Rollierende Abschaltungen des Stroms wären ein Albtraum Wie bereiten sich Schweizer Firmen auf einen Energieengpass vor? Laut unserer Umfrage sorgen sie bei Erdgas vor, doch beim Strom gibt es kaum Alternativen: Der Bund müsse um jeden Preis dafür sorgen, dass im Winter genügend Elektrizität vorhanden sei, fordern sie.
Wie bereiten sich Schweizer Firmen auf einen Energieengpass vor? Laut unserer Umfrage sorgen sie bei Erdgas vor, doch beim Strom gibt es kaum Alternativen: Der Bund müsse um jeden Preis dafür sorgen, dass im Winter genügend Elektrizität vorhanden sei, fordern sie.
Ein Land, das seine Wirtschaft nicht sicher mit Energie versorgen kann, darf sich nicht wundern, wenn es skeptisch beäugt wird.
Laut dem Stahlunternehmen Swiss Steel wirkt jedenfalls schon der blosse Gedanke an Produktionsunterbrechungen in der Schweiz abschreckend. Kunden würden zunehmend Hersteller in Regionen meiden, in denen Strom- und damit Produktionsunterbrüche auch nur als Möglichkeit angesehen würden, schreibt die Firma auf Anfrage.
Von Verunsicherung bei den Kunden berichtet auch das Familienunternehmen Baumann aus dem sankt-gallischen Ermenswil, das weltweit 1500 Mitarbeiter zählt und metallische Federn an die Automobil- und die Elektroindustrie sowie den Medtech-Sektor liefert. Matthias Würsten leitet bei Baumann eine Task-Force, die das Unternehmen vor dem Hintergrund einer potenziellen Gasmangellage ins Leben gerufen hat.
Die Situation erinnert Würsten an den Beginn der Corona-Pandemie, als reihenweise Anfragen dazu eingingen, wo die Firma produziere, welche Notfallpläne sie habe und wie sie sich bei einem Produktionsstillstand verhalten würde. «Die Menge und die Art der Kundenanfragen sind vergleichbar mit damals, nur geht es dieses Mal um eine potenzielle Gasmangellage.»
Die NZZ hat mit einer Handvoll Firmen darüber gesprochen, wie sie sich auf die drohende Mangellage bei Gas und Strom vorbereiten und was ein Ausfall bedeuten würde. Aus den Gesprächen lassen sich fünf Thesen ableiten.
These 1: Erdgas ist leichter ersetzbar als Strom
Auf Erdgas ist die Familienfirma Baumann primär für den Betrieb ihrer Öfen angewiesen. Sie verleihen den Federn spezifische Eigenschaften. Hinzu kommt die Beheizung von Produktionshallen und Büros. Bei der Beheizung der Gebäude stehen dem Unternehmen Zweistoffanlagen zur Verfügung, die anstelle von Erdgas die Verwendung von Heizöl erlauben.
Für den Betrieb der Öfen könnte Baumann auf Flüssiggas ausweichen. Ein entsprechender Tank ist in Ermenswil vorhanden, doch wurde er vor einiger Zeit aus Kostengründen eingemottet. Ob es sich lohnt, ihn zu reaktivieren, gehört zu den Fragen, die Würsten zu klären hat.
«Es geht für uns um eine Überlebensfrage, deshalb schaffen wir Fakten», sagt dagegen Urs Jordi. Der Schweizer leitet den Tiefkühlbäcker Aryzta, dessen Gipfeli und Brötchen hierzulande unter der Marke Hiestand bekannt sind. Um einer möglichen Gasmangellage zu entgehen, will sich das Unternehmen bis im Herbst möglichst unabhängig von Erdgas machen. «In unserer Bäckerei in Dagmersellen hat es auf dem Dach eine Wärmezentrale, die die Öfen mit Hitze versorgt. Wir stellen den Brenner derzeit von Erdgas auf Heizöl um.»
Laut Jordi geht das ohne einen Verlust an Backqualität. Die CO2-Emissionen blieben ungefähr gleich. Auch die Investitionssumme sei mit 400 000 Franken überschaubar. Auf ähnliche Weise bereitet Aryzta derzeit die Mehrheit seiner 19 Bäckereien in Europa – viele davon in Deutschland – auf die möglichen Gasengpässe vor. «So können wir die Energieversorgung und die Produktion sichern», ist Jordi überzeugt.
Einen kleineren Mittelständler können die Kosten einer Umstellung aber rasch überfordern. Dies zeigt sich bei der Schweizer Filiale des österreichischen Industriekonzerns Andritz. Roland Cuénod, der Chef der Tochterfirma Andritz Hydro, die in der Schweiz 230 Mitarbeiter beschäftigt, sorgt sich vor allem um die Beheizung der Servicewerkstatt, die mit Erdgas erfolgt.
