In der Schweiz sitzen Arbeitnehmende am längeren Hebel – ein Grund dafür ist, dass es immer mehr staatsnahe Stellen gibt Die Arbeitslosenquote der Schweiz lag im vergangenen Jahr mit 2,2 Prozent so niedrig wie seit über zwanzig Jahren nicht mehr. Aus dem Fachkräftemangel ist ein genereller Arbeitskräftemangel geworden.
Die Arbeitslosenquote der Schweiz lag im vergangenen Jahr mit 2,2 Prozent so niedrig wie seit über zwanzig Jahren nicht mehr. Aus dem Fachkräftemangel ist ein genereller Arbeitskräftemangel geworden.
Positive Wirtschaftsnachrichten sind jüngst rar geworden. Eine Ausnahme stellt der Schweizer Arbeitsmarkt dar. Dieser liess sich im vergangenen Jahr von der schlechten Stimmung aufgrund des Krieges in der Ukraine, der weltweit gestiegenen Inflation oder der miserablen Börsenentwicklung kaum anstecken, sondern zeigte sich in Bestform. Mit einer Arbeitslosenquote von 2,2 (Vorjahr: 3,0) Prozent resultierte gar der niedrigste Wert seit über zwanzig Jahren. So muss man bis ins Jahr 2001 zurückblicken, um mit 1,7 Prozent eine noch tiefere Quote zu entdecken.
Mehr offene Stellen als Stellensuchende
Arbeitslosigkeit ist jedoch ein nachhinkender Indikator. Das heisst, eine Eintrübung der Konjunktur macht sich erst vergleichsweise spät am Stellenmarkt bemerkbar. Entsprechend ist damit zu rechnen, dass die jüngst etwas düsterer gewordenen Wirtschaftsaussichten mit einiger Verzögerung auch die Arbeitnehmenden erfassen werden. Ein Indikator in diese Richtung ist, dass die Arbeitslosenquote im Dezember gegenüber dem Vormonat wieder leicht gestiegen ist, und zwar von 2,0 auf 2,1 Prozent, was aber noch immer ein sehr niedriger Wert ist.
Einigen Firmen dürfte der vage sich abzeichnende Gegentrend durchaus entgegenkommen. Denn derzeit müssen sich viele Arbeitgeber gehörig anstrengen, um offene Stellen mit gutem Personal besetzen zu können. Boris Zürcher, der Leiter der Direktion für Arbeit beim Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco), spricht von einem «Arbeitnehmermarkt». Das heisst, dass die Arbeitnehmenden derzeit am längeren Hebel sitzen und ihre Ansprüche oft bei den Unternehmen durchsetzen können. Dieser Vorteil dürfte im neuen Jahr wieder etwas kleiner werden.
Zürcher verweist auf Umfragen, wonach noch immer rund 40 Prozent der Firmen mit Schwierigkeiten bei der Rekrutierung von Fachkräften kämpfen. Die Zahl offener Stellen liege denn auch seit Monaten deutlich über der Zahl der registrierten Arbeitslosen. Längst herrscht in der Schweiz nicht mehr bloss ein Fachkräftemangel, sondern generell ein Arbeitskräftemangel. Das spiegelt sich darin, dass auch die Rekrutierung von Arbeitskräften, die nach der obligatorischen Schulbildung keine weitere Ausbildung absolviert haben, zusehends schwieriger wird.
Forderung nach automatischem Teuerungsausgleich
Das sind gute Zeiten für Arbeitnehmervertreter. Der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) quittiert die jüngsten Arbeitsmarktdaten denn auch mit einer langen Liste von Forderungen für das noch junge Jahr: Verlangt wird nicht nur die Wiedereinführung des automatischen Teuerungsausgleichs – eines Instruments, das in Zeiten negativer Inflation selten je thematisiert wurde, zumal dies der Forderung nach einer realen Lohneinbusse entsprochen hätte. Verlangt wird auch, dass sich Unternehmen an Arbeitszeitverkürzungen finanziell beteiligen. Wer weniger arbeiten will, soll dies also ohne grosse Einbusse beim Lohn tun können.
Ob solche Forderungen in Zeiten knapper Arbeitskräfte durchgesetzt werden können, bleibt offen. Unumstritten ist, dass sich der Schweizer Arbeitsmarkt im vergangenen Jahr äusserst robust gezeigt hat. Die Covid-Krise kann aus arbeitsmarktlicher Sicht abgehakt werden. Das gilt auch mit Blick auf die ausbezahlten Kurzarbeitsentschädigungen. Diese gingen 2022 stetig zurück, ab Juli lagen die monatlichen Auszahlungen wieder unter dem Niveau vor Beginn der Covid-Krise. Entsprechend sanken die im Gesamtjahr bezahlten Kurzarbeitsentschädigungen von 4,9 Milliarden auf noch 366 Millionen Franken.
Bei der Bewältigung der Covid-Krise fallen dabei zwei Muster auf, die beide schon im Nachzug zum Franken-Schock von 2015 beobachtet werden konnten: Erstens erholte sich der Arbeitsmarkt sehr rasch und ging die Arbeitslosenquote entsprechend schnell zurück. Zweitens – und überraschender – sank die Arbeitslosenquote nach der Bewältigung des Schocks sogar auf Werte unter dem Vorkrisenniveau. Anders formuliert: Nach beiden Krisen pendelte sich die Arbeitslosigkeit auf niedrigerem Niveau ein.
Immer mehr Stellen im Dienstleistungssektor
Wie sind die langfristige Bewegung hin zu niedrigeren Arbeitslosenquoten und die gestiegene Widerstandsfähigkeit des Schweizer Arbeitsmarktes zu erklären? Boris Zürcher nennt strukturelle Gründe: So seien in den vergangenen Jahren vor allem im Dienstleistungssektor viele neue Stellen entstanden, etwa im staatsnahen Gesundheits-, Sozial- und Bildungswesen. Solche Jobs seien weniger abhängig vom Auf und Ab der Konjunktur als etwa Stellen in der traditionellen Maschinen- und Metallindustrie, wo die Zahl neuer Arbeitsplätze weniger rasch gestiegen sei.