Schluss mit Däumchendrehen – wer nicht 100 Prozent arbeitsunfähig ist, soll künftig Teilzeit arbeiten Bei Krankschreibungen wird in der Regel nur darauf geachtet, was der Patient nicht mehr kann, und nicht darauf, was er noch könnte. Das kostet die Arbeitgeber viel Geld – und soll sich nun ändern.

Bei Krankschreibungen wird in der Regel nur darauf geachtet, was der Patient nicht mehr kann, und nicht darauf, was er noch könnte. Das kostet die Arbeitgeber viel Geld – und soll sich nun ändern.

(Bild: Unsplash)

Der November ist normalerweise der Höhepunkt seines Jahres. Doch vor drei Wochen hatte Felix Schneuwly, Krankenkassenexperte des Vergleichsportals Comparis, einen schweren Unfall. Nun sitzt er ausgerechnet im Wechselmonat mit gebrochenen Rippen und inneren Verletzungen zu Hause. Er darf sein linkes Knie sechs Wochen nicht belasten.

Schneuwly will sich davon nicht aufhalten lassen. «Wenn ich sowieso nichts machen kann, dann arbeite ich lieber, als Däumchen zu drehen.» Für seinen Job muss er nicht unbedingt mobil sein. An Sitzungen, Referaten und Veranstaltungen kann er auch digital teilnehmen.

Doch er darf nicht. Im Spital wurde Schneuwly für sechs Wochen zu 100 Prozent krankgeschrieben – ohne dass ein Arzt mit ihm darüber gesprochen hätte.

Sein Beispiel zeigt: Oft wird Arbeitsunfähigkeit zu leichtfertig attestiert. Denn bei der Krankschreibung wird nur darauf geachtet, was der Patient nicht kann – und nicht darauf, was er tun könnte. Möglichkeiten wie Teilzeitarbeit im Home-Office berücksichtigt das Arztzeugnis üblicherweise nicht.

Fehlen kostet 600 Franken pro Tag

Doch das macht in Fällen wie jenem von Schneuwly einen entscheidenden Unterschied. «Wenn ich jetzt trotzdem arbeite und beispielsweise einen Unfall habe, dann habe ich ein gröberes Problem.» Dann wäre Schneuwly schlecht versichert, die Taggeldversicherung würde nicht zahlen.

Doch jeder Tag, an dem Schneuwly fehlt, ist teuer. Krankheits- oder unfallbedingte Absenzen verursachen massive Kosten: Die Faustregel lautet 600 Franken pro Tag. Schätzungen für die gesamte Schweizer Wirtschaft rechnen mit Milliarden. Denn im Schnitt fehlten Arbeitnehmende letztes Jahr 7,6 Tage. Das ist der höchste Wert seit 2010, wenn man die Pandemie ausklammert.

Firmen könnten also bei Patienten, die zumindest teilweise arbeiten können, viel Geld sparen. Doch den nötigen Austausch zwischen Mitarbeiter, Arzt und Arbeitgeber gibt es praktisch nicht. Arbeitgeber erhalten in der Regel ein Zeugnis, in dem steht, wie lange der Mitarbeiter arbeitsunfähig ist. Was der Person genau fehlt, ob sie beispielsweise mit weniger oder anderen Aufgaben wieder einsteigen könnte, erfährt der Arbeitgeber nicht.

Arbeitgeber werden aktiv

Gegen dieses Problem kämpft SVP-Nationalrätin Diana Gutjahr, die selber Chefin eines KMU ist, im eigenen Betrieb: «Manchmal kommt es mir vor, als seien wir Unternehmer die Einzigen, die an einer schnellen Integration interessiert sind.» Dabei sei es auch im Interesse der Allgemeinheit. Denn je länger jemand fehle, desto wahrscheinlicher werde es, dass er nicht mehr zurückkehre und bei der Invalidenversicherung lande.

Dort aber gelte das Ziel, den Arbeitnehmer wieder in den Arbeitsprozess zu integrieren. Das passiere mit einer langsamen Erhöhung des Pensums in offener Absprache mit dem Arbeitgeber. «Wenn ich mich engagieren will, bevor ein Mitarbeiter bei der IV landet, werde ich heute abgeblockt», sagt Gutjahr, die sich daran stört. Da müsse sich etwas ändern.

Das sehen auch andere Arbeitgeber so. Am Dienstag präsentierte der Arbeitgeberverein Compasso in Zürich einen Lösungsvorschlag. Im Kern geht es darum, dass Ärzte die Patienten nicht einfach krankschreiben, sondern ihre Arbeitsfähigkeit beurteilen und im Zeugnis festhalten sollen. Kann jemand halbtags arbeiten und nur halb so viel leisten wie üblich, beträgt die Arbeitsfähigkeit beispielsweise 25 Prozent.

Ähnliche Konzepte wurden schon in verschiedenen Kantonen erarbeitet. So etwa in Zürich. Hier haben die Arbeitgeber zusammen mit den Ärzten das sogenannte detaillierte Arztzeugnis entwickelt. Wenn der Mitarbeiter einwilligt, liefert der Arbeitgeber dem Arzt einen Arbeitsplatzbeschrieb. Der Arzt schätzt dann ein, wie gross die Arbeitsfähigkeit des Patienten im konkreten Fall ist. Die Kosten hierfür, in Zürich 100 Franken, übernimmt die Firma.

Angriff auf ärztliche Schweigepflicht

Doch viele Unternehmen kennen diese Lösung bis heute nicht. «In meiner beratenden Tätigkeit habe ich täglich Fälle, in denen ich über diese Option aufkläre», sagt Hans Strittmatter, Geschäftsleiter von Arbeitgeber Zürich (VZH). Mangelhafte Kommunikation führe oft zu Missstimmungen im Betrieb. Das detaillierte Arztzeugnis könne da helfen. «Gemeinsam planen ist für beide Seiten vertrauensbildend.»

Hier setzt auch das neue Werkzeug von Compasso an: Es soll den Austausch zwischen Arbeitnehmer, Arzt und Arbeitgeber einfacher und digitaler machen. Doch das ist Diana Gutjahr noch zu wenig. Sie fordert zusätzlich eine arbeitsplatzbezogene Entbindung von der ärztlichen Schweigepflicht: Der Arzt solle angeben müssen, ob der Mitarbeiter zum Beispiel einfachere Aufgaben übernehmen könne. «Ich kann ja nur entscheiden, was möglich ist, wenn ich weiss, was der Patient arbeitsbezogen kann.»

Für den Verband der Arbeitnehmenden Travail Suisse geht diese Forderung eindeutig zu weit. «Die Arbeitnehmer haben ihre Privatsphäre, und diese geht den Arbeitgeber nichts an», sagt der Präsident Adrian Wüthrich. Es gehe überhaupt nicht, dass Ärzte etwas über den Kopf der Arbeitnehmer hinweg sagen müssten. Ein Modell wie jenes von Compasso sei jedoch akzeptabel, da gehe es darum, Personen wieder in den Arbeitsmarkt zu integrieren.

Bis sich solche Modelle etabliert haben, müssen sich Arbeitnehmer selber bemühen, wenn sie arbeiten wollen. So tat es auch Felix Schneuwly. Als er sein Arztzeugnis bekam, intervenierte er im Spital. Statt die sechs Wochen Krankschreibung einfach zu akzeptieren, meldete er sich, als er nach wenigen Tagen im Home-Office wieder voll arbeitsfähig war, und liess sein Zeugnis anpassen. Dass das nicht automatisch passiert, ist für Schneuwly unverständlich.

Thomas Müller, «Neue Zürcher Zeitung»

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