern und Eiweiss. Negativ ins Gewicht fallen Zucker, Salz, gesättigte Fettsäuren und Kalorien. Massgebend ist jeweils die Menge dieser Bestandteile pro 100 Gramm beziehungsweise 100 Milliliter. Die ursprüngliche Formel wurde von der Universität Oxford im Auftrag der englischen Behörden wissenschaftlich abgestützt und später durch Frankreich zum heutigen Modell weiterentwickelt. Frankreich verwendet das Siegel seit 2017.
6100 Produkte registriert
Die Note ist nicht als Empfehlung für oder gegen den Konsum zu betrachten. Die Note A ist also keine Einladung zum unbegrenzten Konsum. Der Nutri-Score soll nur einen Vergleich zwischen gleichen Produkttypen erlauben – also zum Beispiel von Broten mit anderen Broten und von Käsesorten mit anderen Käsesorten. Diese Gesundheitsampel sagt dagegen nichts aus zum Vergleich zwischen Brot und Käse, zwischen Früchten und Pommes frites oder zwischen Schokolade und Fruchtsaft. Wer dazu Hinweise will, kann sich auf die Empfehlungen der Schweizer Lebensmittelpyramide für eine ausgewogene Ernährung abstützen. Der Nutri-Score sagt auch nichts aus über die Produktionsbedingungen.
Der Nutri-Score ist freiwillig. Gemäss Bundesrat waren in der Schweiz bis Ende Oktober 70 Hersteller mit total knapp 170 Marken und insgesamt gut 6100 Produkten für den Nutri-Score registriert; laufend kämen weitere hinzu. Zu den Promotoren gehört Nestlé. Diesen Herbst verkündete das Unternehmen, dass die Einführung des Nutri-Scores auf allen Eigenprodukten in der Schweiz abgeschlossen sei. Der Grossverteiler Migros hat angekündigt, bis 2025 auf allen 10 000 eigenen Produkten den Nutri-Score zu verwenden. Zurzeit sind laut Migros gut 40 Eigenmarken mit total über 1000 Artikeln für den Nutri-Score registriert. Interesse haben auch Aldi und Lidl gezeigt.
Bei Coop dominiert dagegen Skepsis. Laut Firmenangaben hat der Detailhändler zwar derzeit rund 300 Produkte fremder Marken mit dem Nutri-Score in den Verkaufsgestellen, doch die Verwendung für Eigenmarken ist auf einige Produkte der Eigenmarke Délicom beschränkt. Eine Ausweitung sei nicht geplant. Der Grossverteiler lässt durchblicken, dass er die detaillierten Angaben zu Zutaten und Nährwerten für aussagekräftiger halte als den Nutri-Score.
Was die Wissenschaft sagt
Diverse Studien lassen mutmassen, dass der Nutri-Score die Gesundheit der Konsumenten verbessern kann. In einer heuer publizierten Analyse von fünf Gütesiegeln in achtzehn Ländern kam der Nutri-Score bezüglich Verhaltenswirkung bei den Konsumenten am besten weg. Ein Überblick von 2021 über die internationale Forschungsliteratur zeigte ebenfalls positive Wirkungen des Nutri-Scores – auch im Vergleich zu anderen Gütesiegeln. Laut einer der erwähnten Studien senkt der Nutri-Score die Sterblichkeit um gut 3 Prozent. Auch ein OECD-Bericht aus diesem Jahr zeigt positive Befunde. Laut einer deutschen Untersuchung aus diesem Spätsommer trägt der Nutri-Score auch dazu bei, irreführende Produkteangaben wie etwa «ohne Zuckerzusatz» zu korrigieren.
Doch es fehlt nicht an Kritik. So hatten 2021 in einer internationalen Vernehmlassung diverse Schweizer Produzentenverbände Verbesserungen gefordert. Der Bauernverband zum Beispiel hielt fest: Grundsätzlich sei eine Note auf Basis der Ernährungspyramide zu bevorzugen. Zudem berücksichtige der Nutri-Score den Verarbeitungsgrad der Produkte nicht und behandle Früchte und Fruchtsäfte trotz faktisch gleichem Inhalt ungleich. Die Getränkebranche kritisierte, dass Apfelschorle trotz geringerem Zuckergehalt schlechter wegkomme als reiner Apfelsaft. Und bei gesüssten Getränken bringe eine Reduktion des Zuckergehalts keine bessere Note. Der Fleisch-Fachverband fand stossend, dass der Gehalt an Vitaminen und Mineralien nicht berücksichtigt sei. Die Käsehersteller monierten, dass traditioneller Käse wegen seines relativ hohen Fett- und Salzgehalts benachteiligt werde.
Verbesserungen angekündigt
Wegen solcher Kritikpunkte ist der Beschluss des Bundesrats für eine Informationskampagne zum Nutri-Score dem Gewerbeverband in den falschen Hals geraten. Der Verband bezeichnete den Nutri-Score als «absurde» Regulierung, welche zusätzliche Bürokratie bringe und den Ansprüchen nicht gerecht werde.
Verbesserungen sollen bald kommen. Sieben Länder, darunter die Schweiz, sind in die Verwaltung und Weiterentwicklung des Nutri-Scores involviert. Diesen Sommer beschlossen die Länder auf Basis von Empfehlungen der wissenschaftlichen Begleitgruppe Verbesserungen an der Formel. Zu den geplanten Änderungen gehören eine bessere Differenzierung zwischen gesüssten und nicht gesüssten Milchprodukten sowie zwischen verschiedenen Käsesorten, eine feinere Differenzierung nach Salz- und Zuckergehalt sowie eine bessere Klassierung von fetthaltigem Fisch, von ballaststoffreichen Produkten (etwa Vollkornprodukten) und von gewissen Ölen (etwa Olivenöl). Laut einem Beobachter könnten die Änderungen im Lauf des nächsten Jahres in Kraft treten.
Auch in der EU tut sich einiges: Die EU-Kommission hatte die Einführung eines obligatorischen Gesundheits-Gütesiegels für Lebensmittel angekündigt. Das dürfte faktisch auch für die Schweiz Bedeutung haben. Ein EU-Beschluss dazu wird bis Mitte 2023 erwartet. Diverse Länder lobbyierten dabei für den Nutri-Score. Jüngste Äusserungen lassen mutmassen, dass Elemente von diversen Gütesiegeln Eingang in die EU-Regulierung finden.