Rolex und der dritte Weg: Warum Tudor ihre Manufaktur mit anderen Uhrenmarken teilt und was das mit der Swatch Group zu tun hat Die Uhrenherstellerin Tudor, die zu Rolex gehört, teilt ihre neueröffnete Produktionsstätte in Le Locle mit der Werkeherstellerin Kenissi. Das ungewöhnliche Arrangement hat gute Gründe.

Die Uhrenherstellerin Tudor, die zu Rolex gehört, teilt ihre neueröffnete Produktionsstätte in Le Locle mit der Werkeherstellerin Kenissi. Das ungewöhnliche Arrangement hat gute Gründe.

 

Tudor belegt im neuen Produktionsgebäude den roten, Kenissi den dunkelgrauen Teil. Bild: PD

Die Freude ist der Tudor-Crew ins Gesicht geschrieben: Es ist der 24. März 2023, und erstmals können der CEO Eric Pirson und sein Team einer internationalen Gruppe von Journalisten ihre neuen Produktionsstätten präsentieren.

Der rund 150 Meter lange, moderne Bau befindet sich am Rand des neuenburgischen Industriestädtchens Le Locle, an der Ausgangsstrasse in Richtung französische Grenze. Das Besondere daran: Das Gebäude ist in zwei Hälften geteilt. Die eine, in Dunkelgrau gehalten, wird von der Uhrwerkproduzentin Kenissi belegt, an der Tudor zu 80 Prozent und Chanel zu 20 Prozent beteiligt ist. 150 Leute bauen hier Uhrwerke zusammen, sowohl für die beiden Eigentümer als auch für ausgewählte Drittmarken wie Breitling, Norqain, Fortis, TAG Heuer, Bell & Ross und Ultramarine.

Die andere, rote Hälfte des Gebäudes ist reines Tudor-Territorium. Es beherbergt die Endmontage und Kontrolle der Tudor-Zeitmesser, darunter auch ein Büro des Eidgenössischen Instituts für Metrologie (Metas). Diese unabhängige Stelle zertifiziert die Master-Chronometer der Marke – etwas, das es sonst nur bei Omega gibt. Auch im Tudor-Teil gibt es rund 150 Arbeitsplätze, die gemäss den Verantwortlichen hoffentlich bis August alle besetzt sind. Denn die Nachfrage nach Tudor-Zeitmessern ist hoch: Seit Januar wird in der neuen Manufaktur rund um die Uhr gearbeitet.

Revival der Marke Tudor

Um zu verstehen, was hinter dieser kombinierten Tudor-Kenissi-Manufaktur steckt, muss man rund fünfzehn Jahre zurückblenden. Damals beschloss Rolex, ihrer Tochter Tudor mehr Autonomie zu geben. Zuvor war Tudor praktisch nur als die etwas günstigere Zweitmarke von Rolex bekannt gewesen. Die Zeitmesser ­glichen in ihrem Aussehen stark den Rolex-­Uhren, aber anders als bei diesen tickten in ihrem Innern keine haus­eigenen ­Manufakturwerke, ­sondern Standardkaliber, die unter anderen von der Swatch-Group-Tochter ETA ­bezogen wurden. Der Rolex-Gründer Hans ­Wilsdorf hatte dies so beabsichtigt. Als er 1926 die Montres Tudor SA als kleine Schwester seiner damals schon berühmten Uhrenmarke Rolex gründen liess, war sein Anspruch, dass ­Tudor dieselben Anforderungen an Robustheit und Zuverlässigkeit wie Rolex erfüllen sollte, aber zu einem günstigeren Preis.

Die Zweitmarken-Strategie funktionierte lange Zeit gut. Um die Jahr­tausendwende verlangsamte sich der Geschäftsgang in den USA, Japan und Grossbritannien allerdings so stark, dass man sich aus diesen Märkten zurückzog. In Europa und in anderen Ländern blieb man zwar präsent, liess die Marke aber auf Sparflamme laufen. ­Rolex-Händler, die auch Tudor ­haben wollten, bekamen Uhren, ­aktiv angepriesen wurden sie nicht. Nur in China, Hongkong und Taiwan war die Nachfrage weiterhin hoch.

Rolex hatte damals andere Prioritäten, darunter die eigene Vertikalisierung. So dauerte es einige Jahre, bis man sich in Genf des Themas Tudor annahm. 2007 schliesslich fand ein Rebranding statt, das weniger den Vergleich mit Rolex als vielmehr die eigenen Stärken betonte. Der Plan brachte rasch Erfolg: Die modernen Interpretationen von früheren Modellen, die weniger auf die Verwandtschaft mit Rolex als vielmehr auf die eigenen Stärken fokussierten, kamen im Markt enorm gut an, speziell auch bei jüngeren Kunden.

Swatch Group will keine Uhrwerke mehr liefern

Eigene Werke zu produzieren, war in der neuen Tudor-Strategie zunächst gar nicht vorgesehen gewesen. Die bisher genutzten ETA-Werke waren zuverlässig und ein wesentlicher Grund, weshalb Tudor seine Uhren günstiger anbieten konnte als Rolex. Aber just in dem Moment, als man sich bei Tudor neu ausrichtete und die Nachfrage nach den Uhren stark zulegte, kündigte Nicolas G. Hayek, der Präsident der Swatch Group, an, Firmen ausserhalb seines Konzerns fortan nicht mehr mit Uhrwerken und Komponenten zu beliefern.