Laut Cuénod muss die Innentemperatur mindestens 15, 16 Grad betragen, damit das Unternehmen die Turbinen fachgerecht warten kann, die es von Wasserkraftwerken während der Herbst- und Wintermonate zur Revision erhält.
Eine Umstellung der Heizanlage auf Erdöl habe man geprüft, sagt Cuénod. Doch angesichts von Kosten von über 300 000 Franken sei dies unerschwinglich. Stattdessen hat das Unternehmen begonnen, die Halle besser zu isolieren, um Energie zu sparen.
Die Beispiele Andritz Hydro, Aryzta und Baumann illustrieren, dass die Schweizer Unternehmen mit dem Gasproblem im Grossen und Ganzen umgehen können. Viele stellen bereits um oder arbeiten an entsprechenden Plänen. Diese Sparanstrengungen dürften mithelfen, dass es im Winter womöglich nicht zu einer Gasmangellage kommt, weil weniger Erdgas gebraucht wird.
These 2: Rationierungen sind besser verkraftbar als rollierende Abschaltungen
Grosse Sorgen macht dem Aryzta-Chef Jordi hingegen eine mögliche Stromkrise. «Beim Strom haben wir keine Alternativen, wir brauchen diesen überall», sagt er. Die grossen Tiefkühllager beispielsweise, wie sie der Hersteller von Tiefkühlprodukten braucht, liessen sich nicht mit Heizöl oder mit Notstromaggregaten betreiben.
Der Bund sieht in seinen Notfallplänen für den Winter vor, dass in einer dritten Stufe der Stromverbrauch für Unternehmen rationiert würde. Alle Firmen in der Schweiz müssten dann über einen bestimmten Zeitraum hinweg 10 oder 20 Prozent Strom einsparen. Der Aryzta-Konzern müsste dann Prioritäten setzen. Laut Jordi würde man die Tiefkühllager weiter laufen lassen. Dafür müsste man wohl die Produktion drosseln. Es gäbe also weniger Gipfeli und Brötchen – und die Wertschöpfung des Unternehmens sänke.
Grosse Energieverbraucher sind auch die Zementwerke. Um Zement herzustellen, wird gemahlener Kalkstein zu Klinker gebrannt. Als Brennmaterial verwendet der Marktführer Holcim dabei zum Beispiel Klärschlamm, Plastikabfälle oder verbrauchte Lösungsmittel aus der Chemieindustrie – nicht aber Erdgas. Damit ist der Zementhersteller einer der grössten Entsorger der Schweiz.
Diese Entsorgungsleistungen wären indes gefährdet, müsste Holcim den Betrieb wegen Rationierungen oder im schlimmsten Fall wegen vorübergehender Stromabschaltungen herunterfahren. Holcim könnte dann nicht mehr gleich viel Klärschlamm verbrennen, sagt Remo Bernasconi, der bei dem Unternehmen den Bereich Cement Industrial leitet. Kläranlagen würden den Schlamm zwar vorübergehend in Becken lagern, aber diese Kapazitäten wären rasch ausgeschöpft.
Eine Rationierung des Stroms würde sich über das ganze Netzwerk von Holcim erstrecken, also über die drei grossen Zementwerke, die Kieswerke und die Anlagen zur Produktion von Beton. Dies erlaubt dem Unternehmen eine gewisse Flexibilität. Zudem würde man die Revision eines Zementwerks so terminieren, dass sie in einer Mangellage in Angriff genommen würde.
Und was bei Aryzta die Tiefkühllager sind, ist bei Holcim der sogenannte Drehrohrofen, mit dem Kalkstein zu Klinker gebrannt wird. Er muss durchgehend laufen (ausser er wird gerade revidiert). Es dauert nämlich 24 Stunden, um einen solchen Ofen herunter- oder hochzufahren, was extrem kostspielig ist.
Holcim produziert mit der Abwärme aus seinen Prozessen selbst Strom und gibt Wärme an Verbünde ab, denen Haushalte aus den umliegenden Gemeinden angeschlossen sind. Kann Holcim diese Energie nicht mehr liefern, ist dies für die betroffenen Haushalte also problematisch – gerade in einem kalten Winter.
Der Tiefkühlbäcker Aryzta hält Rationierungen für weniger schlimm als rollierende Abschaltungen, die als vierte und letzte Stufe des Notfallplans vorgesehen sind. Der Strom würde in ganzen Regionen rollierend für vier Stunden abgeschaltet. Anschliessend läuft er wieder, je nach Situation, vier oder acht Stunden.
