Umstrittener Extragroschen: Warum in der Schweiz bis heute Trinkgeld gezahlt wird – obwohl es längst abgeschafft wurde Viele Schweizer wollen das Trinkgeld gemäss einer neuen Umfrage loswerden. Doch ein Blick in die Geschichte zeigt: Es hält sich hartnäckig.

Viele Schweizer wollen das Trinkgeld gemäss einer neuen Umfrage loswerden. Doch ein Blick in die Geschichte zeigt: Es hält sich hartnäckig.

Trinkgeld muss die Kellnerin nicht bekommen, viele Menschen zahlen es trotzdem. (Annick Ramp / NZZ)

Vor fünfzig Jahren sollte endlich Schluss sein mit dem Trinkgeld. 1974 wurde beschlossen: In der Schweizer Gastronomie gelten Preise inklusive einer Servicepauschale für das Personal. Die Ära des Trinkgelds wurde für beendet erklärt.

Doch wer heute, fünfzig Jahre später, ein Café oder ein Restaurant besucht, der weiss, es kam anders. Man zahlt nicht nur die in der Rechnung enthaltene Servicepauschale. Viele Menschen überlassen der Kellnerin oder dem Kellner darüber hinaus ein Trinkgeld.

Ist das pure Generosität? So einfach ist es nicht. Eine neue Umfrage der Pendlerzeitung «20 Minuten» und der Mediengruppe Tamedia zeigt: Das Trinkgeld ist nach wie vor umstritten. Eine knappe Mehrheit der über 13 000 Befragten ist gar dafür, es abzuschaffen – wenn stattdessen die Löhne steigen.

Die Geschichte des Trinkgelds

Damit denken die Befragten zumindest ansatzweise ähnlich wie die Anti-Trinkgeld-Liga, die sich um 1900 in Deutschland formierte. Die Aktivisten kämpften gegen das Trinkgeld, weil sie die prekären Bedingungen des Servicepersonals verbessern wollten. Wer andere bediente, sollte nicht länger abhängig sein von der Gunst derer, die sich bedienen liessen.

Die Anti-Trinkgeld-Liga hatte nicht unrecht. Lange Zeit war das Trinkgeld die Haupteinnahmequelle im Dienstleistungssektor. Gemäss dem Wörterbuch der Brüder Grimm kursiert der Begriff seit dem 14. Jahrhundert. Gedacht war das Trinkgeld ursprünglich als ein Zustupf für ein Getränk, bekannt war es deshalb auch als Biergeld. Bezahlt wurde es vom Adel, von den Reichen und Bessergestellten – eingefordert wurde es von Menschen, für die es überlebenswichtig war. Im 19. Jahrhundert, als die Anti-Trinkgeld-Liga Stimmung machte, erhielten beispielsweise Kellner oft keinen weiteren Lohn neben dem Trinkgeld.

Mit der Zeit verbesserten sich die Arbeitsbedingungen in der Gastronomie und allgemein im Dienstleistungssektor, und der Einfluss der Aktivisten schwand. Längst ist wie in der Schweiz auch in Deutschland die Servicepauschale im Preis enthalten. Doch das Trinkgeld gibt es nach wie vor.

Weshalb Gäste Trinkgeld geben

Weshalb das Servicepersonal noch immer ein Interesse daran hat, liegt auf der Hand. Wieso sollte man auf das Extrageld verzichten – vor allem, wenn die Löhne überschaubar sind? Warum aber nach wie vor viele Gäste die Rechnung aufrunden, ist unklar.

Ofer Azar, Wirtschaftsprofessor an der Ben-Gurion-Universität im Negev in Israel, hat eine Arbeit über die Geschichte des Trinkgelds geschrieben. Darin beschreibt er, dass eine Mischung aus egoistischen Motiven und sozialen Gründen die Menschen dazu bewege, Serviceleistungen extra zu honorieren. Zum eher egoistischen Antrieb gehört: Wer Trinkgeld gibt, will sicherstellen, dass der Service auch in der Zukunft gut ist. Manch einer, der die Rechnung aufstockt, fühlt sich laut Azar zudem überlegen. Das passt zur Geschichte des Trinkgelds, in der die gesellschaftlich Bessergestellten ihre Gunst gegenüber den armen Dienstleistenden mit dem Extragroschen ausdrückten.

Doch darüber hinaus sei es zu einer sozialen Norm geworden, Trinkgeld zu geben. Wer das nicht tut, handelt in den Augen anderer ungerecht und lässt Grosszügigkeit vermissen. Tatsächlich geben Menschen mehr Trinkgeld, wenn sie in Begleitung anderer im Restaurant essen. Denn sie wissen: Es ist sozial erwünscht, mehr zu geben.

Ein freiwilliges Geschenk

Fürsprecher des Trinkgelds waren im Laufe der Geschichte übrigens meist auch die Arbeitgeber. So ist es auch heute noch. In der Reaktion auf die Umfrage zitiert «20 Minuten» die Gastrosuisse-Sprecherin Iris Wettstein. Sie plädiert für das Trinkgeld, denn es sei «ein Geschenk des Gastes für den besonders geschätzten Service».

Letztlich ist es das heute tatsächlich: ein freiwilliges Geschenk. Denn eigentlich ist die Servicepauschale bereits seit Jahrzehnten in der Rechnung enthalten. Wer das Trinkgeld abschaffen will, kann das ganz individuell entscheiden und keines mehr geben. Wem es jedoch wichtig ist, dass das Personal mehr Geld bekommt, der kann einen Extragroschen dalassen.

Eva Mell, «Neue Zürcher Zeitung»

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