«Unglaublich. Die Stärke meines Geistes kennt keine Grenzen» – Männer feiern sich fürs Nichtstun Multitasking ist durch. Hashtag «#rawdogging» heisst der neue Trend. Er ist eine einzige grosse Verzichtserklärung.

Multitasking ist durch. Hashtag «#rawdogging» heisst der neue Trend. Er ist eine einzige grosse Verzichtserklärung.

(Bild: Sam Solomon auf Unsplash)

Es ist hart, echt hart, dieses Nichtstun. Da lümmelt man nicht einfach herum, lässt auch nicht die Seele baumeln. Oh nein. «Rawdogging» muss man erst mal können – das muss man wirklich wollen.

Damit an dieser Stelle kein Missverständnis entsteht: Ja, einst war «rawdogging» ein Slang-Begriff und meinte nur das: Sex ohne Schutz. Tempi passati. «Rawdogging» – ein Wort im Wandel. Es bedeutet heute, eine Alltagssituation komplett ohne Ablenkung zu erleben. «Durchzuziehen», würden echte «Rawdogger», meist sind es junge, sportliche Männer, dazu sagen.

«To dog something» kann auch mit «etwas verfolgen» übersetzt werden. Man geht also einer einzigen Sache nach, statt zu versuchen, vieles gleichzeitig zu erledigen. Genau genommen steht also nicht das Nichtstun im Zentrum, sondern das Etwastun – nur etwas. Mono- statt Multitasking.

Sitzen, atmen, fertig

Geschirr spülen, ohne dazu einen Podcast zu hören. Auf den Bus warten, ohne die News zu checken. Joggen ohne Musik im Ohr. «Rawdogging» könnte für Entschleunigung und Achtsamkeit stehen. Vor allem meint «Rawdogging» dieser Tage aber: stundenlange Flug-, Zug- oder Busreisen mit bewegungslosem Starren zu verbringen.

«Ich habe gerade einen Sieben-Stunden-Flug ‹gerawdogged› (meine persönliche Bestleistung). Keine Kopfhörer, kein Film, kein Wasser, nichts. Unglaublich. Die Kraft meines Geistes kennt keine Grenzen», schreibt ein junger, athletisch aussehender Mann zu einem Tiktok-Video von sich, in dem er überhaupt nichts tut. Ähnliche Clips finden sich zuhauf auch in weiteren sozialen Netzwerken.

Wer es wirklich ernst meint, geht angeblich auch nicht zur Toilette. Manche recken und strecken sich nicht einmal. Auf Flugreisen allerdings keine gute Idee – aufgrund der veränderten Luftdruckverhältnisse steigt mit der Maschine auch das Thromboserisiko. Bewegung kann helfen, kleine Blutgerinnsel aufzulösen, bevor sie Schaden anrichten. Auch Trinken wäre auf Langstreckenflügen wichtig, weil der Körper in stark klimatisierten Räumen mehr Feuchtigkeit verliert. Den «Rawdoggern» kommt das allerdings gerade recht. Denn ihnen geht es nicht um Entschleunigung oder Rückzug und schon gar nicht um das eigene geistige Wohlbefinden. Hier geht es um eine Herausforderung. Um das Beweisen von Durchhaltewillen. Selbstfürsorge wird zur Selbststählung umgedeutet.

Dopamin-Detox

Studien haben längst belegt, dass das menschliche Hirn zu echtem Multitasking nicht fähig ist. Stattdessen wechselt der Fokus in Kürzestabständen zwischen den anfallenden Aufgaben hin und her. Das führt oft nicht zu mehr Leistung, sondern zu mehr Erschöpfung – und weniger Konzentration. Ein Problem, das viele kennen, die über ein Smartphone verfügen.

Zum neuen Trend befragte Experten äussern darum unisono Zustimmung zum Nur-eine-Sache-Tun. Sie sprechen von einem «Dopamin-Detox», weil dem Gehirn die meisten Impulse entzogen werden und ihm nichts anderes bleibt, als sich zu langweilen. Oder selber für Impulse zu sorgen. Denn dadurch, dass die geistigen Verstopfungen aus Push-Nachrichten und Tiktok-Filmchen wegfallen, bleibt Raum für eigene Gedanken. Man kurbelt damit vielleicht die Kreativität an oder setzt sich mit sich selbst, seinem Leben und jenen Problemen auseinander, die man sonst lieber am Handy wegscrollt.

Davon liest man in den Posts der jungen Männer allerdings nichts. Notiert werden weder Einsichten noch Ideen. Stattdessen teilen die «Rawdogger» die Stunden, in denen sie nichts getan haben, wie Marathonläufer ihre Bestzeit. So muss man denn am Ende, während man sich die Videos von versteinerten Menschen ansieht, selber darüber nachdenken, wie kurios unsere Zeiten doch sind – in denen man das Nichtstun zur Leistung hochstilisieren muss, um es sich zuzugestehen.

Nadine A. Brügger, «Neue Zürcher Zeitung»

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