Jordi bezeichnet das als Albtraumszenario. «Man kann ein Tiefkühllager nicht abschalten, ebenso wenig wie Kühlgeräte in der Migros oder im Coop.» Die Kühlkette dürfe allein schon wegen der Lebensmittelgesetze nicht unterbrochen werden. Der Aryzta-Chef fordert deshalb: «Der Bund muss um jeden Preis dafür sorgen, dass im Winter genügend Strom in der Schweiz vorhanden ist. Wir sind darauf angewiesen.»
These 3: Wenn die Mangellage länger dauert als einen Monat, wird es kritisch
Der Holcim-Manager Bernasconi zieht ebenfalls ein klares Fazit: Holcim habe zwar Vorbereitungen getroffen, um seine Kunden auch in einem schwierigen Winter bestmöglich beliefern zu können. Bei Engpässen würde es jedoch rasch kostspielig für die Bauindustrie. Beschränkt sich die Abschaltung auf wenige Male im Winterhalbjahr oder wird die Rationierung nach einer Woche wieder aufgehoben, sei das aufzuholen.
«Dauert das Ganze aber einen Monat und länger, wird es kritisch», führt der Holcim-Manager aus. Im Winter wird zwar weniger gebaut als im Sommer, aber man stockt die entsprechenden Lager auf. Leidet die Produktion mehrere Wochen, könnte es nächstes Jahr zu wenig Zement haben, um den gesamten Bedarf zu decken. Es käme zu Verzögerungen wichtiger Bau- und Infrastrukturprojekte.
These 4: Zu hoffen, dass man von Rationierungen verschont bleibt, ist eine gefährliche Wette
Der Zementhersteller Holcim wurde während der Corona-Krise in Italien als systemrelevant eingestuft, als man dort die Industrie herunterfuhr, um die die Ausbreitung der Pandemie zu stoppen.
Auch bei Swiss Steel und Andritz Hydro ist man der Auffassung, systemrelevant zu sein. «Wenn bei uns Turbinenteile liegenbleiben, weil wir den Betrieb unterbrechen müssen, lassen sie sich in den Wasserkraftwerken nicht rechtzeitig wieder installieren», gibt der Manager Cuénod zu bedenken. Darunter litte dann die Stromproduktion in der Schweiz.
Bei Swiss Steel argumentiert man, dass ohne Stahl Ersatzteile von Maschinen, Autoteile oder künstliche Hüftgelenke fehlten. Bei den Planungen geht das Unternehmen aber nicht davon aus, systemrelevant zu sein.
Eine Liste mit Betrieben, die in einer Strommangellage als systemrelevant gälten, gibt es in der Schweiz denn auch gar nicht. Der Bundesrat könne «bestimmte versorgungsrelevante Verbraucher» teilweise oder ganz von Bewirtschaftungsmassnahmen ausnehmen, erklärt der Verband der Schweizerischen Elektrizitätsunternehmen auf Anfrage. Das zu entscheiden, sei aber nur in der konkreten Krisensituation möglich. Betriebe sind also gut beraten, nicht auf eine Ausnahmeregelung zu hoffen und sich auf den Ernstfall vorzubereiten.
These 5: Wer kann, prüft das Ausweichen auf ausländische Standorte
Die Familienfirma Baumann könnte ihre Federn verstärkt auch in einem der neun Werke produzieren lassen, die es im Ausland betreibt, wenn es in der Schweiz eng wird. Fünf davon befinden sich ausserhalb Europas.
Zurzeit laufen Abklärungen, wieweit Aufträge allenfalls in nichteuropäische Werke verschoben werden könnten. Es sei jedoch nicht gegeben, dass Kunden einer temporären Verschiebung der Herstellung ihrer Produkte von Europa in die USA oder nach Asien zustimmen würden, sagt der Baumann-Manager Würsten. Er verweist darauf, dass Lieferverträge mit Kunden jeweils genau definierten, was wo mit welchen Maschinen hergestellt werde.
Die ganze Stahlbranche ist angesichts rekordhoher Energiepreise in einer prekären Lage. Swiss Steel hilft es, dass der Konzern in verschiedenen Weltregionen tätig ist, darunter in den USA und Kanada. Entsprechend könne man Kundenwünsche weiterhin erfüllen, auch wenn dies mit deutlich höherem Aufwand verbunden sei, teilt das Unternehmen mit. Regionen, in denen das Risiko der Energieknappheit wegfalle, hätten jetzt einen Kosten- und damit Wettbewerbsvorteil – zum Leidwesen von Ländern wie der Schweiz.
Matthias Benz, Christoph Eisenring, Dominik Feldges, «Neue Zürcher Zeitung»