Wie viele andere ETA-Kunden musste sich deshalb auch Tudor bzw. die Mutter Rolex überlegen, wie es weitergehen sollte. Denn eines war klar: Rolex-Uhrwerke würde es für Tudor nicht geben. Eine Möglichkeit war, sich an die ETA-Konkurrentin Sellita zu wenden und künftig dort die Uhrwerke zu bestellen. Aber würde Sellita diese ganze Zusatznachfrage absorbieren können? Und zeigte nicht genau der Fall ETA, dass es für eine Uhrenmarke gefährlich ist, von einer einzigen Werke­lieferantin abhängig zu sein?

Die andere Möglichkeit war, selber eine Manufaktur aufzubauen. Mit einer so finanzkräftigen Mutter wie Rolex war das grundsätzlich kein Problem. Aber wollte Rolex das? Die Uhrwerke waren ja genau der Punkt, in dem Tudor und Rolex sich stets unterschieden hatten. Die Mutter ist eine voll inte­grierte ­Manufaktur, die Tochter arbeitet mit Partnern.

Rolex entschied sich für einen dritten Weg. Dieser sollte es Tudor ermöglichen, mittelfristig eigene Werke herzustellen. Gleichzeitig wollte man auch Verantwortung übernehmen und Uhrwerke für andere Uhrenmarken fertigen. Es ging also darum, industrielle Produktionskapazitäten für mechanische Uhrwerke zu entwickeln. Damit würde zwar nicht gerade ein Ersatz für die wegfallende ETA geschaffen, aber immerhin eine Option mehr für die Uhrenhersteller auf der ­Suche nach hochwertigen Werken.

Kenissi kommt vom altgriechischen «kinesis»

Kommuniziert wurde dieser Plan damals nicht. Man musste versuchen, sich aus verschiedenen Entwicklungen etwas zusammenzureimen. So stellte Tudor auf der Baselworld 2015 ein erstes inhouse hergestelltes Kaliber vor. Wie sich nun im Nachhinein herausstellt, hatte Tudor das Projekt der eigenen Werke bereits 2010 gestartet.

 

An 150 Arbeitsplätzen erfolgen die Endmontage und Kontrolle der Tudor-Uhren. Bild: Timm Delfs

2016 gründete die Genfer Uhrenmarke dann das Unternehmen Kenissi (vom altgriechischen «kinesis» für Bewegung), um die Entwicklung und Produktion ihrer Uhrwerke zu über­nehmen und parallel dazu ihr technisches Know-how im Bereich der Uhrwerke auch Drittmarken anzubieten. Auch dazu gab es nie eine Meldung. 2018 fand «Le Temps» heraus, dass in Le Locle ein neues Gebäude für Tudor und Kenissi geplant sei. Kenissi leiten sollte Jean-Paul Girardin, der frühere Chef von Breitling. Tudor und Breitling waren sich schon vorher nähergekommen und belieferten sich gegenseitig mit Werken.

Anfang 2019 gab es erstmals offizielle News zu Kenissi. Chanel liess verlauten, eine Beteiligung von 20 Prozent an Kenissi übernommen zu haben, einer «neuen Schweizer Manufaktur für Automatikwerke». Die französische Modemarke wollte ihre Stellung im Geschäft mit Luxusuhren stärken und Ende März an der internationalen Uhrenmesse in Basel erste Zeitmesser zeigen, die über ein Uhrwerk von Kenissi verfügten.

Ein weiteres Jahr später überraschte die junge Marke Norqain mit der Meldung, sie sei eine strategische Partnerschaft mit Kenissi ­eingegangen und erhalte jetzt ebenfalls deren Werke.

Wie nun beim Rundgang in Le Locle zu erfahren war, fand die Entwicklung der Manufakturkapazitäten Schritt für Schritt statt. Die Manufakturkaliber, die bis heute die Basis der Kenissi-Werke bilden, wurden bei Tudor entwickelt. Kenissi selbst war nach der Gründung 2016 für einige Jahre bei Tudor in Genf eingemietet, wo allerdings der Platz für den Zusammenbau der Werke fehlte, so dass dieser extern bei Partnern stattfinden musste.

Komponenten stammen von Firmen aus der Region

2019 schliesslich begann der Bau des neuen Gebäudes in Le Locle. Rolex stellte dafür ein Gelände zur Verfügung, das schon lange in seinem Besitz war. Der Bau war allerdings kein einfaches Unterfangen, denn der Boden ist durch den nahe gelegenen Bach Bied sumpfig, weshalb zunächst 330 rund 30 Meter lange Betonpfeiler in den Boden getrieben und das Fundament durch eine Folie abgedichtet werden mussten. Entsprechend dauerte es etwas länger, bis der Bezug möglich war. Seit Anfang 2022 produziert Kenissi nun in Le Locle, und seit einigen Monaten tut dies auch Tudor im neuen Gebäude.

An der Eröffnung gaben sich sowohl Tudor als auch Kenissi ausgesprochen offen. Die Journalisten wurden durch sämtliche Abteilungen geführt und durften – ausser im Tresorraum – auch nach Herzenslust fotografieren. Jedes ­Detail verraten wollte man allerdings doch nicht: Auf die Frage, von wem genau die Komponenten für die Uhrwerke stammten, hiess es nur, es handle sich um ein Netzwerk von Firmen in der Region, die teilweise oder ganz im Besitz von Tudor seien.

Klar ist jedoch, wer nach der anstehenden Pensionierung von Jean-Paul Girardin Kenissi leitet: Clemens Gisler. Der Ostschweizer kam vor ein­einhalb Jahren zu Rolex als Verantwortlicher für Industrialisierung und Produktion. Die Personalie zeigt, dass Rolex bei Tudor und Kenissi die Fäden weiterhin in der Hand hält.

Andrea Martel und Timm Delfs, «Neue Zürcher Zeitung»

Das könnte Sie auch interessieren: